Brundibár ist die traurigste Oper aller Zeiten – dies nicht, weil die Geschichte, die sie erzählt, traurig ist, sondern weil die Geschichte, die hinter dieser Oper steht, unendlich beklemmend ist.
„Diese kleine Oper für Kinder wäre wahrscheinlich“, sagte der Regisseur Robert U. Laux 2003 in einem Salzburger Symposion über das (Musik-)Theater in Exil und Diktatur, „ diese Oper wäre wahrscheinlich in den Wirren der Geschichte völlig untergegangen und vergessen worden, wenn sie nicht durch eine große Aufführungsserie an einem grausamen Ort legendären Status erhalten hätte.“ Die Geschichte ist ganz einfach: Die Geschwister Aninka und Pepiček benötigen Geld, um Milch für ihre kranke Mutter zu kaufen. Sie sehen, dass der Leierkastenmann Brundibár sein Geld mit seinem Spiel verdient, und so versuchen sie es mit einem Lied. Damit haben sie kein Glück, denn Brundibár vertreibt die beiden vom Marktplatz, da er allein dort stehen will. Außerdem will ihnen niemand zuhören, ja: sie werden als Störenfriede vertrieben. Drei Tiere aber wollen ihnen helfen: ein Spatz, ein Hund und eine Katze. Am nächsten Morgen versuchen sie es von neuem, indem sie die Kinder animieren, zusammen mit ihnen zu singen. Es gelingt: die Erwachsenen hören nun auf den Gesang und lohnen es ihnen mit Geld. Brundibár stiehlt es, wird aber von den Kindern und Tieren verfolgt. Er muss sich geschlagen geben und verschwindet. Den Schluss macht ein Lied über die Kraft der Freundschaft. „Das Ganze endet freudig“, wie der bekannte Satz über das Freischütz-Finale lautet: mit einem D-Dur-Akkord.

Das ist schon alles, aber es reichte, um bis heute zu entzücken – und zum Nachdenken zu zwingen. Als der Komponist Hans Krása in das Ghetto Theresienstadt kam, lag das Werk bereits vor. Krása und sein Librettist Adolf Hoffmeister hatten den Einakter für einen Wettbewerb des tschechischen Ministeriums für Schulwesen und Kultur geschrieben, im Jahre 1939 sollte es uraufgeführt werden – aber dann marschierte die Wehrmacht in die Heimat der beiden Künstler ein. Hoffmeister konnte 1939 gerade noch rechtzeitig ins Exil gehen, doch Krása blieb in der germanifizierten Tschechoslowakei. Hier wurde die Kinderoper zweimal im Waisenhaus Hagibor illegal aufgeführt. Der Komponist wurde im August 1943 nach Theresienstadt verschleppt, im folgenden Jahr gelangte, natürlich verbotenerweise, ein Klavierauszug der Oper in das Ghetto. Bedenkt man nun, welchem psychischen wie physischen Druck vor allem die Kinder im Lager ausgesetzt waren – die Kinder von Familien, die gleich nach ihrer Ankunft auseinandergerissen wurden –, und stellt man sich vor, dass die Verrohung und Verwilderung schon für die Jüngsten ein völlig normaler Zustand war, ermisst man die pädagogische Bedeutung, die die Einstudierung der Kinderoper hatte.
Mitgebracht hatte den Klavierauszug Rudolf Freudenfeld. Er und der Dirigent Rafael Schächter, neben Ullmann, Krása und Gideon Klein einer der wichtigsten Theresienstädter Musiker, studierten die Oper auf einem stickigen Dachboden am Harmonium ein. Waren die Kinder zunächst noch gelangweilt, so änderte sich die Situation, als man einen besseren Probenraum fand. Da in Theresienstadt der Schulunterricht offiziell verboten war, boten die Proben und die Aufführungen eine angenehme Abwechslung von der Öde des Tages. Auch unter den Kindern gab es übrigens Konkurrenzneid und Intrigen, da es um die Besetzung der Rollen ging. „Und so manches Kind“, schreibt der Regisseur Robert U. Laux, „war später glücklich über die sonst so gefürchteten Osttransporte, wenn ein Konkurrent mitfahren musste, und es selber die heißgeliebte Rolle bekam.“Auch dies gehörte zu der perversen Situation in Theresienstadt.
