Die Detonation einer Bombe in einem Theater auf der Opernbühne, dass an das Theater in Mariupol (Ukraine) erinnert, bildet den Auftakt. Sie stellt die Schrecken des Krieges, die man sonst nur in den Fernsehnachrichten sieht, eindrucksvoll dar. Der wundervolle Kinder- und Jugendchor der Bonner Oper ist Träger zahlreicher Szenen in „Musik für die Lebenden“, der einzigen Oper des georgischen Komponisten Gija Kantscheli, die er zusammen mit dem Librettisten Robert Sturua erarbeitete und 1984 in Tiflis erstmalig aufführte. Die äußerst bildstarke Inszenierung des russischen Regisseurs Maxim Didenko, die am 15. Juni 2025 Premiere hatte, hat eine ungeheure Aktualität. Es endet mit der Rückeroberung des Theaters durch die Natur, ist also tatsächlich eine Endzeitvision.

Der Komponist nennt es „Oper in zwei Akten und einem Intermezzo LIEBE UND PFLICHT“, aber das Werk hat, anders als eine Oper oder ein Oratorium, keine eigentliche Handlung, sondern ist eine Abfolge von einzelnen Szenen, in denen Aspekte des Krieges mit den Mitteln einer Revue beleuchtet werden. Für mich ist es ein Äquivalent der „Schöpfung“ von Haydn, die Szenen aus der Genesis zitiert und reflektiert, nur handelt es sich hier um eine Vision des Endes der Menschheit durch Krieg.
Mehrere Detonationen von Bomben in einem Theater mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen sind der aufrüttelnde Start eines Bilderbogens, in dem gezeigt wird, dass Musik und Tanz auch unter solchen Bedingungen Trost und Ablenkung bieten. Kantscheli lässt nichts aus. Zwar ist die Sprache zerstört, der Gesang der reinen Kinderstimmen mit an Kirchenmusik erinnernden Chören erhebt sich aus dem Nichts. Die Operntruppe singt mit dem Opernchor als Publikum, bis alle erschossen auf dem Boden liegen, dazu gibt es auf der Theaterbühne noch getanzte Revueszenen mit süßen Bunnies und einem bösen Krokodil.
Die Dystopie endet damit, dass die Zivilisation in einer finalen Katastrophe vernichtet ist, und sich die Natur in Form von wuchernden Pflanzen im Gemäuer des zerstörten Theaters ausbreitet. Blindenführer und Kinderchor singen: „Am Anfang war der Gesang, und der Gesang war göttlich. Und Gott war, und Gott war der Gesang.“
Der russische Regisseur Maxim Didenko macht aus dem Libretto von Robert Sturua mit Videoeffekten von Oleg Mikhailov im Einheitsbühnenbild von Galya Solodovnikova, die auch die aufwändigen Kostüme entworfen hat, ein Plädoyer gegen den Krieg, der von den Herrschern von Nationalstaaten ausgeht (in der Oper „Liebe und Pflicht“ besiegt Italien den Feind Frankreich), die Soldaten mit Zwang zur Teilnahme verpflichtet und die Bevölkerung in Lebensgefahr bringt. Dass wir heute wieder Krieg in Europa haben würden, konnte Kantscheli nicht ahnen.
Gyula Kantscheli hatte bis 1982 Sinfonien geschrieben und Theatermusik für das Svhota-Rustaweli-Theater in Tiflis gemacht. In seiner Oper mit dem georgischen Titel „DA ARS MUSIKA“ (Und es werde Musik) spielen der Kinder- und Jugendchor, überhaupt Chorsätze, eine große Rolle. Die Sprache tritt dagegen zurück, die Worte sind eher laut- und klangmalerisch aus verschiedenen Sprachen – georgisch, sumerisch, französisch, im zweiten Akt auch italienisch – zusammengesetzt. Es ist eine Allegorie über die Kraft der Musik, die sich selbst nach apokalyptischen Ereignissen Bahn bricht. Die besonders rein und ungekünstelt wirkenden Kinderstimmen bringen eine besonders elementare, anrührende Klangfarbe in die Musik.
