Leipzig: „Saisoneröffnungskonzert des Gewandhausorchesters“

Auch in diesem Jahr wird die neue Konzertsaison mit dem Demokratie-Wochenende eröffnet. Das Motto „Den richtigen Ton treffen“ ist in diesem Jahr das Thema von Konzerten und öffentlichen Diskussionsforen, ist doch der richtige Ton nicht nur in der Musik, sondern auch im gesellschaftlichen Miteinander und Diskurs oft schwer zu finden. Abschottung, Hass und Hetze gegen Andersdenkende, Andersfarbige, Andersgläubige, zum Teil anonym über digitale Plattformen verbreitet, werden in der Gegenwart zunehmend zu einer Frage des Fortbestands einer demokratischen Gesellschaft. Die Konzerte, die Gespräche sollen anregen, Wege für ein menschliches, respektvolles Miteinander zu finden.

Arvo Pärt (geb. 1935 im estnischen Paide): Cantus in Memory of Benjamin Britten

Arvo Pärt, im Jahr seines neunzigsten Geburtstags Gewandhauskomponist, gilt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten und einer der meistgespielten Komponisten der zeitgenössischen Musik. Während die frühen Werke noch stark von Prokofjew, Schostakowitsch und Bartók beeinflusst sind, beginnt Pärt bald, mit seriellen Techniken zu experimentieren. Er vereint neoklassizistische Muster mit melodisch geführter Zwölftontechnik, Clusterbildungen, Aleatorik und polyphoner Stimmführung. Nekrolog (1960), die ersten beiden Sinfonien (1964 und 1966), die Collage über B-A-C-H und Credo (1968) erregen sowohl internationale Aufmerksamkeit als auch den Unmut der sowjetischen Kulturbehörden wegen der nicht systemkonformen Kompositionsweise und ihres religiösen Inhalts. Pärt tritt 1972 der russisch-orthodoxen Kirche bei.

© Eric Kemnitz

Zunehmend entsteht in ihm das Gefühl, nur noch bereits Komponiertes zu zitieren. Er sucht nach neuen Wegen, studiert die mittelalterliche Musik, Gregorianik und Renaissancemusik. Ab 1976 schreibt er in dem von ihm entwickelten und so genannten Tintinnabuli-Stil. Ein Schlüsselwerk wird Tabula rasa (1977), ein Concerto grosso für zwei Violinen, Streichorchester und präpariertes Klavier. Der neue Stil der Einfachheit zeichnet sich aus durch eine radikale Reduktion der musikalischen Mittel, durch „…eine Flucht in die freiwillige Armut“ (Arvo Pärt). Die Basis ist eine scheinbar tonale Grundhaltung, die sich aus gebrochenen Dreiklängen aufbaut – Tintinnabulum (lat.) = Glöckchen, Schellen – und eine melodische Linie, gestützt durch einen Bordounbass. So schafft Pärt eine meditative Wirkung und Spiritualität in seiner Musik – wunderbare, bisher ungehörte Klänge, eine dichte Klangwelt – die den Hörer ungewollt in ihren Bann zieht und ein breites Publikum erreicht. Dabei hat seine Musik nichts gemein mit New Age und Esotherik. Die Kompositionen sind von einer tiefen Religiosität geprägt. Zunehmende Behinderung durch die sowjetischen Behörden, Bedrängnis und Einschränkung seiner persönlichen Freiheit zwingen Pärt und seine Familie in die Emigration. 1980 geht er für viele Jahre nach Berlin. Seit 2010 lebt Arvo Pärt wieder in seiner jetzt unabhängigen, freien Heimat. Seine musikalischen Auslotungen und Grenzüberschreitungen beeinflussen auch heute Musiker aller Stilrichtungen.

Cantus in Memory of Benjamin Britten, ein Requiem auf den 1976 verstorbenen, von Pärt sehr verehrten Komponisten, ist ein frühes Beispiel für den neuen Kompositionsstil. Für Arvo Pärt sind die Werke Brittens Ausdruck einer „ungewöhnliche Reinheit“, die er selbst als Komponist immer sucht. Pärts Komposition, geschrieben im sechsviertel Takt für ein 10-stimmiges Streichorchester und eine Glocke, eröffnen drei Glockenschläge auf A im dreifachen piano. Die Folge von drei Glockenschlägen zieht sich durch das ganze Stück. Die einsetzenden Violinen beginnen eine abwärts gerichtete und sich bis zu einer Oktave erweiternde a-Moll-Skala. Jede danach einsetzende Streichergruppe spielt eine Oktave tiefer und im halben Tempo. Diese Technik kennt man als Prolationskanon bzw. Proportionskanon. Cantus beginnt sehr leise, entwickelt sich bis zum dreifachen forte und verhallt mit einem leisen Glockenschlag. Interessant ist der Effekt der Obertonentwicklung der Glocke, die dem a-Moll gelegentlich eine Dur-Färbung verleiht. Die langsam absteigende melodische Folge der Streicher erzeugt den Effekt einer archaischen, endlos fallenden Bewegung und das Gefühl von Frieden und Trauer.

