Die Aufführung von Die ersten Menschen war 2023 nicht weniger als eine Sensation: faszinierende Musik, gesungen von großartigen Sängern und gespielt von einem Orchester in Hochform, das glanzvoll die künstlerisch höchst fruchtbare Ära des scheidenden Generalmusikdirektors Sebastian Weigle abrundete. Wir hatten in unserer Premierenkritik die Hoffnung geäußert, daß der Frankfurter Erfolg andere Opernhäuser dazu ermutigen sollte, Rudi Stephans Geniestreich auf den Spielplan zu setzen. Dazu ist es bislang nicht gekommen. Dafür präsentiert die Oper Frankfurt nun ihre Spitzenproduktion erneut in der unveränderten Premierenbesetzung: Andreas Bauer Kanabas gewinnt seinem mächtigen Baßbariton als Adam (Adahm) wieder neben natürlicher Autorität auch Wärme ab. Dabei artikuliert er derart deutlich, daß man die Übertitel nicht benötigt. Wenn man aber doch einmal nach oben schaut, erkennt man einen mitunter etwas freien Umgang mit dem Text. Ambur Braid hat inzwischen den Wechsel vom Koloratursopran ins jugendlich-dramatische Fach abgeschlossen. Ihre Eva (Chawa) gelingt noch selbstverständlicher als vor zwei Jahren. Üppig und mit leidenschaftlicher Glut verströmt sich ihre Stimme, verfügt über ein breites Spektrum an Farben, um die Naturschwärmerei des Beginns, die Frustration der zurückgewiesenen Ehefrau und besonders die Gotteszweifel in ihrem Monolog zu Beginn des zweiten Aufzugs zu beglaubigen. Iain McNeil als Kain (Kajin) beeindruckt erneut mit seinem kernig-markanten Bariton und saftigen Höhen. Als Schauspieler ist er ein Naturereignis. Die Attitüde des postpubertären, sexuell unbefriedigten Kotzbrockens gelingt ihm so überzeugend wie der scharfsinnig-höhnische Vortrag von an Feuerbach geschultem Atheismus. Ian Koziara schließlich kann dieses Mal in der Partie des Abel (Chabel) stärker überzeugen als im ersten Durchgang. Sein baritonal gefärbter Tenor scheint sich seitdem gefestigt zu haben.

© Matthias Baus
Für die musikalische Leitung sollte Sebastian Weigle zurückkehren, hatte dann aber schon früh absagen müssen. So kommt der Frankfurter Studienleiter Takeshi Moriuchi wieder einmal zum Zuge, der sich in den vergangenen Jahren immer wieder als zuverlässiger Einspringer bewährt hat. Nun hatte er offenbar ausreichenden Vorlauf, um seine eigenen musikalischen Vorstellungen mit dem Orchester umzusetzen. Das ist glücklich gelungen. Mehr noch als die rauschhaften Momente überzeugen dabei die leiseren, zurückgenommeneren Passagen, denen Moriuchi eine impressionistische Farbigkeit ablauscht. Man entdeckt viele Details, die man bei der ersten Begegnung mit dem Stück vor zwei Jahren so nicht wahrgenommen zu haben meint.

