Ein absurdes Weihnachtsmärchen
Immer wieder wurde und wird an Jacques Offenbachs „Weltabschiedswerk“ schwer gesündigt, von Regisseuren wie Dirigenten. So auch bei der jüngsten Neuproduktion, der ersten Saisonpremiere an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Es ist eine Koproduktion mit dem MusikTheater an der Wien und dem Teatr Wielki Warschau und – es sei schon vorab verraten – es ist eine Verhunzung. Man muss es einfach wieder einmal sagen: Kein Komponist muss sich derartige Eingriffe in seine Werke in einem solchen Ausmaß gefallen lassen wie Offenbach.
Hoffmanns Erzählungen ist die letzte, unvollendete und großartige romantische Oper von Jacques Offenbach, ein Werk, von dem es keine Partitur letzter Hand gibt. Es gibt allerdings eine Vielzahl von Bearbeitungen und Fassungen. Bei manchen Produktionen kann man geradezu von Patchwork-Machwerken sprechen, zumal Dirigenten und Regisseure sich des gewaltigen Steinbruchs der wissenschaftlich-kritischen Editionen von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck nach Belieben bedienen, die ja alle Varianten, also wirklich alles, was Offenbach je für den Hoffmann komponierte, verzeichnen.
Das Problem der Produktion von Lydia Steier ist schon ihr temperament- und humorloser Dirigent Bertrand de Billy, der sich nicht zwischen Rezitativ- und Dialogfassung entscheiden kann. Außerdem dirigiert er schwerfällig, kraftlos, breit und ohne jede Delikatesse. Langsames Tempo und pauschaler Klang, auch rhythmische Unterbelichtung lassen das Werk so langweilig erscheinen, wie ich es nie hörte. Und wie oft habe ist es gehört. Da müssen eigentlich die Funken nur so sprühen. Stattdessen glatte Routine und Beliebigkeit. Schade.

Ebenso enttäuschend ist die Regie von Lydia Steier. Zentraler Schauplatz von Offenbachs Oper sind – laut Partitur –die Kellergewölbe der Weinstube Lutter & Wegner, welche wenige hundert Meter von der Staatsoper entfernt am Gendarmenmarkt lag. Unbekümmert darum lässt die Regisseurin ihren Hoffmann aber gar nicht im Berlin des 19. Jahrhunderts, sondern im New York der Dreißigerjahre (später der Siebzigerjahre) des zwanzigsten Jahrhunderts spielen. Warum, ist nicht einsichtig. Statt der Lutter & Wegner-Weinstube sieht man eine giftgrün funkelnde Bar namens „Purgatorio“ im verlotterten New York. Immer wieder wird die Bar zwischen den Akten herauf- bzw. heruntergefahren. Man spart nicht mit Bühnentechnik unter den Linden, speziell nicht an Hubpodien.
Zu Beginn lümmeln sich vor einem Kinosaal, oder ist es in Theater?, auf dessen Werbefläche der Sar „Stella“ angekündigt wird (in der Aufführung taucht sie allerdings nicht auf, auch nicht auf dem Besetzungszettel). Davor Junkies, Alkoholiker, torkelnde Menschen. Einer von ihnen – er sieht aus wie ein heruntergekommener Clochard – heißt Hoffmann und stirbt gerade. Dass er ein schöner Mann sei, den Antonia liebe, kann man kaum glauben, auch wenn er in ihrer Szene später ausnahmsweise Jackett und akkurate Stoffhose trägt. Ein Engel und die Muse mit Engelsflügeln entsteigen einer Wolke. In der Unterbühne vor rotem Lametta-Revuevorhang sieht man ein Ballett der Teufel, die alle mit Riesenphalli ausgestattet sind. Ein geradezu monströses Glied trägt allerdings der in vierfacher Gestalt (als Lindorf, Coppélius, Dr. Miracle und Dapertutto) und vielfacher Verkleidung auftretende teuflische Bösewicht, sängerisch als Einziger in der nicht sonderlich aufregenden Besetzung wirklich beeindruckend Roberto Taglaivini, vor sich her. Meist ragt es mit ungeniertem männlichem Imponiergehabe aus der Hose, manchmal stopft er es in die dieselbe, um es vor gewissen Personen zu verbergen. Auf die Dauer wird dieser längst verbrauchte Gag allerdings langweilig. Man fragt sich übrigens, was der Teufel, der als Conférencier der Versuchungen Hoffmanns auftritt, im Fegefeuer zu suchen hat. Aber fragen wir lieber nicht. So manches in Lydia Steiers verquasten Inszenierung ist fragwürdig.

