Eine unfreiwillige Parodie
Die Innsbrucker Festwochen alter Musik sind seit ihrer Gründung 1976 Ausgangspunkt vieler Künstlerkarrieren und weltweit eine der wichtigsten Adressen im Bereich der Alten Musik. 2023 übernahm Eva-Maria Sens die künstlerische Direktion, gemeinsam mit Ottavio Dantone, der für fünf Jahre als Musikalischer Leiter fungiert. In dieser Zeit wird seine Accademia Bizantina, eines der renommiertesten Orchester der historischen Aufführungspraxis, als Orchester in Residence die Festwochen begleiten. Die Innsbrucker Festwochen 2025 (2026 feiern die Innsbrucker Festwochen ihr 50-jähriges Bestehen.) finden vom 25. Juli bis 31. August unter dem Motto statt: «Wer hält die Fäden in der Hand?»
55 Veranstaltungen gibt es dies Jahr. Sie kreisen allesamt um die Frage: „Wer lenkt unser aller Geschicke? Sind wir selbständig und frei entscheidende Individuen oder bloße Marionetten? Exemplarisch wurde Antonia Caldaras Oper „Ifigenia in Aulide“ unter der musikalischen Leitung von Ottavio Dantone ausgegraben. Es handelt sich um die erste szenische Aufführung des Werks seit über 300 Jahrenden.

Der heute fast vergessene Antonio Caldara war ein zu Lebzeiten hochgeschätzer Cellist und Komponist. Er wurde 1670 in Venedig geboren, sein genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt. Sein Vater Giuseppe war Geiger, von ihm erhielt er wahrscheinlich den ersten Musikunterricht, bis er Chorknabe an San Marco wurde. Dort wurde er vermutlich von Giovanni Legrenzi in Gesang und in mehreren Instrumenten ausgebildet. 1699 trat er bei Charles IV., Herzog von Mantua die Stelle als maestro di capella da chiesa e da teatro an, die Claudio Monteverdi 90 Jahre zuvor bekleidet hatte. 1707 ging er als Kammerkomponist von Kaiser Karl VI. nach Barcelona. Die Opern, die er dort komponierte, sind gleichzeitig die ersten italienischen Opern, die in Spanien aufgeführt wurden. Von 1709 bis 1716 war Caldara Kapellmeister in Rom bei Francesco Maria Marescotti Ruspoli. Als ihm 1716 eine Kapellmeisterstelle am Kaiserhof in Wien angeboten wurde, zog er nach Wien und war zunächst unter Johann Joseph Fux erster Vizekapellmeister der Wiener Hofmusikkapelle am Kaiserhof. Caldara blieb bis zu seinem Tod als hochdotierter Hofkapellmeister in Wien Er starb dort am 28. Dezember 1736. Caldara war überaus produktiv. Er hinterließ über 3400 Werke, überwiegend Vokalmusik, darunter mehr als 80 Opern. Er gehörte zu den Schlüsselgestalten am Hof des musikbegeisterten Kaisers Karls VI. Die gut arrangierte Mischung von italienischen und deutsch-österreichischen Elementen brachte der Musik des Venezianers in Wien großen Erfolg.
Antonio Caldara hat, mit seiner Erstvertonung der von Apostolo Zeno – nach dem gleichnamigen Drama von Euripides – gedichteten „Ifigenia in Aulide“ sein bereits siebentes explizit für den Kaiserhof komponiertes musiktheatralisches Werk zu Papier und auf die Bühne des von Francesco Galli Bibiena errichteten „Leopoldinischen Hoftheaters“ gebracht. Caldaras Oper „Ifigenia in Aulide“ wurde 1718 in Wien uraufgeführt. Es ist ein Opernstoff, der von mehreren Komponisten vertont wurde. Es gibt verschiedene Versionen des Mythos um den Trojanischen Krieg, in denen Iphigenie entweder geopfert wird (um die Götter gnädig zu stimmen und Agamemnon die Überfahrt nach Troja zu ermöglichen) oder von Artemis /Diana gerettet und nach Tauris gebracht wird, wo sie Priesterin wird. Um nur die wichtigsten Komponisten zu nennen: Jacob Löwe, Reinhard Keiser, Henry Desmarest und André Campra.