Das Beethoven Orchester unter der Leitung von Daniel Johannes Mayr zeigte auch hier wieder seine Vielseitigkeit, denn von der Persiflage einer großen Oper bis hin zu populären Klängen à la Glenn Miller und einem Streichtrio auf der Bühne sind vielfältige Stilrichtungen vertreten. Besonders hervorzuheben sind die anspruchsvollen Chorsätze für den Opernchor und vor allem für den Kinder- und Jugendchor der Oper Bonn unter der Leitung von Ekaterina Klewitz, der eine ganz eigene Klangfarbe hat. Besonders beeindruckend waren als Blindenführer Valérie Ironside mit der Reinheit eines Knabensoprans und Clélia Oemus, die das Chanson „To Be or not to Be“ als naiv-kokettes Rendezvous mit dem Tod vortrug, als Solistinnen aus dem Jugendchor.
Ralf Rachbauer war mit seinem flexiblen Tenor als der blinde alte Mann, der neue Hoffnung in die zerstörte Welt bringt, fast die ganze Zeit auf der Bühne und könnte als Erzähler oder als Lehrer der Kinder aufgefasst werden. Katerina von Bennigsen, die Primadonna der Operntruppe, Giorgos Kanaris, Heldenbariton und großer Feldherr, später dann auch Schnulzensänger, Tae Wan Yun Spinto-Tenor, Tianji Lin Charaktertenor und Ava Gesell, die zweite Sopranistin, entlarvten zusammen mit dem Chor der das Opernpublikum auf der Bühne darstellte, die Hohlheit des nationalen Pathos in ihrer Opernparodie. Die groteske Vorstellung wurde bis zum Tod aller Beteiligten durch Erschießen fortgesetzt. Nicht zu vergessen sind die zehn Tänzerinnen und Tänzer, aus denen Marion Greiner als die Frau mit Peitsche und als Rekrutierungsoffizierin herausragte, die zahlreiche Szenen pantomimisch darstellten.
Kantschelis Werk ist eine Parabel, die mit ihren Chören und ihren Kindersoli einem Mysterienspiel in acht Szenen, fünf im ersten und drei im zweiten Akt, gleicht. Es ähnelt im Aufbau am ehesten Haydns „Schöpfung“. Die Regie von Maxim Didenko macht daraus ein Lehrstück gegen den Krieg: Kinder werden getötet, Jugendliche zwangsweise rekrutiert, Menschen betrauern Gefallene, werden mit Waffen bedroht, Traumatisierte führen im Lazarett einen makabren Totentanz auf, dazwischen das Intermezzo im Stil einer italienischen Oper, in dem Frankreich und Italien ihre Nationen hochleben lassen. Die Herrschenden berufen sich auf jeweils andere Nationalstaaten als Feindbilder, hinterher sind alle im Kampf umgekommen.

Warum wurde „Musik für die Lebenden“ seit 1999 nicht mehr gespielt? Ich denke, man hat nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Reichs 1989 tatsächlich geglaubt, man habe das Thema Krieg in Europa ein für alle Male erledigt. Man wollte das Thema verdrängen, und die verstörenden Bilder aus den Medien von den Kriegen in der Ukraine und in Palästina nicht auch noch auf der Opernbühne sehen. Ich gebe zu, dass ich selbst anfangs nicht besonders motiviert war, mich auf dieses Werk einzulassen. Ich bin jedoch froh, dass ich es dennoch getan habe, denn ich habe eine absolute Glanzleistung des Bonner Kinder- und Jugendchors gesehen. Zum Glück ist „Musik für die Lebenden“ außerordentlich bildstark inszeniert und überfordert in seiner durchgehenden abwechslungsreichen Tonalität mit georgischem Einschlag keinen Besucher. Es ist ein suggestives Plädoyer gegen den Krieg, das zusätzlich noch die Macht der Musik beschwört. Aufführungsdauer ist rund zwei Stunden einschließlich einer Pause.
Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 24. Juni 2024
Musik für die Lebenden
Gija Kantscheli
Oper Bonn
16. Juni 2025
Regisseur: Maxim Didenko
Leitung: Daniel Johannes Mayr
Beethoven Orchester