DVD: „Lohengrin“, Richard Wagner / Christian Thielemann, Wiener Staatsoper

Live von der Wiener Staatsoper kommt ein 2024 entstandener Mitschnitt von Wagners Lohengrin, der von dem Label C major vor kurzem auf DVD herausgebracht wurde. Diese Neuproduktion war nach ihrer Premiere äußerst umstritten. Der eingefleischte Traditionalist würde sagen, dass das Inszenierungsteam um Jossi Wieler und Sergio Morabito (Regie) und Anna Viehbrock (Bühnenbild und Kostüme) Wagners romantische Oper gänzlich gegen den Strich gebürstet hat. Der modernen Auffassungen gegenüber aufgeschlossene Opernliebhaber  – ich bin ein solcher – wird dagegen begeistert sein von dieser sensationellen und äußerst sehenswerten Produktion. Was Wieler, Morabito und Viehbrock hier auf die Bühne bringen, ist spannungsgeladenes Musiktheater, das von einem überzeugenden Konzept und einer stringenten Personenregie geprägt ist. Langweilig wird es wirklich nie!

Das Regieteam hat das Geschehen gekonnt in die Zeit des Ersten Weltkrieges verlegt. Ein deutliches Zeichen hierfür ist, dass die brabantischen Soldaten Stahlhelme tragen. Auch im Übrigen dominieren hier Kleider aus dieser Zeit. Jeglichem altbackenen romantischen Kitsch erteilen die Regisseure und die Bühnenbildnerin eine klare Absage und siedeln das Ganze in einer an einem Kanal gelegenen, grau und kalt wirkenden Wehranlage an. Von einem schönen Umfeld kann hier wahrlich keine Rede sein. Die hässlichen Farbtöne dominieren auf der ganzen Linie. In diesem Ambiente interessiert Wieler und Morabito in erster Linie der Brudermord. Bei ihnen hat Elsa tatsächlich Gottfried ermordet. Noch während des Vorspiels sieht man Elsa, die gerade die böse Tat hinter sich gebracht hat. Die zeitgenössischen Kleider, die sie dabei trug, vertauscht sie umgehend mit einem eleganten, blau-weißen Kleid. Schnell zieht sie noch ihre grüne Mütze aus dem Kanal, die Gottfried ihr wohl vom Kopf gerissen hat. Pech für sie ist, dass Ortrud den Mord beobachtet hat. Im Folgenden flüchtet sich die Mörderin Elsa in eine märchenhafte Traumwelt, in der die einzige Märchenfigur Lohengrin mit langen Locken, Kettenhemd und einer unter seinen zerrissenen Hosen zum Vorschein kommenden Rüstung keinen Helden, sondern eine ausgemachte Karikatur darstellt. Innerhalb der anderen Handlungsträger stellt er einen Fremdkörper dar. Lohengrin und Elsa sind in Wielers und Morabitos Deutung klar ersichtlich kein hohes Paar mehr. Diesen Status versagen ihnen die beiden genialen Regisseure. Elsas Traumerzählung im ersten Aufzug ist nur eine große Show, die sie abzieht. Am Ende des dritten Aufzuges zieht Elsa die Leiche Gottfrieds aus dem Wasser. Der Bruder wird umgehend  wieder lebendig. Nun stellt sich heraus, dass dieser ein kindliches Alter Ego Lohengrins ist, das zu den letzten Worten des Schwanenritters die Lippen mit bewegt. Die des versuchten Mordes überführte Elsa ersticht er mit dem Schwert. Dieser Ansatzpunkt von Wieler und Morabito mit Elsa als Mörderin ist zwar nicht mehr neu – das hat vor etlichen Jahren Tilman Knabe in Mannheim genauso gemacht – aber ungemein stimmig und wirkungsvoll.