Als Brundibár am 23. September 1943 seine Premiere erlebte, war dies der Beginn eines Siegeszugs: Der ersten Aufführung folgten nicht weniger als 54 weitere, doch birgt diese Siegesgeschichte, natürlich, ein bitteres Finale. Es war nämlich auch diese Oper, die so bewegend vom Überlebenswillen und von der Kraft der Solidarität gegen einen Usurpator spricht und doch von den Nazis in einer perfiden Aktion missbraucht wurde. Als am 23. Juni 1944 die Delegation des Internationalen Rotes Kreuzes das „Vorzeigelager“ Theresienstadt besuchte, stand auch eine Aufführung von Brundibár auf dem Tagesprogramm: dass es hier möglich wäre, dass Kinder eine Oper spielen, sollte auch das IRK davon überzeugen, dass es hier menschlich zuginge. So wurde nicht nur das KZ an ausgewählten Stellen gleichsam übermalt, verschönert und brutal idealisiert. Die Kinder von Brundibár mussten es sich gefallen lassen, jene heile Welt zu spielen, von der sie wussten, dass sie außerhalb des Theatersaals zu Ende war. Spielten sie nur für sich und die ihren, wussten sie, dass die Oper eine Utopie barg. Mussten sie auf Weisung der Lagerkommandantur spielen, empfanden sie die gleichfalls für den Anlass buntgemalerte und vergrößerte Bühne vermutlich als gespenstische Lüge. Nur an diesem Tag spielten sie nämlich, auf Befehl ihrer Mörder, im großen Rathaussaal, sonst in einem kleinen Raum der Magdeburger Kaserne.

Nicht allein, dass das IRK getäuscht wurde. Die Prager SS-Führung beschloss, das Täuschungsmanöver zu steigern. Der Fall ist bekannt. Der Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron wurde gezwungen, einen Film zu drehen, in dem auch Brundibár eine Rolle spielte: die Geschichte eines Leierkastenmannes, dessen Bosheit im Vergleich zu der des „Führers“, der die Juden nach Theresienstadt geschickt hatte, denkbar harmlos ist. Gerron filmte das Schlussbild der Oper, aber so glücklich, wie sie bei den „normalen“ Aufführungen wohl waren, wirken die Kinder hier logischerweise nicht (Video bei Youtube). Lange sollten denn die Kinder von Brundibár ihren Erfolg nicht überleben; im Herbst 1944 wurden sie mit 18.600 anderen Menschen nach Auschwitz transportiert. Ein halbes Jahr später wurde noch einmal eine Aufführung der Oper angeordnet, aber sie war nicht mehr möglich, denn fast alle Theresienstädter Kinder, auch der Komponist waren inzwischen ermordet worden.
„Alles wird gut, es ist nicht schlimm“. Diese Hoffnung wirkt natürlich angesichts der Situation, unter der die Produktion zustande kam, nichts als traurig. „Hoffnung ist fehlende Information“, wie der Dramatiker Heiner Müller einmal sagte – aber für die Kinder und die vielen Erwachsenen, die damals Brundibár machten und sahen, war die Oper mehr als ein politisches Stück. Es war, wie einer der Überlebenden sagte, ein „Lichtblick“, eine Möglichkeit, den Alltag für eine schwache Stunde zu vergessen, damit auch das Hungergefühl, das Aninka und Pepiček zu Beginn des Stücks noch besitzen. „Brundibár hat den Kindern das Vertrauen gegeben. Die Welt kann auch schön sein… Die Welt unter Hitler war fürchterlich schwer. Aber die Welt kann schön sein. Wenn die Kinder auf dem Dachboden Brundibár gespielt haben, war das Leben für sie schön“, so die Pianistin Alice Sommer, deren sechsjähriger Sohn Raphael im Ghetto oft den Spatz spielte. Wenn jedoch der freundliche Musiktheater- und Musikpädagoge Philipp Roosz, der nach der Ouvertüre die Kinder im Nürnberger Opernhaus begrüßt und kurz den Inhalt des Stücks erläutert – und ganz nebenbei auf die Umstände der Aufführungen hinweist – meint, dass Brundibár im Kontext von Theresienstadt, der bei Brundibár leider immer mitgedacht werden muss, die „Hoffnung“ das Entscheidende sei, blendet er das Wesentliche aus. Die Zahl der ermordeten Kinder beweist das Gegenteil, oder anders: „Hoffnung kann auch enttäuscht werden“, wie der große Philosoph der Hoffnung, Ernst Bloch, nicht müde wurde zu betonen. Wer die Geschichte kennt – die Eltern der anwesenden Kinder werden ihnen, denke ich, die Geschichte nicht in allen Details erzählen, werden sie vielleicht auch nicht kennen –, kann am Ende des Stücks, beim lustigen, optimistischen Marschlied der siegenden Kinder, nur sehr, sehr traurig werden. Brundibár wurde, dafür kann das Werk nichts, zur Tragödie.

