Wenn man an die dreizehn Jahre der Ära Homoki zurückdenkt, fallen einem auf Anhieb fünf Inszenierungen ein, die sich aufgrund ihrer exzeptionellen Konzeptionen unauslöschlich ins Operngedächtnis eingebrannt und damit quasi Kultstatus erlangt haben: Alban Bergs WOZZECK (inszeniert von Homoki selbst), Zimmermanns DIE SOLDATEN (Calixto Bieito), Schnittkes LEBEN MIT EINEM IDIOTEN (Kirill Serebrennikov), Verdis RIGOLETTO (Tatjana Gürbaca) und eben Verdis MACBETH (Barrie Kosky). Wegen der Repertoire-Tauglichkeit haben nur die beiden Verdi-Opern mehrere Wiederaufnahmen erfahren, der WOZZECK zumindest eine.

Gestern Abend nun feierte also MACBETH eine gefeierte Wiederaufnahme, erstmals unter der Leitung des GMD Gianandrea Noseda.
Auch beinahe zehn Jahre nach der Premiere fasziniert Barrie Koskys Eintauchen in die Gedankenwelt des Bösen, seine Konzentration auf das unheimliche Paar des Grauens – Macbeth und seine Lady – in dem schwarzen Tunnel der Unentrinnbarkeit vor der eigenen Besessenheit, den Klaus Grünberg für diese bezwingende Produktion auf die Bühne gestellt hatte. Bei der mittlerweile dritten Begegnung mit dieser düsteren Inszenierung gibt es nur wenige Momente, wo man sich etwas weniger Abstraktion, etwas mehr „Farbe“ und Ambiente wünscht. Ich denke da gerade an Menschen, die weder das Drama Shakespeares vertieft kennen noch sich eingehender mit Verdis Adaption beschäftigt haben. Da wirkt sich das Fehlen jeglicher Effekte (das Erscheinen des Geistes Bancos beim Fest, die Reaktionen der Gäste, die Prophezeiungen der Hexen mit der Parade der zukünftigen Könige u.v.a.m.) doch etwas hemmend für das grundsätzliche Verständnis des Werks aus. Trotzdem kann ich nach wie vor zu meinem überwältigten Eindruck der Premiere von 2016 stehen, welchen ich hier einfüge, damit der geneigten Leser nicht zwischen meinen drei Rezensionen dieser Kultaufführungen hin- und her klicken müssen.
„Tu, notte, ne avvolgi – di tenebre immota“ (Du, Nacht, umhülle uns mit dichter Finsternis) – heisst es bei Verdi/Piave/Mattei, „Come, thick night, And pall thee in the dunnest smoke of hell …“ bei Shakespeare. Ja, MACBETH ist ein Nachtstück, das Nachtstück schlechthin, sowohl bei Shakespeare als auch bei Verdi. Die Finsternis gebiert das Grauen, beherbergt die Dämonen, welche sowohl das mörderische Paar als auch uns alle heimsuchen. Den Horror auf die Bühne zu bringen, ist keine leichte Aufgabe, will man sich nicht in oberflächlichen Blutorgien suhlen. Das Inszenierungsteam dieser Neuproduktion von Verdis revolutionärem und in seiner Radikalität geradezu höllisch abgründigem Werk lässt das Stück ganz aus dem Dunkel der Nacht heraus entstehen und belässt es auch dort. Einen sich nach hinten stark verengenden, von matten Lichtern gesäumten, rabenschwarzen (auf die Raben kommen wir noch) Tunnel des Grauens hat der Bühnenbildner und Lichtgestalter Klaus Grünberg auf die Bühne bauen lassen. Genau wie für Verdi ist für den Regisseur Barrie Kosky in dieser Oper nur die Beziehung Macbeth – Lady von Interesse. Es geht ihm um die Darstellung der krankhaften Besessenheit der beiden Protagonisten, und eine solche Besessenheit kommt natürlich aus dem Kopf, dem Geist. So verbannt der Regisseur alles „Dekorative“ von der Bühne. Selbst die Hexen singen aus dem Dunkel der Seitengänge. An ihrer Stelle treten unheimliche, nackte Zwitterwesen auf, Frauen mit nackten Brüsten und Penissen, Männer mit Vaginas, welche für beklemmende Szenen sorgen, wenn sie mit ihren Händen nach Macbeth greifen, ihn umgarnen, bedrohen, aber auch wieder liebevoll in ihrem Kreis einbetten und bergen. „Come, you spirits, unsex me“ heißt es bei Shakespeare – und genau das tun diese nackten Dämonen hier auf der Bühne – genial. Der Statistenverein des Opernhauses Zürich leistet hier Grandioses. Atemberaubend und packend ist auch die Darstellung dieser kaputten Paarbeziehung. Nur einmal haben sie (abgebrochenen) Sex, in dem Moment, wo sie sich im Taumel der geplanten Ermordung von König Duncan (dem ersten Mord der Serie) kurz am Boden wälzen.