© Eric Kemnitz

Maja Göpel, Honorarprofessorin an der Leuphana-Universität Lüneburg, Politökonomin und Gesellschaftswissenschaftlerin, Transformationsforscherin, Nachhaltigkeitsexpertin, setzt mit ihrer Rede einen bemerkenswerten Akzent zum Thema „Den richtigen Ton treffen“. Sie ist eine Macherin, nicht belehrend, sondern eine Mutmacherin, die versucht, Lösungswege aufzuzeigen. Sie fordert Vertrauen statt Vergeltung, gegenseitigen Respekt. Sie appelliert an uns, zu erkennen, dass die Demokratie kein Naturgesetz ist. Sie bedeutet nicht das Ende, sondern ist Grundlage unserer Freiheit und Menschlichkeit. Wir sind aufgefordert, uns aktiv einzubringen in den demokratischen Prozess, allen Kräften, die versuchen, unsere Demokratie zu vernichten, entschieden entgegenzutreten. Leider war es für das Publikum recht mühsam, dem Vortrag zu folgen. Wie wäre es mit einem Headset gewesen?

Antonin Dvořák (1841-1904): Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 53

Nach dem großen Erfolg der Slawischen Tänze op. 46 und der Klänge aus Mähren erreicht Dvořák 1879 eine Anfrage seines Verlegers Simrock: „Wollen Sie mir ein Violinkonzert schreiben? Recht originell, kantilenenreich und für gute Geiger? Bitte ein Wort!“ Sofort beginnt er mit der Arbeit. Er lernt im gleichen Jahr den berühmten Virtuosen Joseph Joachim kennen, ihm widmet er das Konzert und schickt ihm noch im Spätsommer eine erste Fassung, von der heute nur noch wenige Skizzen existieren. Joachim macht eine Vielzahl von gravierenden Veränderungsvorschlägen, die die formale Anlage als auch instrumententechnische Fragen betreffen. Dvořák akzeptiert und schickt eine neue, zweite Version an Simrock mit der Anmerkung, er habe „das ganze Concert umgearbeitet, nicht einen einzigen Takt habe ich belassen. Der wird gewiss seine Freude haben“. Joachim reagiert erst zwei Jahre später und wünscht noch einige Änderungen der Instrumentierung und Kürzungen, die der Komponist in die Endfassung einarbeitet. Joseph Joachim hat das Konzert vor der Uraufführung im Rahmen eines Vortragsabends an der Berliner Musikhochschule vorgestellt, öffentlich gespielt hat er es nie. Solist der Erstaufführung am 14. Oktober 1883 in Prag ist der junge Geiger František Ondřiček. Die Komposition erregt sofort große Aufmerksamkeit und wird schon kurz danach in Wien enthusiastisch gefeiert – bis auf den heutigen Tag.

© Eric Kemnitz

Der erste Satz Allegro ma non troppo ist eine ungewöhnliche Kombination von Sonatenhauptsatz und Rondo. Bereits im fünften Takt übernimmt die Solovioline das vom Orchester vorgetragene markante Hauptthema und führt es gelöst und gesangvoll weiter. Ein lyrisches Seitenthema kontrastiert in klassischer Weise, die Durchführung jedoch ist eine Reihe von Variationen der Themen. Einer kurzen Solokadenz folgt, dramaturgisch einmalig, ein nur dreizehntaktiger, reprisenähnlicher Übergang in den zweiten Satz Adagio ma non troppo. einer großen, kantablen Erzählung, die nur von zwei kurzen bewegten Teilen unterbrochen wird. Das Finale. Allegro giocoso, ma non troppo ist formal wieder eine Mischung von Sonatensatz und Rondo: böhmische Volksmusik, ein sich in ständigem Wechsel von Solo und Tutti temperamentvoll steigernder Furiant wird von einer melancholischen Dumka unterbrochen. Dann kehrt der wilde Furiant zurück, und das Konzert endet mit einer rasanten, glänzenden Coda.

Die Solistin Isabelle Faust, kurzfristig eingesprungen für Hillary Hahn, begeistert das Publikum mit ihrem lebendigen Spiel: konzentriert, aber lächelnd, scheinbar ohne jede Anstrengung, mit einer blitzsauberen Intonation, die Flageoletts sitzen punktgenau, mit dem Klang ihrer Strad, der „Sleeping Beauty“, einer frühen Stradivari von 1704. Sie wird aufmerksam und sensibel begleitet; herrlich ihr instrumentaler Tanz mit den ersten Geigen im Furiant. Musiker sagen, wenn sie mit Isabelle Faust spielen, spielten sie selbst besser. Die zu Recht eingeforderte Zugabe einer Fantasie in h-Moll von Georg Philipp Telemann, eigentlich für Flöte, von ihr transkribiert, zeigt noch einmal die große Kunst der Isabelle Faust: eine wunderbare, innige Tongebung, ein sehr differenziert eingesetztes Vibrato, verbunden mit einer perfekten Technik. Brava! Bravissima!