„In den Wiener Opern weicht die Arienvielfalt der italienischen Phase einer langen Folge von Da-capo-Strukturen. Die Anpassungsfähigkeit an den Geschmack der Auftraggeber und die vorhandenen Möglichkeiten dokumentieren auch Caldaras Kammerkantaten für Ruspoli in Rom und den Kaiser in Wien. Am Kaiserhof tritt an die Stelle der Dominanz der Streicherinstrumente die Verwendung des gesamten Spektrums der Hofkapelle mit Chalumeau, Fagott, Trompete oder Pauke, was Caldaras „Freude an satztechnischen Kontrastierungen“ zugutekam. Die «Schau-Bühne» von Giuseppe Galli da Bibiena, dem «Theatral-Ingenieur» der Majestät, sah sechs eindrucksvolle Kulissenwechsel vor. Zwischen den Akten und als Finale: Tanzschöpfungen der «Tantz-Meister» de la Motte und Phillebois zur Musik von «Instrumental-Director» Nicola Matteis. Es war eine imperiale Show. «Ifigenia in Aulide» ist der pompöse Auftakt seiner künstlerischen Karriere in Wien.“ (Christian Baier) Das war einmal.
In Innsbruck wird das Stück „Ifigenia in Aulide“ als erste Opernpremiere der Festwochen von der spanischen Kompanie PerPoc (Regie: Anna Fernández und Santi Arnal), die mit einer Kombination aus Bühnen- und Puppenspiel (Ivan Terpigorev und Berta Martí) sowie mit Bildern in barocker Anmutung gezeigt.
Die waren allerdings mehr als enttäuschend. Von pompöser „imperialer Show“ kann nicht die Rede sein. Es ist eher pover was die Illustratorin und Grafikerin Alexandra Semenova auf die Bühne brachte. Sie hat eine quasibarocke Kulissenbühne mit einem Patchwork-Dekor aus antiken Motiven in Stile naiver Malerei kreiert, mit einem Durchblick auf wechselnde Landschaften: Flüsse (samt peinlich dahingleitender quasigriechischer Schiffsmodelle in Fotografien), Architekturen und Landschaften. Das ist handwerklich so dilettantisch wie künstlerisch armselig. Verschiebbare (von Puppenspielern bewegte) Pappkulissen (Götterstatuen, Springbrunnen etc.), flatternde Vögelchen an Stäben, eine unsäglich hilflose Balletteuse, die gemeinsam mit einem männlichen Assistenten Banner und Fahnen mit wenig sagenden Porträtköpfen entrollt, verleihen der Aufführung etwas von unbegabtem, dilettantischem Schülertheater. Einige Darsteller tragen fast lebensgroße, in Ballkleidern steckende Puppen (die nichtgerade schön anzusehen sind) vor sich her wie ihr Alter ego, was wenig Sinn ergibt, denn nicht die Menschen ziehen die Strippen in dieser Oper, sondern die Götter, wie man im Verlauf der Handlung erkennt. Die aber tauchen in der Inszenierung nicht oder nur in Pappmaché auf. Die Göttin Diana, die eigentlich die Fäden des Schicksals Iphigenies zieht, darf keinen einzigen Faden in die Hand nehmen. Ihr zweidimensional gemaltes Schwarzweiß-Abbild wird stattdessen von Statisten hin- und hergeschoben.

Die Kostüme (Alexandra Semenova) schwanken zwischen Zarzuela-Anklängen, Griechenmode und Opera-seria-Verkleidung in grotesker Verunstaltung. Man glaubt, einer Opern-Parodie beizuwohnen. Griechische Helden mit Federbusch-Helmen in grotesken Farben und zu kurz geratenen und beinahe gerupft wirkenden Strickkleidchen (unfreiwillige Karikaturen), von weiteren Absurditäten der Inszenierung ganz abgesehen. Das alles wirkt wie eine unfreiwillige Karikatur von Opera seria, zumal die Personenregie hilflos und konventionell ist. Auf- und Abtritte sind austauschbar arrangiert, von Psychologie ober individueller Charakterdarstellung keine Spur. Aber man muss ehrlichkeitshalber auch sagen, dass das Libretto von Apostolo Zeno recht hölzern, pathetisch und klischeehaft ist, eine Staatsaktion mit Herrscherpreis, die kaum mehr als eine Typen-Scherenschnittregie ermöglicht – einmal vom Ende der Oper abgesehen, in dem Elisena als „eigentliche“ Ifigenia enttarnt wird. Sie zieht Selbstmord einer öffentlichen Tötung vor. Man muss sich nicht wundern, dass die Oper 300 Jahre nicht mehr aufgeführt wurde. Insofern ein mutiges, wo nicht tollkühnes Unternehmen, das vergessene Werk wiederzuentdecken.
