Buchkritik: „Wagners Welttheater“, Bernd Buchner (zweite Besprechung)

Auch die Geschichte der Bayreuther Festspiele ist eine politische Geschichte. Kann man eine Geschichte der Festspiele schreiben, die das alles noch einmal in den Blick nimmt?

Der Historiker Bernd Buch hat es getan – 2013 legte er mit Wagners Welttheater eine Geschichte der Bayreuther Festspiele zwischen Kunst, Politik und Religion vor, die das Alles noch einmal, von der Gründung über die Zeit als „Hitlers Hoftheater“ und der niemals stattgefundenen „Stunde Null“ zur Konsoliedierung unter Wieland und Wolfgang Wagner sortierte. „Es gibt Lücken“, meinte er damals, denn „die zeitgeschichtliche und kulturhistorische Forschung hat sowohl die ideologische Wirkungsgeschichte des Komponisten als auch die politischen Implikationen der Bayreuther Festspiele bisher nicht in ausreichendem Maß berücksichtigt.“ Tatsächlich gab es bis dato keine derartige Gesamtschau – und viele Quellen warteten noch auf ihre Auswertung. Buchner hat im Wagner-Jubeljahr, wo möglich, diese verborgenen Seiten zum Sprechen gebracht, ist in die Archive gestiegen, zitierte immer wieder aus bisher unbekannten Unterlagen. Somit konnte die These gut bewiesen werden: dass die Festspielleiter sich immer an die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umstände angepasst haben, um das Überleben der Institution (und der Familie) zu sichern. Buchner nannte es: „Mitläufertum“ – in diesem Sinn ist die Geschichte der Festspiele, bei allen scheinbaren Brüchen, „ein Spiegel der deutschen Geschichte“. Nicht wirklich erstaunlich, aber ein dominantes Erkenntnis- und Quelleninteresse befriedigend, war die Publikation einiger Briefe Adolf Hitlers an Winifred Wagner. Es sind banale Briefe, die belegen, wie eng Siegfried und Winifred Wagner mit den Nazis verkoppelt waren. Hitler bedankte sich, indem er die Festspiele in schwierigen Zeiten (als die Besucher ausblieben) finanziell unterstützte – und Buchner wies auf eine interessante Paradoxie hin: Es waren Schwierigkeiten, die ohne Hitler erst gar nicht entstanden wären. Interessant auch die familiären und amourösen Verflechtungen zwischen dem Hügel und bedeutenden Nazibeamten.

Die Quellen fließen reichlicher, je näher man der Gegenwart kommt. Buchner schilderte das Treiben der Brüder Wolfgang und Wieland, die nach 1945 alle Angriffe auf das nazistisch verseuchte Bayreuth hartnäckig bekämpften. Diese Generation war schuldiger, als man es angesichts der Jugend der späteren Festspielleiter annehmen musste. Buchner argumentierte auch in Sachen Meese-Engagement und -Rauswurf sehr deutlich, doch nicht unfair. Nun hat er dem Erstdruck eine zweite Auflage zukommen lassen, die mit jüngeren Veröffentlichungen und Quellenfunden die Geschichte der Festspiele bis in die jüngste Gegenwart zu verlängern vermag. Inzwischen lagern im Bayerischen Staatsarchiv bedeutende Teile des Wieland-Wagner-Nachlasses, inzwischen kam man auch genauer in das Erbe Wolfgang Wagners schauen, der es in zunehmendem Alter vorzog, auf genaue Fragen nach seiner, also der Vergangenheit der Festspiele, unklar zu antworten. Buchner hat ein Wieland-Kapitel angefügt und setzt, versehen mit vielen öffentlichen und privaten Dokumenten, die Geschichtsschreibung dort fort, wo sie 1966 endete: mit dem Tod des Wagner-Enkels, der sich nach seinen Erfahrungen als persönlicher Günstling Adolf Hitlers in das Gehäuse (s)einer Kunst zurückzog, die, je ängstlicher sie alles Politische vermied, umso deutlicher von den Verdrängungen sprach, die dem stets ruhelosen Wieland Wagner, wenn nicht alles täuscht, schließlich das Leben kosteten. Der Autor kann die fatale Beziehung zwischen Familienpolitik und -psychologie und dem Drang, die Geschwister, gegen alles traditionelle Erbrecht, aus Bayreuth herauszuhalten, von Null an als Familiendefizit festmachen; schon die Inthronisation Siegfried Wagners als nachträglich ehelich legitimierter Prinz gehorcht Mustern, die bis zum Ende des Patriarchats Wolfgang Wagners gültig waren.

