Berlin: „Les Contes d’Hoffmann“, Jacques Offenbach

Hoffmann in New York

Opernlibrettisten und -komponisten verorten ihre Schöpfungen gern an magischen Orten, denn wo liebt und leidet es sich schöner als in Paris, wo Mimi und Violetta ihr Leben lassen, wo kann man effektvoller sterben als auf dem oder mit einem Sprung vom Castel San Angelo in Rom, und wo finden leidenschaftliche Klänge ein adäquateres Echo als in den Straßen oder vor der Stierkampfarena von Sevilla? Da ist Berlin etwas stiefmütterlich behandelt worden, besitzt aber immerhin mit Offenbachs Les Contes d‘Hoffmann eine Oper, von der sich nicht nur ein Teil der Schauplätze auf den Quadratzentimeter genau im Berliner Stadtbild verorten lassen, sondern in welcher der Titelheld auch noch ein historischer und prominenter Berliner ist, dessen Lieblingsaufenthalt, das Weinhaus Lutter & Wegner, als Institution noch heute existiert, dazu noch wenige Minuten vom Aufführungsort musikalischer Meisterwerke, dem heutigen Konzerthaus am Gendarmenmarkt, liegt. Die Ehre erweisen kann man dem Dichter auch heute noch: Sein Grab befindet sich nahe dem Halleschen Tor auf dem Friedhof der Jerusalemgemeinde.

© Bernd Uhlig

Ähnliche Gedanken kamen wohl auch der Regisseurin von Hoffmanns Erzählungen an der Staatsoper, Lydia Steier, und bewogen sie dazu, den Tenor der Premierenserie, den von der Insel Samoa stammenden Pene Pati, ins Weinhaus Lutter&Wegner zum Essen und zu einem Gespräch über die Hintergründe zur Oper einzuladen. Der Geist E. Th. A. Hoffmanns sollte beschworen werden, allerdings zechten dieser und sein ebenso trinkfester Freund Ludwig Devrient nicht dort, denn das Gebäude von Lutter&Wegner wurde im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört und nicht wieder aufgebaut. Das heutige Weinlokal befindet sich allerdings seit 1997 im einstigen Wohnhaus von E. Th. A. Hoffmann, und aus dem zugeschütteten Keller des ehemaligen Lokals konnte man nach der Wende immerhin einige Flaschen und einiges Geschirr bergen. So kann man sich durchaus auch am neuen Standort vorstellen, wie die Studenten von der nahen Universität, der späteren Humboldt-Uni, den Weinkeller bevölkerten, die Primadonna Stella die wenigen Schritte vom jetzigen Konzert- und früheren Opernhaus am Gendarmenmarkt zurücklegte, Lindorf sein dämonisches Wesen trieb.

Das alles ist allerdings von weniger als untergeordneter Bedeutung, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Regisseurin ihren Hoffmann gar nicht im Berlin des 19. Jahrhunderts, sondern im New York der Dreißigerjahre des zwanzigsten spielen lässt und so zum einen dem in puncto Opernschauplätze ohnehin benachteiligten Berlin die Gelegenheit zu glänzen entzieht, und zum anderen dem lernbegierigen Tenor die Gelegenheit, sein neu erworbenes Wissen bei der Gestaltung des Hoffmann anzuwenden.

© Bernd Uhlig

Hier ist Hoffmann längst tot, bzw. liegt im Sterben, und so ist es nur ein logischer Schritt, aus den vier Bösewichtern einen Teufel und aus der Muse einen Engel zu machen, die Hoffmanns Leiden im Purgatorium begleiten, währenddessen er die Liebesgeschichten mit vier Frauen, die nach Auffassung der Regie eigentlich nur vier Seiten einer einzigen Frau sind, aufzuarbeiten hat. Die Regie sieht in der Geschichte Hoffmanns die eines Mannes im Kampf mit seinen inneren Konflikten, weniger sehr unterschiedliche Liebesgeschichten, ja, die Frauenfiguren werden von ihr eher als „Projektionsflächen“ gesehen, Olympia und Giulietta werden sogar als „Fragmente“ erachtet, ohne „emanzipierte Stimme“. Eher noch Antonia wird zugestanden, tatsächlich Gegenstand der Gefühle des Dichters und ein beseeltes Wesen zu sein. Weit spannt sich der Interpretationsansatz zwischen „Skurrilem und Poetischem“, „Verführung und Reflexion“, stets in der Gefahr, „den Kippschalter vom Mensch zum Tier“ umzulegen. Ein müdes Lächeln wird dem abgebrühten Berliner Zuschauer die Warnung vor den übergroßen Phalli in der Inszenierung abnötigen. Eher wundert er sich über die Klerikalisierung (wenn das der Gegensatz zur Säkularisierung sein sollte), die man dem Werk angedeihen ließ. Damit stößt man in Wien, wohin die Inszenierung auch gehen soll, vielleicht eher auf Verständnis, sieht darin vielleicht auch eine Art Versicherung gegen den Fluch, der nach mehreren Theaterbränden wie auch dem in der Wiener Hofoper, dem Werk anhaften sollte, und in Warschau, wohin die Produktion auch gehen wird, erst recht.

