Wenn Frankfurts Generalmusikdirektor Thomas Guggeis eine Wiederaufnahme dirigiert, dann spendiert ihm sein Intendant regelmäßig eine Spitzenbesetzung. Und so kündigte Bernd Loebe bei der diesjährigen Spielzeitpressekonferenz an, für den Saisonbeginn „den führenden Peter Grimes der Gegenwart“ engagiert zu haben: Allan Clayton. Der 44jährige britische Tenor hat Benjamin Brittens Antihelden bereits in Madrid, New York, Rom, London und Paris gegeben. Nach seinem Hausdebüt in Frankfurt kann man sagen: Loebe hat nicht zu viel versprochen. Schon optisch erscheint Clayton perfekt gecastet für die Rolle des knorrigen Fischers zu sein mit stämmiger Statur, struppigem Haar und wildem Bart. Stimmlich entdeckt man in seinem hellen Tenor mit dem etwas herben Timbre Ähnlichkeiten mit dem Uraufführungs-Grimes von Peter Pears, dem Britten die Rolle auf den Leib geschnitten hatte. Daß Clayton die Rolle vollständig verinnerlicht hat, erkennt man an seiner nuancierten Textgestaltung. Dabei verschmelzen Sprachduktus und Gesangslinie zur perfekten Einheit. Wenn sich der Sänger in der expressiven Ausdeutung passagenweise mehr dem Sprechen nähert, dann geschieht das nicht zur Kaschierung von stimmlichen Defiziten, wie man es gerade in dieser Rolle mitunter beobachten kann, sondern es ist ein bewußtes Stilmittel. Denn diese Stimme funktioniert in allen Registern technisch tadellos und zeigt in der ungefährdeten Höhe sogar einen zartbitteren, lyrischen Schmelz, mit dem Clayton auch in Mozart-Partien reüssieren könnte. Die große Arie „Now the Great Bear and Pleiades“ hat man vokal schon lange nicht mehr so souverän und in ihren vergeblichen Hoffnungen zugleich so wahrhaftig erlebt.

Beinahe überstrahlt wird diese darstellerisch und musikalisch intensive Interpretation von dem fulminanten Rollendebüt Magdalena Hinterdoblers als Ellen Orford. Auch sie ist nicht weniger als eine Idealbesetzung. Wunderbar satt ist die Mittellage, klangvoll sogar noch die ungewöhnlich tiefen Töne, die Britten der Sängerin mitunter zumutet, leuchtend, nein glühend intensiv geraten die Spitzentöne. Herrlich klangsatt verströmt sich zudem Nicholas Brownlees saftiger Heldenbariton in der Partie des Captain Balstrode, ebenfalls ein Rollendebüt. Schon dieses Spitzentrio in den tragenden Rollen macht die Wiederaufnahme zu einem Erlebnis und stellt die seinerzeitige Frankfurter Premiere in den Schatten. Dazu kommt eine Besetzung der mittleren und kleinen Rollen aus dem hauseigenen Ensemble, die keine Wünsche offenläßt, etwa mit Thomas Faulkner, der mit sonorem Baßbariton als Richter Swallow die Oper in einer langen Verhörszene eröffnet, dem Opernstudio-Mitglied Morgan-Andrew King, dessen profunder Baß in der Rolle des Hobson auf einen Einsatz in größeren Partien hoffen läßt, Jarrett Porter, der als Ned Keene zeigen darf, daß sein kernig-schlanker Bariton auch über eine attraktive Höhe verfügt, und nicht zuletzt AJ Glueckert, dessen edelherb gefärbter jugendlich-heldischer Tenor eine Luxusbesetzung für den religiösen Eiferer Bob Boles ist. Katharina Magieras dunkel gefärbter, klangstarker Mezzosopran bewährt sich in ihrem Rollendebüt als Auntie, sekundiert von den quecksilbrig-quirligen „Nichten“ Anna Nekhames und Julia Stuart, die sich mit Magdalena Hinterdobler zu einem wunderbar zart-schwebenden Quartett fügen („From the gutter, why should we trouble at their ribaldries?“).