Das ursprünglich niedere Paar Ortrud und Telramund wertet das Regieteam gekonnt zu einem neuen hohen Paar auf. Auch damit treten sie in die Fußstapfen von Tilman Knabe. Hier stimmt alles, was Ortrud ihrem Gatten von Elsas Mord an Gottfried erzählt. Sie hat überhaupt keine bösen Absichten, sondern ist ganz und gar darauf bedacht, das Verbrechen aufzuklären. Sie und Telramund mutieren zu Detektiven, die alles daran setzen, die Täterin zu entlarven. Im ersten Aufzug kommt es zu keinem Gotteskampf zwischen Lohengrin und Telramund, da letzterer kurz vor Beginn des Duells einen Herzanfall erleidet und zu Boden stürzt. Am Ende der Brautgemach-Szene geht die Tötung Telramunds durch Lohengrin von Elsa aus. Der brabantische Graf hat bei Wieler und Morabito überhaupt nicht die Absicht, Lohengrin zu ermorden. Nachdem Elsa die verbotene Frage gestellt hat, betritt er triumphierend die Bühne und bleibt, die Szene beobachtend, einfach stehen. Ihm ist klar, dass er und Ortrud gesiegt haben. Nun ergreift Elsa die Initiative und redet Lohengrin ein,  dass Telramund in Mordabsicht bei ihnen eingedrungen sei, worauf der Schwanenritter den Grafen niederstreckt. Diese radikalen Umdeutungen seitens der Regie sind äußerst interessant und machen diese Inszenierung zu etwas ganz Besonderem.

Ganz phantastisch ist Christian Thielemann am Pult. Zusammen mit dem blendend disponierten Orchester der Wiener Staatsoper läuft er zu ganz großer Form auf und versetzt den begeisterten Zuhörer in einen regelrechten Klangrausch. Thielemann dürfte z. Z. der sicher beste Dirigent des Lohengrin sein. Was er aus den Musikern herausholt, ist schon enorm. So elegant dahin fließend, detailliert und nuanciert hat man Wagners romantische Oper selten erlebt. Die Tempi sind ausgewogen, weder zu schnell noch zu langsam, und es werden viele Einzelheiten hörbar. Mit Spannung wird dabei seitens des Dirigenten nicht gegeizt. Auch auf lange Bögen versteht er sich bestens. Dabei klingt unter Thielemanns imposanter Leitung vieles anders als man es von sonstigen Dirigenten her gewohnt ist. Das ist eine ganz große Leistung!

Auf hohem Niveau bewegen sich auch die gesanglichen Leistungen. David Butt Philip singt mit kraftvollem, virilem Tenor einen eleganten Lohengrin, den er auch ansprechend spielt. Malin Byström stürzt sich mit viel Elan in die Rolle der Elsa, die sie bereits darstellerisch voll und ganz ausschöpft. Gesanglich vermag sie mit ihrem dunkel timbrierten, trefflich sitzenden Sopran ebenfalls gut zu überzeugen. Übertroffen wird sie indes von Anja Kampe, die in jeder Beziehung in der Partie der Ortrud voll aufgeht. Ihr scheint das ungewöhnliche Konzept der Regie sichtbar zu liegen. Schauspielerisch schöpft sie aus dem Vollen. Und gesanglich gebührt ihr die Krone der hier festgehaltenen Aufführung. Sie verfügt über einen tadellos fokussierten, strahlkräftigen und ausdrucksstarken dramatischen Sopran, mit dem sie jede Facette der Radbod-Tochter trefflich auslotet. Lediglich die sicheren, imposanten Spitzentöne hätte sie ein wenig besser in die Gesangslinie einbetten können. Neben ihr ist Martin Gantner ein intensiver, tenoral klingender und markant deklamierender Telramund. Mit der hohen Tessitura des Königs Heinrich hat der brillante, über eine wunderbare italienische Gesangstechnik verfügende Georg Zeppenfeld nicht die geringsten Probleme. Ein solider Heerrufer ist Attila Mokus. Ordentlich hören sich die vier brabantischen Edlen von Juraj Kuchar, Daniel Lökös, Johannes Gisser und Jans Musger an. Eine erstklassige Leistung ist dem Chor der Wiener Staatsoper zu bescheinigen.

Fazit: Eine grandiose DVD, deren Anschaffung sehr zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 7. September 2025


DVD: Lohengrin
Richard Wagner
Wiener Staatsoper

Inszenierung: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Musikalische Leitung: Christian Thielemann

C major
Best. Nr.: 769408
2 DVDs