Baden-Baden: „Don Giovanni“,Wolfgang Amadeus Mozart

Iván Fischers Ein-Mann-Feldzug gegen die 0pernregie-Mafia führt zu Don Giovanni light, Mozart und da Ponte werden weichgespült. Weil Iván Fischer genug vom handelsüblichen Regietheater auf den Opernbühnen hat, will er es anders machen. 1983 gründete er das Budapest Festival Orchestra gemeinsam mit seinem Freund, dem Pianisten Zoltán Kocsis. Das Ziel: „Singen mit deutlicher Deklamation und die reduzierte Lautstärke des Orchesters sollen das theatralische Element stärken.“ Ferner gilt: Regisseure fühlen sich nur verantwortlich für das, was wir sehen. Aber der Dirigent für das, was wir hören. Somit wird eine Trennung vollzogen. Wenn der Regisseur Musiker ist, geht er von einer Geschichte oder bestenfalls von einem Konzept aus. Beides kann richtig, oder richtig falsch sein. „Ich bin mehr vom Theater fasziniert, als von der Opernregie. Sie ist passé für mich.“ Der Verkauf der Opernplätze verlangt das Bekannte. „Um aber das Bekannte wieder spannend zu machen, um es zu verkaufen, braucht man die Regie. Aber sie ist und bleibt ein Fremdkörper.“ Iván Fischer (Jahrgang 1951) sagt: „Ich musste vierzig, fünfzig Jahre lernen, wie ich mit Oper umgehe. … Ich lebe auf einer Insel, mache meine Opernaufführungen, worin ich eine neue organische Einheit von Theater und Musik erstrebe – und das ist wunderbar.“

(c) Judit Horvath

Das also die Maxime von Iván Fischer und das Vademekum, mit ihm zu denken und interpretieren. So will er uns, seine Zuhörer und Zuschauer abholen und mitnehmen. Aber die Berichterstatterin reibt sich die Augen. Iván Fischer ist Schüler und Absolvent der Dirigentenschule des großen Hans Swarowsky in Wien. Welches Motto gab er seinen angehenden Dirigenten auf den Weg? Es steht alles in der Partitur! Oberstes Gebot: Es wird weder gekürzt, noch geändert, noch zugefügt. Am Inhalt und Sinn in der Noten wird nicht gerüttelt. Regie-Änderungen vergehen sich an der Oper. Der (österreichische) Kaiser Joseph II. hatte seine eigene Meinung zu dieser Oper. Nach der Uraufführung in Wien: „Die Oper ist göttlich, vielleicht noch schöner als der Figaro. Aber sie ist keine Speise für die Zähne meiner Wiener.“ Mozart sagte dazu: „Aber lassen wir ihnen Zeit zu kauen.“
Der neue (und bessere?) Don Giovanni des Iván Fischer scheint als Tiger gestartet und als Seicherl (das österreichische Wort abwertend Feigling, Muttersöhnchen) gelandet zu sein.
Von der Theorie nun endlich zur Handlung. Was geschieht auf den Brettern, die die Welt bedeuten? Primo: die Handlung: sie spielt im Verlauf einer (!) Nacht. Schlicht und ein wenig ordinär gefragt: hat Don Giovanni nun oder hat er doch nicht? Die Frage bewegt das ganze Stück und auch die Zuschauer.
Leporello, den Diener Don Giovannis gibt Luca Pisaroni, ein Baß-Bariton at it’s best – ein Sänger und Schauspieler von Mozarts Gnaden. Er muss vor dem Haus des Komturs (Krisztian Cser, ein seriöser schwarzer Baß) Wache stehen, während sich sein Herr (Don Giovanni ist André Schuen, ein Heldenbariton, sexy in Figur und Gesang) bei dessen Tochter Donna Anna (Maria Bengtsson, dramatischer Koloratursopran) eingeschlichen hat. Sie erwartet eigentlich ihren Bräutigam Don Ottavio (Bernard Richter, lyrischer Tenor). Sie ruft um Hilfe und verfolgt Don Giovanni, beide in Nachtgewand und Unterwäsche. Der Kontur erscheint und wird von Don Giovanni im Zweikampf getötet. Dieser kann unerkannt entkommen. Donna Anna und Don Ottavio schwören, den Tod des Vaters zu rächen. Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Donna Elvira (Miah Persson, jugendlich dramatischer Sopran mit Koloraturen) ist auf der Suche nach ihrem Geliebten, der sie nach der Liebesnacht verlassen hat. Sie trifft Donna Anna und Don Ottavio und warnt vor dem Verführer. Nun ist Donna Anna sicher, dass Don Giovanni der Mörder ihres Vaters ist.
Sekundo: Leporello macht sich lustig über seinen Herren und Elvira. Er stimmt die sogenannte Registerarie an, aber ohne das Register, einen Leporello in den Händen zu halten. Schließlich ist sein Name von diesem Notizbuch hergeleitet. Hier in Spanien hatte Don Giovanni 1003 Opfer, jeden Standes und jeglichen Aussehens. Luca Pisaroni ist als Leporello ein herrlicher Spielbaß. Er genießt die Situation, zeigt Donna Elvira aber alle Eroberungen seines Herren, so dass sie nur noch mit Wut und Verzweiflung singt. Sie ist in eine leuchtend rote Robe gehüllt (Kostüme Anna Biagiotti), ganz auf Rache und Vernichtung ausgerichtet. Es sind keine fließenden Bögen in der Stimme, ihre große Arie „Ah fuggi il traditor“ (Oh, flieh Betrogene, flieh) gelingt und bekommt auch Szenenapplaus.
By the way: Das Applausverhalten des Publikums ist sehr schlicht. Für die Sänger gab es lauen Szenenapplaus. Man schien die Oper nicht richtig zu kennen, die Arien sind ja Nummern, bei denen zu den Zwischenpausen der Dirigent mit einer Fermate den Beifall zulässt. Die Regie bewirkt, dass die glorreichen Sänger und Interpreten die Bühne schon verlassen, während sie die letzten Noten singen. Natürlich begann dann zum Schluss der Oper der übliche Orkan begann.
Don Giovanni der „Lustmolch“: „Verweist den Durst hinweg nach neuen Wonnen, Besitz erzeugt mir leere öde Trauer.“ (N. Lenau). Die Theatergeschichte schildert ihn als ungewöhnlich schönen Mann mit unwiderstehlichem, natürlichen Charme. So steht er auf einem barocken, von Andrea Tocchio entworfenen Podest weit entfernt von der Angebeteten Zerlina (Giulia Semenzato, Sopran, mit mädchenhafter Stimme und Kostüm.) Sogar Theodor Adornos Schwarm: „Sie ist keine Rokoko-Sängerin mehr,  aber auch noch keine Citoyenne.“ Ihr Anblick einfach eine Sünde wert, Don Giovanni  singt mit ihr das Verführungs-Duett „La cidarem da mano“ (Reich mir die Hand, komm auf mein Schloß zu mir.) Ein schönes Versprechen, für Zerlina das erste Mal als eine angebeteten Frau, verbunden mit dem Weg zum Schloss als Herrin. Keine körperlichen Übergriffe, einfach ein himmlisches Angebot für Zerlina, angebetet vom adeligen Herrn. Er ist durch und durch mit Charme und Degen, der vielversprechende Ehemann. Da sollte Zerlina nicht schwach werden. Und Masetto (Daniel Noyola), der bäuerliche potentielle Ehemann und Vorläufer des Bauernaufstandes? Man vergisst ihn einfach und Masetto hat das Nachsehen. Dafür und zum Lohn wird er noch schlimm von Don Giovanni verprügelt, aber Zerlina spendet ihm Trost „Bati, bati..“
Dieses Beispiel als pars pro toto, für alle misslich ausgehenden Zweierbeziehungen. Iván Fischer begreift den steinernen Gast als Symbol für uns alle. Wir verinnerlichen und halten Moral und Gesetze und wollen überdauern. Schon in der Ouvertüre geht es Fischer nicht wie bei Theodor Currentzis um pornografische Inhalte, die Phantasien eröffnen. Es gibt keine körperliche Gewalt und erotische Spannungen. Maske und Kostüm lassen an Casanova erinnern. Zur Champagner-Arie, ganz in Weiß und eben champagnerfarbig Donna Elvira (Miah Persson),trägt ein barockes Kleid mit Silberhaar gekrönt, wie früher einmal Elisabeth Schwarzkopf in dieser Partie.

