Bridget Breiner, die frühere Erste Solistin des Stuttgarter Balletts, hat sich nach dem „Nussknacker“ während ihrer Direktionszeit beim Badischen Staatsballett Karlsruhe nun in selbiger Funktion beim Ballett am Rhein einen weiteren Klassiker vorgenommen und ihn auf der Basis klassischer Grundfesten behutsam, d.h. mit Liebe und gedanklich-handwerklichem Geschick in eine Zeit nach der Errungenschaft der Psychoanalyse geholt. Es geht ihr um keine radikale Modernisierung, sondern um einen tieferen Blick in die Figuren und ihre Beweggründe.

Wie schon beim erwähnten „Nussknacker“ treten hier auch die Eltern mehr ins Blickfeld und werden zu fast gleichrangigen Tanzpartnern für das Hauptpaar. Dabei greift sie auch in der Wahl der Handlungselemente statt auf die der klassischen Petipa-Choreographie zugrunde liegende Urversion von Charles Perrault auf die etwas mehr verbürgerlichte Fassung der Gebrüder Grimm zurück. So finden wir hier außer dem Frosch (in hautengem Grün mit Flossen) als Verkünder des ersehnten Nachwuchses beim Königspaar auch zwölf weissagende Frauen anstatt der Feen plus jener 13. namens Carabosse, die sich als voriger Frosch entpuppt, für die an der gedeckten Tafel zu Auroras Taufe kein goldenes Gedeck mehr zur Verfügung steht und sich dafür mit dem Fluch auf das Baby rächt. Gestärkt wird ihre Funktion als Mutter von Desiré, der sich nach der späteren Erkenntnis ihrer Tat und ihres Klammerns an den Sohn von ihr abwendet. Aber auch das Königspaar, besonders der Vater, möchte seine Tochter nicht loslassen. Indes ist Desiré nur einer unter mehreren Helden, die versuchen Aurora aus dem hier als Zeit der Entwicklung zum Erwachsenwerden interpretierten 100jährigen Schlaf zu erwecken. Ihm gelingt es schließlich zu ihr vorzudringen, doch entsteht zwischen ihnen noch keine märchengegebene sofortige Liebe, da bedarf es doch der gegenseitigen Annäherung. Zu diesem natürlich verständlichen Findungsprozess passt dann auch ihr zunächst ausbrechendes Verwirrtsein und dann beider Flucht aus der beengenden Hochzeits-Zeremonie in eine selbstbestimmte Freiheit jenseits der Bühne, indem sie im letzten Moment, durch den sich schließenden Vorhang vors Publikum treten.
In visueller Hinsicht hat sich Breiner mit ihrem bewährten Ausstatter für Bühne und Kostüme Jürgen Franz Kirner auf eine reduzierte, aber die wesentlichen Elemente und Symbole sichtbar machenden Konzept verständigt. Zwischenvorhänge ermöglichen schnelle Szenenwechsel zwischen sich drehenden Mauern und Wandteilen, im Hintergrund erscheint ein scherenschnittartig stilisierter Wald, die Schlaflegung und Erweckung erfolgt in einem kokonartigen, von Gestrüpp bedeckten und schließbaren Gehäuse. Die Tauf-Tafel ist ein einem Podium gleichender dreieckiger Tisch, die Geburt Auroras geschieht in einer Badewanne, Desirés Aufwachen in einem fahrbaren Bett.
Die Personen sind durch stilistische und farbliche Anleihen an ihre traditionellen Rollen gewandet und von historischem Prunk befreit. Die grauen Kleider der weisen Frauen lassen im Tanz individuelle farbliche Apercus darunter erkennen. So z.B. Fliederchen in entsprechendem Farbton, die zuerst etwas unbeholfen wirkt, dann aber den Fluch durch den erfolgenden Schlaf abmildern kann und durch ihr entschlossenes Einschreiten für eine Erweckung Desirés sehr menschliche Züge anstatt der sonst etwas abgehobenen Feen-Funktion erhält. Elisabeth Vincenti gibt ihr sowohl Würde als auch spielerische Leichtigkeit.