An der Staatsoper hat man sich für die Fassung von Michel Kaye entschieden, bereichert um einige Teile derjenigen von Fritz Oeser. Wikipedia liefert eine vorzügliche Übersicht über alle bisher erarbeiteten Versionen mit nicht zuletzt allen unterschiedlichen Reihenfolgen der Liebesgeschichten, die also an der Staatsoper mit Olympia beginnen, mit Antonia fortgesetzt und mit Giulietta beendet werden.

© Bernd Uhlig

Darin liegt auch die Crux der Aufführung, denn der erste Akt ist als Weihnachtsschau in einem New Yorker Kaufhaus mit der Nebenhandlung eines fürwitzigen Knaben inszeniert (der Besetzungszettel verrät: Hoffmann als Kind), den seine Mutter verzweifelt sucht, aber nicht finden kann, da er unter dem Rock Olympias steckt, mit viel Glitzer, überdimensionalem, ja wachsendem Weihnachtsbaum, viel Schicki-Micki-Ballett und vielem anderen. Dies erschlägt quasi die beiden anderen Akte, wenn sie nur Antonias ärmliches Mädchenzimmer und eine schäbige New Yorker Absteige für Giulietta bieten. Die immer wieder wie ihr Herr und Meister Phalli präsentierenden Unterteufel ändern da nichts wesentlich. Stella ist gestrichen, tauchte in der Jahresvorschau allerdings noch auf, am Ende fährt Hoffmann, bereits fast in der Hölle gelandet, noch mit der Hilfe einer „alten Dame“ und natürlich seines Engels auf einem Lastenfahrstuhl in Richtung Himmel, obwohl er zwar nicht Schlémil, aber dafür Giulietta getötet hat. Die „alte Dame“, die hinzu erfunden wurde und von Brigitte Eisenfeld gespielt wird, in früheren Zeiten als Traviata und vielen anderen Rollen in der Staatsoper umjubelt, stellt ein Rätsel dar, das wohl die Regisseurin selbst noch nicht gelöst hat. Bewundernswert ist, was die Staatsoper mit dem Weihnachtsbild alles an Glanz und Glitter auf die Bühne gestellt hat, aber es wirkt wie Selbstzweck und nicht wie aus dem Stück erwachsen. Die Bühne stammt von Momme Hinrichs, die ebenfalls phantasievollen Kostüme hat Ursula Kudrna entworfen, aber all das dient nicht dem Stück, sondern erschlägt es. Die Choreographie von Tabatha McFadyen ist phantasiereich, schadet aber ebenfalls dem Werk.

Von unterschiedlicher Qualität ist die Sängerbesetzung. Eine höchst angenehme Entdeckung ist die Sängerin der Giulietta, Sonja Herranen, die noch dem Opernstudio der Staatsoper angehört, aber mit einer verführerischen Erscheinung und ebensolchem Mezzosopran der Partie voll und ganz gerecht wird. Unbedingt auf der Habenseite befindet sich auch Julia Kleiter als Antonia mit frischer, klarer, charaktervoller Sopranstimme. Durch ihre Verbannung in einen Geschenkkarton in der Darstellung behindert, kann Serena Sáenz immerhin vokal als Olympia punkten, auch wenn man schon virtuosere Sängerinnen in der Partie gehört hat. Die Stimme der Mutter ist bei Natalia Skrycka gut aufgehoben. Die anspruchsvolle Partie der Muse/Nicklausse stattet Ema Nikolovska akustisch nicht durchgehend gleich wohltuend aus, denn neben balsamischen Klängen ließ sie auch, so zu Beginn der Barcarole, recht herbe erklingen.

© Bernd Uhlig

Von den Herren kann sich mit Abstand Roberto Tagliavini als die vier Bösewichter und hier nur ein Teufel profilieren, bekam zu Recht für die Spiegelarie den heftigsten Szenenapplaus und war ein so souveräner Träger des Riesenphallus wie Besitzer einer höchst profunden Bassstimme. Die vier Dienerrollen, hier auch mal der Weihnachtsmann, versah Ya-Chung Huang mit einer etwas zu schüchternen Buffotenorstimme, und auch das Couplet des Frantz hat man schon sehr viel eindrucksvoller und auch komischer gehört. Die Titelpartie ist eine nichts weniger als mörderische, und Pene Pati, gehandicapt durch eine fast durchweg agonienahe optische Erscheinung, hatte viele schöne, auch strahlende Töne in der oberen Lage, war weniger präsent in der Mittellage und insgesamt nicht mit den Leistungen vergangener Hoffmänner wie Neil Shikoff, Stuart Burrows, Kenneth Riegel oder Placido Domingo vergleichbar. Denen hatte allerdings auch jeweils die Regie eine bessere Hilfestellung zuteilwerden lassen. Aus dem tief versenkten Orchestergraben klang es unter der Leitung von Bertrand de Billy straff elegant, der Chor (Einstudierung Dani Juris) ließ ebenfalls nichts zu wünschen übrig. Alles in allem ging man mit sehr gemischten Gefühlen, einzelne Sängerleistungen und einzelne Regieeinfälle als positiv im Gedächtnis behaltend, aber doch mit dem Gesamtergebnis hadernd aus dem Haus.

Ingrid Wanja, 16. November 2025


Les Contes d’Hoffmann
Jacques Offenbach

Staatsoper Berlin

Premiere am 16. November 2025

Regie: Lydia Steier
Musikalische Leitung: Bertrand de Billy
Chor und Orchester der Staatsoper Berlin