Jean Sibelius (1865-1957): Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43

Sibelius, im seinerzeit von Schweden und Russland besetzten Finnland geboren, im gleichen Jahrzehnt geboren wie Puccini, Mahler, Debussy, Strauss, Rachmaninow und Schönberg und damit eigentlich ein Vertreter der Spätromantik, bleibt zeitlebens eine Ausnahmeerscheinung. Anfänglich noch beeinflusst von Brahms und Tschaikowski, findet er bald eine absolut eigenständige Sprache, einen eigenen Kompositionsstil am Übergang zur Moderne. Er versucht, die klassische sinfonische Form zu erweitern und die üblichen tonalen Strukturen aufzubrechen. Er wird besonders in England und den USA zum meistaufgeführten, zeitgenössischen Komponisten. Herbert von Karajan, der sich nachdrücklich für das Schaffen von Sibelius einsetzt, äußert in einem Gespräch mit dem Kritiker Richard Osborne sehr treffend, was für ihn die Musik von Jean Sibelius so anziehend macht: „…ich glaube, es liegt an diesem Komponisten, der mit keinem anderen zu vergleichen ist. Er ist wie ein Findling auf dem Felde. Sie sind da, sie sind kolossal, aus einer anderen Zeit und niemand weiß wie sie dort hingekommen sind. Daher sollte man auch nicht nach dem Warum fragen. Das ist Sibelius für mich“. Das Violinkonzert, seine sieben Sinfonien – eine begonnene Achte hat er selbst vernichtet – Der Schwan von Tuonela, die Karelia-Suite, Finlandia op. 26 von 1899, die heimliche Nationalhymne eines neuen, unabhängigen Finnlands und Valse triste sind heute fester Bestandteil des internationalen Konzertrepertoires. Ein von ihm dirigiertes Radio-Konzert anlässlich der Weltausstellung 1939 in New York bestätigt noch einmal seine weltweite Anerkennung. Für Sibelius bedeutet es aber ein selbst gewähltes Ende seiner Komponistenkarriere, er zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. Als Nationalkomponist geachtet und vielfach geehrt, u.a.  Ehrenmitgliedschaften der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (seit 1923) und mehrerer Kunstakademien. Ein Asteroid, ein Krater auf dem Merkur und ein Gletscher in der Antarktis tragen seinen Namen. Jean Sibelius stirbt am 20. September 1957 an einer Gehirnblutung.

Bis heute beeinflusst er das Schaffen der jüngeren Komponistengenerationen in seiner Heimat. Im Gegensatz zu den englischsprachigen Ländern bleiben die Sinfonien in Deutschland lange Zeit so gut wie unbekannt, erst in den sechziger Jahren kommt die Wende. Mit der Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43 steht die meistgespielte und populärste seiner Sinfonien auf dem heutigen Programm.

© Eric Kemnitz

Dank eines großzügigen Mäzens ist der Familie 1901 ein viermonatiger Aufenthalt Italien-Aufenthalt möglich. Die traumhafte Umgebung seiner Wohnung in den Bergen von Rapallo inspiriert Sibelius schon nach wenigen Tagen. Aus der Beschäftigung mit Dantes Göttlicher Komödie und mit der Geschichte des Don Juan entsteht schließlich die Idee einer Sinfonie in klassischen vier Sätzen. Das Werk beginnt mit einem aufsteigenden Drei-Noten-Motiv, einem aufgefächerten Dreiklang, der als eine Art Grundgerüst die komplette Sinfonie bestimmt. Die Komposition ist stringent auf das Finale ausgerichtet. Dem bedächtigen 1. Satz Allegretto folgt der etwas rätselhafte 2. Satz Tempo andante, ma rubato, Endlose Pizzikati der tiefen Streicher und eine dunkle, schwermütige, melodische Entwicklung lassen den Bezug auf Don Juan, den Steinernen Gast und die bevorstehende Höllenfahrt ahnen. Ein ausgedehnter kantabler Bogen beschließt den Satz. Das Vivacissimo, ein temperamentvolles, tänzerisches Scherzo mit einem ruhigen, von der Oboe bestimmten Trio, führt ohne Reprise des ersten Teils direkt in den mitreißenden, überwältigenden Schlusssatz Allegro moderato. Mit einer hymnisch strahlenden Coda endet die Sinfonie. Schon am 8. März1902 findet die vom Komponisten dirigierte Uraufführung in Helsinki statt. Die endgültige, von Sibelius noch einmal revidierte Fassung wird am 10. November 1903 in Stockholm erstaufgeführt.

Andris Nelsons und das Gewandhausorchester sorgen für eine grandiose, überwältigende Aufführung des Werks. Die großen Linien und harmonischen Spannungsbögen werden intensiv und in großer Ruhe ausmusiziert. Jedes Detail kommt zum Vorschein. Das Orchester zeigt sich in Hochform, langanhaltender Berifall.

Bernd Runge, 5. September 2025


Saisoneröffnungskonzert des Gewandhausorchesters
Demokratie-Konzert zur Eröffnung der 245. Saison
Gewandhaus zu Leipzig

Arvo Pärt: Cantus in Memory of Benjamin Britten
Antonin Dvořák: Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 53
Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43

5. September 2025

Solistin: Isabelle Faust, Violine
Dirigent: Andris Nelsons
Gewandhausorchester