In Luther & Wegners Weinstube, pardon, der Purgatory Bar, wird Hoffmann, o Wunder, wieder lebendig und singt sein Lied von „Klein Zack“. Pene Pati singt es keineswegs sensationell, eher weinerlich, teils geschrien, sehr angestrengt jedenfalls und ohne Charme und Witz. Auch darstellerisch bleibt der angepriesene Sänger blass. Der Chor (gut wie immer der Staatsopernchor unter Leitung von Dani Junis) darf, obwohl ausdrücklich von Wein die Rede ist, aus Bierpullen süffeln. Die Geister des Weines singen übrigens unsichtbar. Es ist nur eine von vielen Absurditäten der Regie, die den Text der Oper immer wieder Lügen straft. Im Übrigen geht die Übertitelung mit dem gesungenen Text sehr frei, um nicht zu sagen verfälschend um.
Szenenwechsel. Ein New Yorker Einkaufstempel, eine weihnachtlich überdekorierte Shopping Mall, samt in die Höhe wachsendem Weihnachtbaum und Sternenglitzern. Davor eine Art Miniaturbühne auf der die erstaunlich kleinwüchsige, aber stimmgewaltige Puppe Olympia (Nina Minasyan) ihre Koloraturen zwitschert. Man hat sie freilich oft raffinierter erlebt, vor allem auch im Spiel. Sie agiert wie ein statisches, ausgestelltes Schaufensterpüppchen, ein nettes Weihnachtsgeschenk eben. Dafür dürfen alle um sie herumstehenden, tänzelnden Personen, darunter viel Statisten und hinzuerfundenes Personal, die eckigen, automatenhaften Bewegungen ihres Gesangs nachahmen. Selten hat man die Olympia-Szene so lahm erlebt. Da hilft auch er ganze Weihnachtszauber und alles „Weihnachtskarnevalstreiben“ (geradezu peinlich das Ballett) nichts. Selbst der (aus der Pulle saufende) Weihnachtsmann hat seinen Auftritt, übrigens immer wieder im Laufe der strapaziösen Aufführung. Hoffmanns Erzählungen: ein Weihnachtsmärchen? Pause.

Wieder der Abstieg ins Purgatorium, dann folgt der Antonia-Akt. Ein Zimmer im Stil der 1970er Jahre eingerichtet, auf der oberen Etage der Hebebühne. Julia Kleiter singt die Antonia ordentlich, aber keineswegs aufsehenerregend. Unter ihrer Behausung eine Geigenbauerwerkstaat und ein Krankenschwesterncorps, oder was auch immer, sie mutieren zu teuflischen Lemuren, nachdem Antonia, animiert durch die Stimme der Mutter (mittelprächtig: Natalia Skskryacka) ihr Leben aushaucht hat, indem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Warum der Diener Frantz (sehr blass: Ya-Chung Huang) schließlich langweilig tantenhaft in Frauenkleidern erscheint, bleibt unverständlich Was hat man in dieser kleinen Partie schon für brillante karikaturistische Charakterstudien gesehen und gehört, in anderen Inszenierungen! Pause.
Der finale Giulietta Akt spielt in und vor einer Art dreistöckigem Bordell, Stundenhotel („Rooms/Drinks“), Sexkneipe oder was aus auch immer. Damit wir‘s auch ja kapieren, um was für ein Etablissement es sich handelt, tritt Schlemihl gleich ohne Hosen auf, im Hintergrund tanzen Männer miteinander. Giulietta tritt als überaus üppiger Vamp mit roten Haaren und in rotglühendem, zu engem Kleid mit großer, grotesker Schleife auf dem Rücken auf. Sonja Herranen sing sie nicht gerade verführerisch. Hoffmann ersticht sie im Affekt. Der Bösewicht kommt umqualmt wieder aus der Versenkung, auch der Weihnachtsmann ist dabei, Giulietta wird hinabbefördert. Wieder Szenenwechsel. Die Künstler-Schlussapotheose mit ergreifendem Chor und tröstlichen Worten der durch das Stück führenden, Hoffmann beschützenden, geflügelten Muse (sängerisch mittelprächtig: Ema Nikolovska).

Am Ende fährt Hoffmann, mit Hilfe einer „alten Dame“ (wer ist das nur?), die von Brigitte Eisenfeld stumm gemimt wird, und natürlich seines Musenengels auf einem Lastenfahrstuhl gen Himmel. „Amen“, möchte man sagen.
Regisseurin Lydia Steier will Hoffmanns Erzählungen frommer auf die Szene bringen, als die Oper ist, nämlich als den inneren, seelischen Kampf des Protagonisten zwischen Engel und Teufel, den „episodenübergreifenden“ Kampf um Hoffmanns Seele. Das ist nun wirklich weit vom eigentlichen Offenbachischen Stück entfernt, und es ist blanker Unsinn, wie auch die vermutlich so gemeinte Rückschau, ja Seelenschau des bereits zu Anfang verstorbenen Hoffmann.
Summa summarum: Eine lange, zwar bilderreiche, bunte, aber wenig einleuchtende, wenig faszinierende und (auch musikalisch) alles andere als „zündende“ Veranstaltung. Offenbach hat das nicht verdient. Das Stück ist weit besser, als in Berlins Lindenoper präsentiert.
Dieter David Scholz, 22. November 2025
Les Contes d’Hoffmann
Opéra fantastique in fünf Akten (1881)
Musik von Jacques Offenbach
Staatsoper Berlin
Premiere: 16. November 2025
Gesehene Aufführung: 21. November 2025
Inszenierung: Lydia Steier
Musikalische Leitung: Bertrand de Billy
Staatskapelle Berlin
Nächste Aufführungen: 26. und 28. November, 4. Dezember 2025