© Barbara Aumüller
Nicht zuletzt ist Peter Grimes auch eine Choroper. Das von Álvaro Coral Matute vorbereitete Kollektiv überzeugt mit einem beeindruckend homogenen, fülligen, aber wo nötig geradezu brutalen Klang. Es wird präzise intoniert, plastisch artikuliert und lebendig gespielt.
Am Pult des gut aufgelegten Orchesters arbeitet Thomas Guggeis die herbe Schönheit von Brittens Seebildern heraus und unterscheidet sich dieses Mal gar nicht so sehr von der Herangehensweise seines Amtsvorgängers, der auch schon trennscharf und unsentimental aufspielen ließ und das Dynamikspektrum in den Extremen vom leisesten Pianissimo bis zum hart ins Publikum geschleuderten Fortissimo ausreizte.
Für die szenische Leitung der Wiederaufnahme hat man Axel Weidauer engagiert, der sich in Frankfurt schon mehrfach mit eigenen Regiearbeiten bewährt hat und hier Keith Warners souveräne Handwerkskunst, Personen präzise zu zeichnen und Massen plausibel zu führen, mit der Lebendigkeit einer Neuproduktion rekonstruiert. Warners Inszenierung ist immer nah am Text und dicht bei den Figuren. Das Bühnenbild von Ashley Martin-Davis wird von Kaimauern bestimmt, die variabel angeordnet werden können und schnelle Szenenwechsel ermöglichen. Rückprospekte zeigen zu Beginn naturalistische, später auch stilisierte Seebilder, denen es gelingt, nicht kitschig zu wirken. Es herrscht auf der Bühne von Anbeginn eine düstere und bedrückende Atmosphäre, die immer dann, wenn die Chormassen erscheinen, noch zusätzlich etwas Beengtes, Klaustrophobisches beigemischt bekommt. Die Kostüme (Jon Morrel) verorten die Szene dem Libretto gemäß im 19. Jahrhundert.

Alles läuft auf das in seiner Schlichtheit spektakulär gelungene und beinahe körperlich schmerzhafte Abschiedsbild im dritten Akt hinaus. Peter Grimes steht alleine in seinem Fischerboot in der Mitte der schwarzen, leeren Bühne und singt seinen großen Schlußmonolog. Der Gesang ist über weite Strecken unbegleitet. Er wird lediglich kommentiert durch von Ferne hinter den Kulissen hereinwehende Choreinwürfe. Hinter ihm aber leuchtet ein auf den Rückprospekt gemalter heller Tunnel, der nicht zufällig an den berühmten Lichttunnel aus Hiernonymus Boschs Bildtafel „Die Aufnahme der Seligen in den Himmel“ erinnert. „Since the solution is beyond life, beyond dissolution“ (Nun liegt die Lösung nicht mehr im Leben, nicht mehr in dieser Welt) – das hatte zuvor der Grimes zuneigte Balstrode gesungen. Und genau das haben der Regisseur und sein Bühnenbildner visualisiert: einen jenseitigen Ort.
Nur noch zwei Vorstellungen sind vorgesehen, dann wird diese visuell eindringliche und musikalisch herausragende Produktion abgesetzt. Die Oper Frankfurt lockt Besucher damit, zwei Karten zum Preis von einer erwerben zu können. Wer da nicht zugreift, versäumt ein bewegendes Musiktheatererlebnis.
Michael Demel, 12. September 2025
Peter Grimes
Oper in drei Akten und einem Prolog von Bejamin Britten
Oper Frankfurt
Aufführung am 6. September 2025
Premiere am 8. Oktober 2017
Inszenierung: Keith Warner
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Aufführungen am 14. und 18. September 2025