Ansonsten ist diese Beziehung längst „unsexed“. Ein wannenförmiger Lampenschirm wirft fahles Licht auf die Mitte der Bühne; in diesem Lichtkäfig spielt sich eigentlich alles Wesentliche ab. Zwei Stühle reichen als Objekte aus. Die langen Mäntel mit ihren weiten Ärmeln (die Kostüme stammen von Klaus Bruns) erinnern an Figuren aus dem japanischen Nō-Theater, das auch etwa um die Zeit entstand, in der Shakespeares Drama spielt, die langen Haare der Männer wecken Assoziationen zu HERR DER RINGE oder Mel Gibsons schottischem Schlachtenepos BRAVEHEART. Requisiten braucht Kosky wenige: Natürlich die Dolche, Luftschlangen für die Festszene (auch dies ein ganz starkes Bild), einen Ball für Bancos Knaben Fleance – und natürlich die Raben! Diese Symbolvögel (als Todesboten und Unheils Verkünder gefürchtet seit biblischen Zeiten, über E.A.Poe bis zu Hitchcock, den OMEN-Filmen und natürlich Dario Argentos Horrorfilm TERROR IN DER OPER, in welchem die Raben eine MACBETH Aufführung an der Scala terrorisieren) spielen in der Zürcher Produktion schon beinahe die Hauptrolle. Ihre schwarzen Federn fallen unheilschwanger aus der Lichtwanne, wenn mal wieder ein Mord passiert ist, ihre toten Körper bedecken den Titelhelden, sie begleiten die Lady in ihren fatalen Wahnsinn, den Macbeth in seinen Tod. Der Abteilung Theaterplastik des Opernhauses sind täuschend echt wirkende Nachbildungen gelungen und vor allem der sich bewegende und mit der Lady in der Wahnsinnsszene parlierende Rabe ist ein technisches Meisterwerk. Wenn Macbeth dann von Macduff erstochen wird, reißt dieser haufenweise schwarze Federn aus Macbeths aufgeschlitztem Rücken, er weidet ihn praktisch wie ein Stofftier aus. Übrig bleibt ein hüllenloser Macbeth, nur im Unterhemd, an dem noch wenige verlorene Federn kleben. Auch das ein eindringliches Bild, wie so viele an diesem Abend.
So gekleidet tritt dann auch der Macbeth dieser Wiederaufnahme, Roman Burdenko, vor den Zwischenvorhang und gestaltet mit packender Intensität Macbeths Schlussmonolog Mal per te aus der Urfassung der Oper von 1847, die – wie heutzutage meist üblich – in Zürich in die Pariser Fassung von 1865 integriert worden war. Roman Burdenko weiß ein durch und durch fesselndes Charakterbild dieses ambitionierten, von seiner Lady zu schändlichen Mordtaten angestachelten „Helden“ zu zeichnen. Seine Baritonstimme besticht im ersten Teil mit einem eher hellen, aber aufgerauten Timbre, zeigt seine Gewissensbisse, sein Zögern, um dann nach der Bankettszene (La vita riprendo – Vergogna, Signor) und der zweiten Befragung der Hexen (wobei er sich in dieser Inszenierung quasi selbst die Antworten gibt) in einen veritablen Blutrausch zu verfallen und die Ermordung der Familie Macduffs anzuordnen.