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Das könnte aber auch daran liegen, daß man beim Wiedersehen die Aufmerksamkeit nicht mehr so stark dem Text und dem Bühnengeschehen widmen muß wie bei der ersten Begegnung mit der Produktion. Tobias Kratzer, neuer Intendant der Hamburger Staatsoper, liefert Inszenierungen seit Jahren in enger zeitlicher Folge, man könnte böse sagen „wie am Fließband“, und hatte mit den ersten Menschen bereits seine vierte Arbeit für Frankfurt vorgelegt. Oft sucht er nach einer Übermalung des äußeren Geschehens, versetzt es in ungewöhnliche Settings und erzählt Opernhandlungen gerne im Gewand bekannter Kinobilder. Das wirkt mitunter plakativ, zumal der Regisseur dazu neigt, seine Schlauheit und Überschlauheit demonstrativ auf der Bühne zu präsentieren. Auch hier hat sich Kratzer seinen szenischen Rahmen aus Filmvorbildern entliehen. Dabei geht sein Konzept bewundernswert schlüssig auf. Im Kern kreist das Libretto, das Otto Borngräber nach seinem gleichnamigen „erotischen Mysterium“ verfaßt hatte, um zwei Themenkomplexe: Die inzestuöse Erotik, die sich aus den limitierten Paarungsmöglichkeiten der vier ersten Menschen ergibt, und die Entdeckung der Religion. Zu Beginn präsentieren Adahm und Chawa eine veritable Beziehungskrise. Sie leidet darunter, daß er sie offenbar nicht mehr begehrt, wünscht sich weitere Kinder, während er ihre Bedürfnisse altväterlich-milde ignoriert. Der gemeinsame Sohn Kajin weiß nicht wohin mit seiner sexuellen Begierde, denn seine Suche nach einem Weib ist bislang erfolglos geblieben, und so richtet er sein Verlangen auf die eigene Mutter. Sein Bruder Chabel scheint das eigene sexuelle Begehren mit der Erfindung eines Gottes sublimieren zu wollen, dem er Altäre baut und Tieropfer bringt. Chawa nähert sich Chabel an. Kajin erschlägt daraufhin in Eifersucht seinen Bruder. Kajin wird von Chawa verflucht, der tote Chabel von seinen Eltern dem neu entdeckten Gott als Brandopfer dargebracht. Adahm und Chawa gehen mystisch verjüngt mit dem Anbruch eines neuen Tages einer besseren Zukunft entgegen.

© Matthias Baus
Der Inszenierungscoup von Tobias Kratzer ist es nun, daß er die ersten zu den letzten Menschen macht. Die Kleinfamilie hat sich nach einer Atomkatastrophe unter die unbewohnbare Erdoberfläche in einen Bunker zurückgezogen. Damit gelingt überzeugend und regelrecht kongenial eine Aktualisierung und Konkretisierung des Mythos, die zugleich plausibel die Limitierung auf vier Personen erklärt und in der die Regie die Grundkonstellation des Librettos unter neuen Vorzeichen nahezu bruchlos als intensives Kammerspiel vorführen kann. Schnell gewöhnt man sich an den hölzern-hohen Ton des dialoglastigen Librettos. Daß der erste Akt trotz seiner Ereignisarmut nicht langweilt, sondern im Gegenteil regelrecht fesselt, ist eine nicht gering zu schätzende Leistung des Regisseurs, der das enorme darstellerische Potential der Sänger auszuschöpfen versteht. Die Szene wechselt nach der Pause auf die Erdoberfläche. Dazu hat Bühnenbildner Rainer Sellmaier eine alptraumhaft verwüstete Landschaft ersonnen, die stark an das ikonische Bild der zerstörten Welt aus dem zweiten Teil der Terminator-Reihe samt verkohlter Kinderschaukel erinnert. Hier nun spitzt sich das Drama der unerfüllten sexuellen Begierden zu, das mit dem Brudermord endet.
Bei der ersten Begegnung lebt die Inszenierung von ihren originellen Details und manch unerwarteter Wendung. Man ist bis zuletzt gespannt darauf, was die Regie als Nächstes zeigen wird, wie die Geschichte sich in das ungewöhnliche Setting einpassen wird. Beim Wiedersehen erkennt man nun besser, wie genau das alles gearbeitet ist und wie gut die Bilderfindungen sich zur Musik fügen. Man kann dieser szenisch originellen und spannenden Inszenierung mit ihrer in jeder Hinsicht großartigen Besetzung nur möglichst viele Zuschauer wünschen, damit dieses Schmuckstück nicht bereits nach der ersten Wiederaufnahme abgesetzt wird.
Michael Demel, 20. November 2025
Die ersten Menschen
Rudi Stephan
Wiederaufnahme am 16. November 2025
Premiere am 2. Juli 2023
Inszenierung: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Takeshi Moriuchi
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Vorstellungen am 28. November sowie am 3. und 12. Dezember 2025.