Müsste die Oper nicht Isolde heißen?
Denn Isolde ist, wenn Camilla Nylund sie singt und spielt (und spielt!), zweifellos über weite Strecken die Hauptfigur der Handlung in drei Aufzügen. Natürlich: Wagner hat sein Werk achsensymmetrisch angelegt, sich auch, wie bei den nach der Barform konstruierten Meistersingern und beim Parsifal, über dessen Architektur Heiko Jacobs ein erhellendes Buch schrieb, als musikdramatischer Baumeister erwiesen. Gehört der erste Akt im Wesentlichen Isolde, so der letzte, bezogen auf die Größe und Länge der Partie, dem Tristan, während im zweiten Akt beide Figuren, wiederum symmetrisch aufeinander bezogen, jeweils den ersten und den letzten Teil besitzen und der Mittelteil das Paar vereinigt. Und doch…

Das Paar? Hier darf man schon zweifeln. Wagner ging es nicht darum, eine „normale“ Liebesgeschichte zu komponieren, in der, wie in Romeo and Juliet, die beiden Figuren sexuell und sinnlich bewusst aufeinander fixiert sind und nur die sogenannte Gesellschaft das glückliche Zusammenkommen und ein dummer Zufall, gekoppelt mit einer juvenilen Kurzschlusshandlung, verhindern. Tristan und Isolde bietet eine ganz andere, dramatisch (nicht musikalisch) aus dem Geist Schopenhauers gewirkte storia, die vom ersten bis zum letzten Takt sehnsüchtige Verzweiflung, um nicht zu sagen: verzweifelnde Sehnsucht ist und schon früh die „Krankheit zum Tode“ (Kierkegaard) beider Protagonisten, vor allem aber Tristans offenbart, dessen psychische Versehrtheit schon lange vor der Begegnung mit der auserwählten Suizidpartnerin beginnt. Genau hier setzt Thorleifur Örn Arnarssons psychologisch überaus feine, ganz aus dem Text und der Musik herausgearbeiteten Inszenierung ein, die 2024 ihre obligatorisch bebuhte Premiere und nun ihre glanzvolle und bejubelte Wiederaufnahme erlebte. Und weil Tristan bei Arnarsson von Beginn an als ein Depressiver auftritt, weil Text (man muss ihn nur lesen) und Musik (man muss sie nur zusammen mit dem Text hören) nichts anderes sagen, steht Isolde über weite Strecken im Mittelpunkt des Abends. Denn während Tristan sich ihr meist entzieht, ist Isolde, wenn sie da ist, wirklich da. Man muss nicht einmal in die Sopranistin und ihre Stimme verliebt sein, um zu bemerken, dass sie „richtig“ da ist, während sich Tristan fortwährend fortwünscht. Wer immer im Zusammenhang mit der Inszenierung von „Statik“ sprach, hat übrigens nicht hingeschaut und nicht einmal, neben den vielen kleinen und großen Gängen der Figuren, bemerkt, wie extrem erregt, bewegt und zornig Isolde noch im zweiten Aufzug agiert, wenn Tristan nur um sich herum kreiselt, während sie, da hat sie völlig Recht, darauf beharrt, dass es doch in der gemeinsam erlebten Geschichte um Tristan und Isolde geht. Sie ist gleichermaßen hingebungsvoll und sensibel: zum Beispiel im stummen Abschied von Brangäne und dem Erkennen ihrer komplizierten Wahrheit; das sind so emotionale Höhepunkte des Abends. Isolde ist körperlich, gestisch, mimisch, nicht zuletzt stimmlich, mit einem Wort, die wirkliche Heldin dieser Aufführung, wenn man denn nicht schon vorher wusste, dass Tristan kein strahlender Held, sondern ein in jedem Sinne trauriger, todessüchtiger Held ist. Isolde aber strahlt selbst dann, wenn sie sich schon bald mit Tristan auf jenen Weg begibt, der auch sie in das totale Unbewusstsein, die Nacht, das Verlöschen und also den Tod führen wird.