In der Belcanto-Arie Pietà, rispetto, onore, die in diesem düsteren Stück wie ein Fremdkörper wirkt, verströmt Burdenko viel Wärme, bewirkt fast ein wenig Mitleid mit dem unter Druck geratenen Herrscher. Stark, aufwühlend und eindringlich gerät dann der darauffolgende Todesmonolog Mal per te, den man nicht missen möchte! Ganz fantastisch harmoniert seine Stimme mit dem metallisch geschärften, Mark und Bein durchdringenden Sopran von Ewa Płonka als Lady Macbeth (sie war schon 2023 in Zürich zu erleben gewesen) in den toxischen, spannungsgeladenen Duetten des ehrgeizig-blutrünstigen Ehepaars. Frau Płonka versteht es hervorragend, einem mit ihrer klar fokussierten Stimme kalte Schauer über den Rücken zu jagen, sei es in ihrer Auftrittsarie Vieni t’affretta, dem für Paris komponierten La luce langueoder imBrindisi in der Bankettszene. Für die Wahnsinnsszene der Lady Una macchia è qui tutt’ora traut sich Frau Płonka allerdings nicht ganz, den Anweisungen des dreifachen ppp und des sotto voce von Verdi – der sich eine „raue, erstickte, stumpfe Stimme“ für die Lady gewünscht hatte – in der Partitur zu folgen, dafür brilliert sie mit perfekter, blitzsauberer Intonation auch beim dreigestrichenen Des am Ende.

Die Sänger der mittleren und kleineren Partien treten szenisch ja nicht wirklich in Erscheinung in dieser Inszenierung, sie sind am Bühnenrand oder in der Menge platziert. Einzig den Banco (mit balsamischem, wunderschön ausgewogen klingendem Bass singt Insung Sim seine dankbare Arie Come dal ciel precipita) und den Macduff nimmt man szenisch wahr. Wie schon in der Wiederaufnahme 2023 singt Omer Kobiljak diese Partie – und ich kann nur wiederholen, was ich damals geschrieben hatte: „Glücklich darf sich ein Opernhaus schätzen, das einen mit einer herrlich strahlenden Tenorstimme gesegneten Sänger wie Omer Kobiljak im Ensemble hat. Manchmal kann man es sich kaum erklären, dass er so wenig in gewichtigeren Partien eingesetzt wird und dafür Gäste eingeflogen werden. Von seinen wunderbaren Qualitäten konnte man sich gestern Abend in seiner einzigen Soloszene, der Arie O figli, figli miei beglücken lassen: Strahlende und ergreifende Phrasen von berückendem Schönklang.“
Salvador Villanueva Zuzuarregui als Malcolm, Evan Gray als Arzt, Thalia Cook-Hansen als Kammerfrau der Lady und Guram Margvelashvili als Mörder und Diener Macbeths komplettieren das Ensemble. Der Chor und der Zusatzchor der Oper Zürich erfüllen ihre zahlreichen, anspruchsvollen Aufgaben mit unter die Haut gehender Klangfülle und Ausdrucksintensität. (Einstudierung: Klaas-Jan de Groot)
Gianandrea Noseda leitet eine knallhart zugespitzte, wie in eiskalten Marmor gemeißelte, packend und drastisch-beklemmend akzentuierte Auslegung von Verdis düsterer Partitur. Das Orchester der Oper Zürich spielt bestechend klar, brilliert in solistischen Passagen (Englischhorn, Solovioline, Klarinette) und fesselt mit bedrohlichen Einwürfen des Blechs. (PS: Kam es kurz vor Macbeths Todesmonolog zu einer leichten Meinungsverschiedenheit zwischen der Konzertmeisterin und dem Dirigenten? Man hörte wohl Stimmen und Beschwichtigungen, bekam aber nicht mit, worum es ging, bevor die Vorstellung dann gleich professionell weiterging.)
Kaspar Sannemann, 11. November 2025
Macbeth
Giuseppe Verdi
Opernhaus Zürich
WA 8. November 2025
(Premiere 2016)
Regie: Barrie Kosky
Dirigat: Gianandrea Noseda
Orchester der Oper Zürich