Doch es ist nicht nur szenisch gründlich missglückt, sondern auch musikalisch enttäuschend geraten. Ottavio Dantone hat in seiner zweiteiligen Fassung (kritische Edition, eingerichtet von Bernardo Ticci) das Werk zurechtgestutzt und eingerichtet für sein Festival. Die musikalische Fassung und die Orchesterbesetzung, reduziert auf zwei Dutzend Musiker und ohne außergewöhnliche Instrumente, ist fragwürdig. Das Enttäuschendste: Die musikalische Substanz des Werks ist dürftig und reicht über klischeehafte musikalische Stereotypen kaum hinaus, von wenigen Nummern (Rachearien, Ouvertüren, Prolog) abgesehen, in denen der effektvolle Einsatz von Pauken und Trompeten Eindruck macht. Manche Oper von Caldaras Zeitgenossen ist reizvoller. Von außergewöhnlichem Instrumentarium keine Spur. Sicher: Es gibt einige satztechnische Raffinessen und motivische Arbeit, aber der Eindruck der Monotonie ist vorherrschend.

Von römischer Rhetorik eines Arcangelo Corelli, Strukturen und Kontrapunktik der von Johann Joseph Fux geprägten Wiener Schule und der Chromatik und harmonischen Phantasie der Musik des Dresdner Hofs, mit dem Caldara von Beginn seiner Wiener Jahre bis zu seinem Tod 1736 in engem Kontakt stand, auch dem Einsatz der für Wien üblichen konzertierenden Instrumenten ist wenig zu hören. Zudem ist der Zugriff der nicht mehr als mittelprächtig aufspielenden Accademia Bizantina zwar bemüht um Vitalität, aber gerade in den Passagen mit kleinerer Instrumentenbesetzung dröge und einfallslos. Ottavio Dantones Dirigat ist – mit Verlaub gesagt – temperament- und kraftlos, ja langatmig. Man langweilt sich über mehr als drei Stunden! Schade.
Immerhin verfügte man über erstklassige, ja hochkarätige Sänger, allesamt Meister des barocken Ziergesangs. Der weltweit gefragte Countertenor Carlo Vistoli gibt als Achille sein Festwochen-Debüt. Er wartet mit virtuosen Koloraturen und ungewöhnlich großem Stimmumfang auf. Ihm zur Seite übernimmt Sopranistin Marie Lys (zuletzt in Innsbruck in Paërs „Leonora“ und Telemanns „Pastorelle en musique“ zu hören) die Titelpartie. Nach seinem Sieg beim Cesti-Wettbewerb im Jahr 2022 ist der gefeierte Tenor Laurence Kilsby nun als Ulisse aufgetreten. Faszinierend sind auch Filippo Mineccia als Teucro und Neima Fischer als Elisena. Ebenfalls erfreulich ist die Wiederbegegnung mit dem Cesti-Preisträger, dem eindrucksvollen Bariton Giacomo Nanni als Arcade sowie dem Tenor Martin Vanberg als Agamennone, aber auch Shakèd Bar als Clitennestra überzeugt. Alles in allem eine beachtlicher Sängerequipe. Dennoch, alles in allem erweist diese Produktion den Festwochen Alter Musik leider wohl keine Ehre.
Dieter David Scholz, 11. August 2025
Ifigenia in Aulide
Oper in 3 Akten von Antonio Caldara
Libretto: Apostolo Zeno
Kritische Edition von Bernardo Ticci, eingerichtet von Ottavio Dantone
Festwochen der Alten Musik Innsbruck
Besuchte Premiere am 8. August 2025
Inszenierung: Anna Fernández und Santi Arnal
Musikalische Leitung: Ottavio Dantone
Accademia Bizantina
Weitere Vorstellungen: So 10. August, Di 12. August 2025