Nun täte man Andreas Schager – abgesehen davon, dass beider Stimmen prachtvoll harmonieren – gewaltig Unrecht, würde man ihn in der zweiten Reihe platzieren. Natürlich ist der von Wagner bewusst erfundene Titel des Stücks zu Recht erfunden worden. Schager ist denn auch präsent bis zum letzten tristanschen Atemzug; der Sterbemonolog des lebensmüden, an seiner wie auch immer entstandenen seelischen Wunde – sein Selbsthass ist ja schier irrational – kommt grandios, weil differenziert. Es scheint, als habe dem Sänger im Festspielsommer 2025 irgendjemand gesagt, dass man auch mit leisen und leiseren Tönen enorme Wirkungen entfalten kann, und so gerät sein Tristan als spannendes Bild eines psychisch Versehrten, der seine Kraftausbrüche vor allem deshalb einbringt, um zu zeigen, wie explosiv es in ihm aussieht. Riesenbeifall also auch für Schager, den Interpreten einer Titelpartie, die sich, im Gegensatz zum weiblichen Pendant, durch eine fast paradox erscheinende Kraft der Selbst- und Fremdverleugnung und Selbstvernichtung auszeichnet. Der Regisseur hat bei der Überarbeitung der Inszenierung nun nicht allein den impressionistisch beeindruckenden, doch allzu feuchten Bodennebel des ersten Aufzugs gestrichen. Er hat auch den Auftritt Tristans im 2. Aufzug gut modifiziert. Holde Nähe, öde Weite… Tristan vermeidet nun aktiver den Kontakt zu Isolde, bewegt sich nicht mehr so viel im Dunkel und darf von einer optisch wesentlich besseren Position aus seine Position klarmachen: der Standpunkt eines Mannes, der in Isolde eine Suizidpartnerin gefunden hat, was intime Momente nicht ausschließt. Sie küssen sich noch immer sehr zärtlich beim ersten Brangäneruf – und noch immer ohrfeigt sie ihn, den monoman um seine Erinnerungen kreisenden „eitlen Tagesknecht“. Merke: Man ohrfeigt bei Wagner nur, was man liebt. Nur ist Tristans und Isoldes Liebe eben nicht die des bürgerlichen Mittelstands – nichts gegen den bürgerlichen Mittelstand! –, sondern ein nachtschwarzes Extrem aus dem Geist der deutschen Romantik und Existentialphilosophie.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Glücklicherweise klingt die Musik nicht existentialphilosophisch, sondern, darin ganz antischopenhauerisch, bei aller thematischen und harmonischen Konstruktionsgenauigkeit schier überbordend. Semyon Bychkov leitet das Orchester der Bayreuther Festspiele zu aller Zufriedenheit: mal sensitiv verhalten (wie im Vorspiel), mal dynamisch bewusst aufdrehend (wie bei den Sterbeextasen des Schlussakts), immer instrumental verständlich, was in manch kontrapunktischem Geflecht nicht immer leicht zu bewerkstelligen ist, immer in einer überlegten dramaturgischen Zusammenschau auf das Ganze eines Takts oder Akts. Gefeiert werden an diesem Abend auch der – pardon – markig wie sein Unglück traurig aussingende Marke Günther Groissböcks (Gottfried von Straßburg nannte den König einen „traurigen Mann“) und der präpotente wie gegenüber Brangäne brutal auftretende Kurwenal des Jordan Shanahan, der heuer nach seinem Spottlied der Brangäne einen harten Kuss aufzwingt. Shanahan hat, zumal im ersten Akt, größere Abstimmungsprobleme mit dem Orchestergraben, was seine Gesamtleistung nicht schmälert. Vorzüglich auch der Melot des Alexander Grassauer, der Steuermann des Lawson Anderson und der Hirt des Daniel Jenz. Ekaterina Gubanova ist die neue Brangäne; sie benötigt, das war schon bei ihrer Kundry so, ein paar Takte, bevor sie im zweiten Akt stimmlich so auf der Höhe ist, dass das Fragile ihrer Stimmführung und -farbe langsam verschwindet; dass dann der zweite Brangäneruf sehr leise ertönt, ist natürlich schade.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Nicht leise, sondern deutlich, ist die Isolde der Camilla Nylund. Sie macht sich, ohne je forcieren zu müssen, mit dem Glanz und der Ausdrucksfähigkeit ihres Soprans an die Partie, die – der das Werk deutenden Grundidee und der künstlerischen Souveränität der Sänger/Darstellerin wegen – dem Stück von Rechts wegen zumindest den Titel Isolde und Tristan geben könnte. Isolde klingt noch schöner, denn nicht allein die „Liebesverklärung“, wie Wagner den Schluss nannte, gelingt bezwingend – und bewegend. Apropos: An diesem Abend ist alles da: innere und äußere Bewegung.
Man muss nur genau hinschauen – und hinhören.
PS: Leider ist wieder ein Aprés betr. der Bayreuther Zuschauerunsitten nötig: Wenn man alles sammeln würde, was an diesem Abend laut, nein sehr laut kollernd auf den Boden fiel (an das Handygebimmel an den leisen Stellen des Vorspiels hat man sich ja fast schon gewöhnt), könnte man eine hübsche Auktion veranstalten. Nur sollte man das Zeug – bitte!! – nicht im Saal zu Boden poltern lassen. Es kann doch nicht so schwer sein, ein Programmheft oder eine Handtasche festzuhalten!
Frank Piontek, 14. August 2025
Tristan und Isolde
Richard Wagner
Bayreuther Festspiele
Aufführung am 13. August 2025
Wiederaufnahmepremiere am 3. August 2025
Inszenierung: Thorleifur Örn Arnarsson
Musikalische Leitung: Semyon Bychkov
Festspielorchester Bayreuth