Essen: „Cardillac“, Paul Hindemith

Paul Hindemiths Oper Cardillac, basierend auf der zutiefst romantischen Erzählung des Fräuleins von Scudery von E.T.A Hoffmann, wurde nach der Uraufführung im Jahr 1926 von der Presse zerrissen. Man attestierte dem Werk eine „kakophone Gesamthaltung“ – zu monströs die Klanggewalt, zu ungewöhnlich die Besetzung, zu wild und dissonant die Komposition. Und dieses Werk ist auch sicherlich keine ganz einfache Kost, gleichwohl man es in Essen als Krimioper ankündigt. Falsch ist das freilich nicht, denn die Geschichte des Goldschmieds, der die Bürger von Paris in Angst und Schrecken versetzt, da er die Käufer seiner Schmuckstücke kurzerhand umbringt, um die Artefakte wieder in seine Werkstatt zu bringen, hat das Zeug zum Thriller.

In Essen hat man sich gegen eine Neuproduktion entschieden und eine 2019 in Antwerpen entstandene Inszenierung eingekauft. Regisseur Guy Joosten verweigert sich einer allzu naturalistischen Sichtweise auf das Werk und zeichnet ein packendes Psychogramm der Titelfigur, das von teils abstrakten, teils konkreten Bildern flankiert wird. Die Inszenierung greift in ihrer Bildsprache die Düsternis der Musik auf. So ist Cardillac weniger der hochverehrte Goldschmied, sondern einer, dessen Wahn, dessen Hybris, dessen Rohheit immer wieder aufblitzt, der sich in seiner Selbstverliebtheit suhlt, der mit grellen Grimassen die Nähe zur heutigen popkulturellen Ikone des Jokers sucht. Das ist ein interessanter Zugriff auf das Werk, denn dem Publikum offenbart sich ein sehr ambivalenter Blick auf Cardillac, der die Vergebungsapotheose am Schluss der Oper deutlich relativiert. Stirbt hier wirklich ein Held? Oder einfach ein irrer Mörder?

© Matthias Jung

Ausstatterin Katrin Nottrodt hat eine nahezu leere Bühne gewählt, deren zentrales Element eine bewegliche Wand ist, die mal Podium, mal angedeutete Dachmansarde ist und so einfache Räume erzeugt. Im Kontrast zu der sehr schlichten, ja minimalistischen Bühne stehen die umso detailverliebteren Kostüme, die in der Entstehungszeit des Werks angesiedelt sind. Einzig Cardillac passt sich optisch nicht an, stolziert im Ornat eines barocken Herrschers über die Bühne, eine Fassade, die im Laufe des Abends teils groteske Überspitzungen erfährt und am Ende komplett zerfällt. Diese so kluge wie einfache Ausstattung unterstreich den Ansatz, die Titelfigur in den Mittelpunkt von allem zu stellen, und erzeugt starke Bilder, die durch Videos im Stile von Metropolis die beklemmende Atmosphäre des Werks noch unterstreichen. Dass so ein Konzept hervorragend gelingt, ist aber in erster Linie dem Darsteller der Hauptfigur zu verdanken: Das Essener Ensemblemitglied Heiko Trinsinger erfüllt dieses so anspruchsvolle wie schauspielerisch fordernde Konzept voll und ganz. Neben einer enormen sängerischen Qualität überzeugt Trinsinger vor allen Dingen durch eine ergreifende Spielfreude, die den Wahnsinn der Titelfigur wirklich spürbar macht. Das ist so beachtlich wie es begeisternd ist, und so jubelt das Publikum für diese sensationelle Leistung am Ende des Abends vollkommen zu Recht. Der Sänger meistert alle Tücken dieser so schwierigen Partie, bleibt akkurat in der Diktion, nuanciert im Piano so fein, wie er es im Forte strömen lässt. Eine wirklich beachtliche Leistung!

© Matthias Jung

Überhaupt ist die musikalische Seite ausgezeichnet, denn auch alle weiteren Partien sind exzellent besetzt. Bemerkenswert ist sicherlich die so schwere Partie des Offiziers, die Andreas Herrmann mit strahlendem Tenor souverän singt – niemals wirken die teils teuflisch hohen Töne angestrengt, immer bleibt es kultiviert und angenehm im Klang. Dabei verlangt diese Partie wirklich viel, um gegen das große Orchester Hindemiths anzukommen. Mit Betsy Horne ist die Tochter ebenfalls ausgezeichnet besetzt. Die Sängerin verfügt über einen klangschönen, samtig weichen Sopran, der trotz der notwendigen Kraft eine emotionale Tiefe zeigt, die ihre Figur so zerbrechlich erscheinen lässt. Samuel Furnett als Kavalier meistert die etwas kleinere, aber dennoch anspruchsvolle Partie mit seiner wunderbar klingenden Tenorstimme ausgezeichnet. Als Dame ist Astrick Khanamyrian mit ihrer lodernden Tiefe und großer Sinnlichkeit eine ausgezeichnete Besetzung. Magnus Piontek füllt die Partie des Goldhändlers mit sonorem Bass. Mit solider schauspielerischer Darstellung in der kleinen Partie des Führers überzeugt André Nikoara.

Der Essener Opernchor meistert den kniffligen Chorpart souverän, auch wenn das offene Bühnenbild für die Klangentfaltung sicherlich nicht ideal ist. Kleine Koordinationsschwierigkeiten zwischen Graben und Bühne bleiben entschuldbar.

© Matthias Jung

Dirigent Patrick Lange manövriert die Essener Philharmoniker zufriedenstellend durch Hindemiths herausfordernde Partitur. Dabei fallen gerade Soli, wie etwa in der Flöten-Pantomime, immer wieder besonders positiv auf. Lange arbeitet die schroffen, kantigen, ja manchmal sperrigen Momente der Partitur heraus, erzeugt Fallhöhen und Dramatik, bleibt aber im großen, breiten Klang gelegentlich etwas undifferenziert.

Am Ende des Abends zeigt sich das leider etwas spärlich anwesende Publikum begeistert, und man muss diesem Abend mehr Zuschauer wünschen, denn zum einen ist Cardillac ein Werk, das es wirklich zu entdecken lohnt, so man es noch nicht kennt, und zum anderen ist die famose Leistung auf der Bühne wirklich sehens- und hörenswert.

Sebastian Jacobs, 20. Dezember 2025


Cardillac
Paul Hindemith

Aalto Theater Essen

Besuchte Vorstellung: 19. Dezember 2025
Premiere: 6. Dezember 2025

Inszenierung: Guy Joosten
Musikalische Leitung: Patrick Lange
Essener Philharmoniker

Trailer