Noch zu erwähnen ist das Setzen einer Art Rahmenhandlung, in der durch die Anleitung eines tanzenden Erzählers ein von Beginn an am Bühnenrand sitzender kleiner Junge (Jonas Klöcker) als Desiré in die Geschichte eingeführt wird.
Musikalisch betrachtet verwendet Breiner einen großen Teil der Musik von Peter Tschaikowsky, weist ihr aber oft eine andere Funktion zu, indem die Reihenfolge aufgehoben wird, klassisch bekannte Soli oft zu Pas de deux mutieren und statt reiner tänzerischer Präsentation den Fortlauf der Handlung schildern. Für den Ballettkenner bedeutet dies sich von vielen vor dem inneren Auge stehenden Bildern zu lösen und mit Staunen die wandelbare Funktionalität der farbenreichen Musik festzustellen. Wie schon Marcia Haydée nutzt sie die von Tschaikowsky als Panorama bezeichnete Nummer, um Aurora als kleines heranwachsendes Mädchen (Matilda Staigis) in kurzen schnellen Sequenzen zu zeigen. In Verbindung mit dem klassische Schule und Neues, auch Alltägliches, fließend und oft spannungsreich ineinander verwebenden Erzählstil der Choreographin ergibt sich wiederum eine Einheit, die auch durch ein paar Minuten nach Auroras Erwachen nicht unterbrochen wird, wenn eine von Tom Smith neu geschaffene, vor allem die Motive der Carabosse aufgreifende und sirrend flirrend aufgeweichte wie einen inneren Vorgang verarbeitende Komposition diese Phase als Ankommen im Erwachsensein begreifbar macht.
Hinsichtlich der tänzerischen Anforderungen setzt Breiner entschieden auf die wesentlichen Disziplinen der klassischen Schule, wobei Sprünge und Drehungen stärker ausgeprägt sind als knifflige Balancen, komplexe Hebungen mehr als synchrone Formationen. Z.B. ist das Rosen-Adagio kein Nerven anspannender Prüfstein, sondern eine Interaktion zwischen Aurora und der Geburtstagsgesellschaft. Überhaupt sind die Beziehungen untereinander wichtiger als bloßer solistischer Vorzeige-Charakter. Dabei spielt sie gekonnt mit traditionellen Formen (wie z.B. Manegen), wandelt sie ab und setzt sie wieder zu einem neuen Ganzen zusammen.
So steht Chiara Scarrone als Aurora keineswegs an der Spitze, sondern repräsentiert mit gut erkennbaren klassischen Grund-Qualitäten die Leistung des ganzen Ensembles. Lucas Erni ist als Desiré sowohl ein kraftvoller Springer als auch ein dynamisch feiner, sensibler Interpret. Wie ihn hat Breiner auch Sophie Martin aus Karlsruhe mitgebracht, die als quirliger Frosch und dann als aller dämonischen Äußerlichkeit entkleidete Carabosse eine starke und auch mit sich selbst kämpfende Frau ist, die eine bemerkenswerte Agilität zwischen traditionellen und expressiv aufgeweichten Formen aufweist.

Enorm aufgewertet ist wie schon erwähnt das Königspaar. Aus sonst meist Statisten Funktion übernehmenden Rollen sind Menschen mit spürbarer Seele und körperlicher Ausdruckskraft geworden. Orazio Di Bella und Balkiya Zhanburchinova erfüllen dies mit viel persönlichem Anstrich und dem erforderlichen technischen Rüstzeug. Auch der Erzähler ist mit vielen schnellen die Bühne querenden wirbelnden Passagen dreh- und sprungtechnisch gefordert und erhält durch Alejandro Azorin ein schnittiges Profil. Eine gute Portion Humor ist in die drei als als Kurz (Yoav Bosidan), Rund (Skyler Maxey-Wert) und Lang (Dukin Seo) betitelten Anwärter um Auroras Gewinnung in blauen Uniformen und mit Krönchen eingeflossen. Tänzerische Lust beflügelt ihre Einsätze. Desweiteren gibt es noch sechs als Helden deklarierte Männer, die mit stilisierten goldglänzenden Waffen genauso vergeblich um die Erweckungstat ringen. Helden werden nach der Pause sogar im Zuschauerraum auf plakatierten Schildern in verschiedenen Sprachen gesucht, während aus dem Orchestergraben die Jagdmusik erklingt.
Das Niveau des erst vor einem Jahr neu zusammen gekommenen Ensembles ist auf der weiblichen Seite durch die weiteren elf weisen Frauen beachtlich dokumentiert.
Mehr Personal bedarf es nicht, auch weil die großen Feen-Divertissements und die Märchenfiguren der Hochzeit eliminiert sind. Vervollkommnet wird dieser in sich geschlossene, sowohl strukturell wie ästhetisch gelungene Versuch einer Befreiung aus dem herkömmlichen Schema (Dramaturgie: Julia Schinke) durch den Beitrag der , die unter der Düsseldorfer Symphoniker Leitung von Yura Yang die vielen melodischen Preziosen der Partitur zwischen kraftvollen Zuspitzungen und intimeren Momenten erfreulich transparent, gefühlvoll, aber auch zupackend entfalten.
Zum Verbeugungs-Ritual erklingt schließlich noch der vor der Apotheose platzierte Final-Marsch, die folgende Begeisterung schließt alle Beteiligten mit ein.
Udo Klebes 19. November 2025
Dank an unsere Freunde vom MERKER-online (Wien)
Dornröschen
Peter Tschaikowski
Düsseldorf, Ballett am Rhein
15. November 2025 (Premiere)
Choreografie: Bridget Breiner
Drigat: Yura Yang
Düsseldorfer Symphoniker