So erzählt Buchner die Historie der „deutschen Windsors“, des fränkischen Atriden-Clans, mit zugleich informierter wie stilistisch angenehmer Hand, offenbart auch, wo es passt, einen diskreten Humor. Dass die Anlage des neuen Wagner-Hauses und -Museums in Bayreuth topographisch einem halben Hakenkreuz ähnele: auf diese Pointe muss man erst einmal kommen. Er leuchtet mit der um 120 Seiten, also wesentlich erweiterten Neuauflage die letzten Winkel der Bayreuther Neidhöhle aus, um die Nachkriegszeit politisch einzuordnen: von der Nähe der restaurativen Kräfte zur Wiederauferstehung Bayreuths über die Annäherung der Systeme der beiden Staatshälften (die Rolle der Musiker und Sänger aus der DDR, der tschechoslowakischen Republik und Polen wird herausgearbeitet) zum revolutionären Aufbruch, der mit Patrice Chéreaus Ring-Inszenierung der allgemeinen politischen Tendenz (und der Ring-Interpretationsgeschichte) ein wenig hinterherlief, dann aber, nach Götz Friedrichs Skandal machender Tannhäuser-Deutung von 1972, umso deutlicher die Position Bayreuths markierte. Buchners Analysen sind so klarsichtig, dass der Hinweis auf zwei Fehlinformationen als Beckmessereien abgetan werden sollten: Erstens gab es nicht erst unter Wolfgang, sondern bereits unter Wieland Wagner eine radikal verstandene „Werkstatt Bayreuth“ (niemand hat die Inszenierungen des Vorjahres so stark umgekrempelt wie Wolfgangs Bruder), und zweitens hatte Chéreau, bevor er in Bayreuth ankam, mit Hoffmanns Erzählungen und Die Italienerin in Algier schon zwei Opern inszeniert, war also mitnichten ein Opernneuling. Wichtiger als diese Petitessen aber sind die Nachzeichnungen einer seltsam widersprüchlich verlaufenden Entwicklung seit den 70er Jahren: hier ein Festspielleiter, der einmal behauptete, dass er, wenn es Zeit sei, freiwillig auf seinen Lebensvertrag verzichten würde und sich dann doch über Gebühr am Sitz festkrallte, dort eine Stiftungssatzung, die das Konstrukt Bayreuth regeln wollte und die gleichzeitig als kompliziert zu bezeichnen untertrieben wäre. Hier der bekundete Wille der Festspielleiterin Katharina Wagner, die politische Geschichte, also die Verwerfungen zumal der NS-Zeit, durch eigens beauftragte Historiker quellennah darstellen zu lassen, dort die sang- und klanglose Verabschiedung dieses Plans. Politisch war und ist ja schon der Einfluss, den „der Staat“, also die Bundesrepublik und Bayern, durch seine Zuschüsse auf die Festspiele nimmt, auch wenn er in künstlerische Fragen nicht hineinredet; doch könnte schon das Engagement Katharina Wagners als politische Volte verstanden werden. Hier der Glanz, dort das Elend der Ära Wolfgang Wagner. Hier die aufklärerische Rede, die Bundespräsident Walter Scheel beim letzten großen Festspieljubiläum 1976 hielt, dort die Reaktionen der Alt-Bayreuther, die ihr Idol Richard Wagner von einem Staatsrepräsentanten beschmutzt sahen, dessen (klug ausgleichende) Rede, nach deren antisemitischer Lesart, nur von einem Juden geschrieben sein konnte. Beschreibt Buchner die letzten Jahre Wolfgang Wagners, die bekannten Erbstreitigkeiten und die durchaus damit zusammenhängenden Tendenzen der Ästhetik einzelner Wagner-Inszenierungen auf dem Grünen Hügel, verschwindet phasenweise das Thema der Politik, doch nur im engen Sinn. In Wahrheit ist, obwohl die Festspiele inzwischen nicht mehr, wie noch unter Cosima, Siegfried (obwohl schon Siegfried Wagner den Wahlspruch ausgab: „Hier gilt’s der Kunst“) und Winifred Wagner, ihr politisches Fähnchen unübersehbar in den Wind hängen, Bayreuth immer noch, auf seine relativ konservative Weise, eine „Probebühne Deutschlands“, mögen auch die meisten Besucher in Bayreuth nicht mehr sehen als den Ort herausragender musikalischer und musikdramatischer Ereignisse. Allein die Tatsache, dass Barrie Kosky in Bayreuth seine explizite Meistersinger-Deutung auf die Bühne brachte, nachdem Stefan Herheim mit seiner Parsifal-Inszenierung einen Parcours durch die deutsche Geschichte unternommen hatte – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik zum NS-Staat, schließlich zur demokratisch-parlamentarischen Nachkriegsordnung –, allein diese Regiearbeiten zeigen, wie eng das Haus mit der deutschen Geschichte und der Politik verzahnt war, vielleicht auch noch ist. So betrachtet, steckt im konzis wie brillant entworfenen psychologischen Profil der Familie Wagner eine Entsprechung zu den Kämpfen, die, ohne dass man den Vergleich überstrapazieren sollte, innerhalb Deutschlands immer wieder und bis heute die Geschichte dominiert haben. Wie eng die Bayreuther Ring-Inszenierungen mit der jeweiligen deutschen Geschichte verbunden waren, hat ja schon Philippe Olivier mit seinem Ring-Buch zeigen können.

Zum bevorstehenden Jubiläum kommt das Buch also genau richtig, denn nur der, der weiß, was er feiert, kann dem Anlass gerecht werden. Buchner hat, sine ira et studio, mit Wagners Welttheater eine zusammenfassende und souverän bewertende Arbeit über eines der wichtigsten internationalen Opernfestspiele vorgelegt – und leicht verständlich, ohne das theoretische Niveau eines gebildeten Historikers zu unterschreiten, ist sie noch dazu.

Frank Piontek, 16. Dezember 2025


Bernd Buchner: Wagners Welttheater
Zur Geschichte der Bayreuther Festspiele zwischen Kunst, Politik und Religion.
(Wagner in der Diskussion, Bd. 25).

Königshausen & Neumann 2025, 506 Seiten

ISBN: 978-3-8260-7910-8