Bei dem Label Opus Arte ist vor einiger Zeit ein in Glyndebourne entstandener Live-Mitschnitt von Samuel Barbers im Jahre 1958 an der New Yorker Metropolitan Opera aus der Taufe gehobener Oper Vanessa auf DVD erschienen. Aufgenommen wurde eine Aufführung vom 14.8.2018. Hierbei handelt es sich um eine echte Rarität! Die Handlung lehnt sich spürbar an Brittens The Turn oft he Screw an, weist aber auch deutliche Parallelen zu Strauss‘ Rosenkavalier und Janaceks Katja Kabanova auf. Daraus ergibt sich ein dramatisch imposantes Gemisch, das sehr gefällig ist und von Gian Carlo Menotti in ein prägnantes Libretto gekleidet wurde.
In einer Zeit, in der sich ein Hans Werner Henze bereits einen Namen gemacht hatte, mag Barbers Tonsprache eher etwas altmodisch anmuten. Bei der damaligen Presse hatte die Vanessa aus diesem Grunde keinen sonderlichen Erfolg. Das Publikum dagegen war von dem Werk begeistert. In die Zeit eines Schreker und eines Zemlinsky zurückgehend weist sie viele Elemente auf, die sich in das Gedächtnis einprägen und sicher auch Gegnern der modernen Oper zu gefallen vermögen. Der spätromantische Klangteppich ist von großer Schönheit. Anklänge an Richard Strauss sind ebenso spürbar wie Bezüge zu Puccini. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man sagen, dass dieses Werk ungefähr in den 1920er Jahren entstanden sei. Das ist schon eine Musik, die man voll genießen kann. Hier huldigt Barber in hohem Maße der Spätromantik, die auch in so mancher heutiger Oper wieder spürbar wird. Das ist gewiss kein Fehler. Der Eindruck ist enorm, was sicher auch an dem fulminanten Dirigat von Jakub Hrusa liegt. Die spätromantischen Aspekte der Partitur werden vom Dirigenten und dem prächtig aufspielenden London Philharmonic Orchestra aufs Beste ausgekostet. Hrusas Herangehensweise an das Stück ist von großer Intensität und einem ausgeprägten Gespür für Farben geprägt. Die Linienführung der Instrumente ist hervorragend. Auch die dramatischen Akzente werden eindringlich herausgearbeitet.
Bei seiner gelungenen Regiearbeit hat sich Keith Warner von dem Film Noir leiten lassen. Zusammen mit seinem Ausstatter Ashley Martin-Davis macht er deutlich, dass diese Geschichte auch von Hitchcock stammen könnte. Oftmals werden filmische Projektionen eingesetzt. Das ist schon einmal ein gutes Grundkonzept. Das Regieteam lässt das Ganze in einem spätviktorianischen Ambiente spielen, das von imposanten Sofas und einer im zweiten Akt sichtbar werdenden Wendeltreppe bestimmt wird. Geprägt wird das Bühnenbild ferner von zwei riesigen drehbaren und bespielbaren Spiegeln, die als Reflektionsfläche für die unterschiedlichen seelischen Befindlichkeiten, Wünsche und Sehnsüchte, der beteiligten Personen fungieren und manchmal auch einen Blick in die Vergangenheit gewähren. So wird man bereits zu Beginn Zeuge von Vanessas Geburt. Derart ist zu konstatieren, dass die Titelfigur stark auf vergangene Zeiten fixiert ist. Auch diese Idee Warners kann sich sehen lassen. Ebenfalls einprägsam ist seine starke psychologische Personenführung. In der Zeit, in der die Psychoanalyse aufkam, ist es nur zu berechtigt, Bezüge zu Sigmund Freud herzustellen. Und das tut der Regisseur mit großer Akribie. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden einfühlsam ausgelotet. Am Ende tritt Erika in die Fußstapfen ihrer Tante Vanessa und nimmt ganz deren Rolle ein. Das Spiel kann von vorne beginnen. Mit diesem Gemisch von konventionellen und modernen psychologischen Aspekten ist Warner eine insgesamt überzeugende Gratwanderung gelungen, der man einiges abgewinnen kann.
Bei den gesanglichen Leistungen haben die Damen die Nase vorne. Sowohl darstellerisch wie auch stimmlich geht Emma Bell ganz in der Rolle der Vanessa auf. Sie verfügt über einen angenehmen, gut sitzenden und ausdrucksstarken Sopran, mit dem sie jede Facette der Titelfigur abwechslungsreich und differenziert auszudeuten vermag. Übertroffen wird sie von Virginie Verrez, die einen wunderbaren, bestens italienisch geschulten, glutvollen und nuancenreichen Mezzosopran für die Erika mitbringt, der sie auch schauspielerisch mit eindringlichem Spiel ein vielschichtiges Gepräge gibt. Immer noch über beachtliche vokale Reserven verfügt die darstellerisch etwas undurchschaubare Old Baroness von Rosalind Plowright. Zu wünschen übrig lässt Edgaras Montvidas, der dem Charmeur Anatol rein schauspielerisch zwar gut gerecht wird, stimmlich aber mit seinem flachen, überhaupt nicht im Körper sitzenden Tenor in keiner Weise zu gefallen vermag. Mit hervorragender italienischer Technik, recht sonorer und geradliniger Baritonstimme singt Donnie Ray Albert den Old Doctor. Von William Thomas (Nicholas) und Romanas Kudriasovas (Footman) weist der Bariton eine besser fundierte Stimme als der Tenor auf. Grundsolide schlägt sich der von Nicholas Jenkins einstudierte Glyndebourne Chorus.
Fazit: Eine DVD, die musikalisch prachtvoll ist, szenisch für jeden Geschmack etwas bereit hält und schon aufgrund des absoluten Raritätencharakters des Werkes durchaus zu empfehlen ist.
Ludwig Steinbach 1. Januar 2023