Kann man sie heute so spielen, als habe es Theresienstadt und die ermordeten Kinder niemals gegeben? Man kann, aber man sollte es nicht. In Nürnberg war nun in zwei Nachmittagsvorstellungen aus Anlass der 35jährigen Städtepartnerschaft zwischen Nürnberg und Prag ein Gastspiel der Kinderoper Prag (Dětská opera Praha) zu erleben, in dem die Zeitumstände zumindest angedeutet worden sind. Zu Beginn verlässt ein Vater mit seiner Tochter die Mutter und eine weitere Tochter; er trägt einen Judenstern und geht ab: in die Vernichtung, wohin sonst? Ein Davidstern wird auf einer der Hausfassaden, sichtlich eine Synagoge, die ganze Spielzeit von 35 Minuten gelb angeleuchtet. Dies muss genügen, um den historischen Raum des Werks anzudeuten. Später vergesse ich tatsächlich für ein paar Minuten, aber nicht länger, die Geschichte hinter der Geschichte. Die Leiterin des Ensembles, Jiřina Marková-Krystliková, hat das Spiel „kindgerecht“ inszeniert, wie man so sagt, die Szene überrascht nicht durch Extravaganzen, sondern erfreut durch eine unverstellte naive Deutlichkeit. Aus dem einen Hund, der Katze und dem Spatz, die den Geschwistern helfen, wurden kleine, hübsche Gruppen, der Eismann ist, man kennt das nicht anders (seine Musik ist ja auch pfiffig), ein lauter, kleiner Kerl, der Leierkastenmann ist ein nicht allzu grausamer Mann, der Polizist mit angeklebtem Schnurrbart ist natürlich köstlich, und Aninka und Pepiček erobern, glaube ich, schon schnell die Herzen der Kinder.
Krasá hat mit Brundibár eine Oper geschrieben, die auch jenen Erwachsenen gefallen müsste, die, wenn sie das Wort „Kinderoper“ hören, nicht automatisch an langweilige Primitivismen denken. „Nichts? Ist Musik und gute Laune etwa nichts?“, heißt es in der Oper. In der Tat: Die Oper selbst ist nicht „nichts“, sondern „etwas“, indem sie als eigenständiges Kunstwerk aus dem Geist der 20er und 30er Jahre bestehen kann. Die Musik ist derart schön und gut gemacht, dass sie auch heute noch viele kleine und große Hörer zu packen vermag, wie es inzwischen viele Aufführungen wie die an einer Nürnberger Schule der 60er Jahre bewiesen haben. Ihr Stil changiert, so kunstvoll wie „einfach“ – aber diese Einfachheit ist sozusagen eine aus zweiter, gelehrter Hand – zwischen einem liedhaften Kinderstil und den saftigen Terzen eines Richard Strauss. Ohne von Leitmotiven zu reden, stiftet die sanft wiegende Sechsachtel-Melodie der beiden Geschwister, mit denen sie sich gleichsam brechtisch vorstellen, einen Zusammenhalt, so wie in Sergej Prokofjews Peter und der Wolf wiederkehrende Personalmotive die Dramaturgie zusammenhalten. Die Kinder dürften auch an den lautmalerischen Elementen Spaß gehabt haben: am Schnurren der Katze, am Singen des Vogels, wohl auch an der delikaten Instrumentation, die zwischen Salonmusik und weill‘scher Deutlichkeit hin und her changiert. Am Ende der Oper steht ein gemeinschaftliches Chorlied, das mit seinem agitatorischen Rhythmus und seinem Text direkt auf die miserable Gegenwart anspielte – eine Gegenwart, die zu überwinden war: „Ihr müsst auf Freundschaft bau’n, / den Weg gemeinsam geh’n, / auf eure Kraft vertrau’n / und zueinandersteh’n. / Dann wird man auf euch schau’n, / schlau euch und klug nennen, / dann kann euch nichts trennen.“ Wenn man nur so zusammenhielte wie hier gegen Brundibár, dann würde die solidarische Freundschaft auch zukünftig Gerechtigkeit verschaffen. „Nehmt euch bei der Hand / und knüpft das Freundschaftsband.“ Den Schlusschor singen sie dann zusammen: die Prager Kinder und, in den Proszeniumslogen stehend, die Sängerinnen und Sänger des Nürnberger Opernkinderchors. Das Orchester kam nicht aus Prag, sondern sitzt in Nürnberg, die Staatsphilharmonie Nürnberg wird an diesem Nachmittag von Tarmo Vaask dirigiert. Vaask ist der exzellente Leiter des exzellenten Nürnberger Opernchors; dass er auch eine Oper leiten und den Sängern, mit denen er vermutlich nicht mehr als eine Mittagsprobe hatte, derart deutliche Anweisungen gibt, dass nichts, aber auch wirklich nichts wackelt, zeigt die große Güte des (Chor-)Dirigenten Vaask.
Dass Nürnberger zusammen mit Prager Kindern eine Oper singen, beweist schließlich, dass Theresienstadt zwar nicht vergessen werden kann, aber nach den fürchterlichen Ereignissen der Kriegsjahre und der Vertreibungen sich die Hoffnung auf eine friedliche Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Deutschen denn doch erfüllt hat. Großer, begeisterter Beifall also des kleinen und des größeren Publikums.
Frank Piontek, 7. Dezember 2025
Brundibár
Hans Krása
Staatstheater Nürnberg
Gastspiel der Prager Kinderoper
Premiere am 6. Dezember 2025
Musikalische Leitung: Tarmo Vaask
Staatsphilharmonie Nürnberg / Prager Kinderopernchor