(c) Judit Horvath

Luca Pisaroni gebührt da die Palme. Er ist Leporello in jeder Phase seines Körpers und Gewandes. Don Ottavio hat meist die schwächste Rolle zugeteilt. Aber Bernard Richter weiß zu singen und darzustellen. Und steigert sich von Arie zu Arie. Er singt die langen Bögen bis zu „Il mio tesoro“ und erreicht, auf dem Podest stehend, das Publikum. 1914 schrieb Schönberg an Scherchen: „Leidenschaft, das können alle, aber Innigkeit scheint den meisten Menschen versagt zu sein.“
Der Graben mit dem Orchester liegt hoch, so dass die Sänger sich oft über die Rücken der Musiker zu Gehör bringen müssen. Don Giovannis Mandolinenständchen vergeht fast im Pianissimo, auch die Mandoline trägt das Ständchen nicht.
Das Bühnenbild, zwei große kubische Würfel, einmal quadratischer und zum anderen rechteckig. minimal arts, einfach bestechend. Das weitere gesamte Bühnenbild: ein Tanz! Es ist das Tanzensemble der Iván Fischer Opera Company, ferner Studierende der Universität für Theater und Filmkunst Budapest mit ihrem Choreografischen Direktor Georg Asagaroff. Eine ungewöhnliche Leistung und Vorstellung, den Inhalt der ganzen Opa pantomimisch zu vertanzen. Alle Tänzer in hautfarbenen Trikots sind beeindruckend in ihrer Bewegung. Direkt eine Schule zuordnen kann man diese nicht – sie zeichnen und tanzen, auf ganzer und halber Spitze, drehen und springen wie die Erzählung es fordert.
Aber: Es fehlen der Chor, die Bauern und Bäuerinnen. Der Ball am Ende des ersten Aktes und der Chor zur „Liberta“: jeder einzelne der „dramatis personae“ singt „Viva la liberta“ und jeder definiert die Freiheit anders! Und schon wären wir bei dem Schlußsextett des zweiten Aktes: Fischer hat es einfach weggelassen, und der Oper ein „Ende offen“ gegeben, das geht einfach nicht! Es ist ein viel diskutiertes Problem der Aufführungspraxis: die Uraufführungen in Wien und Prag waren unterschiedlich, einmal mit, einmal ohne Sextett. Leporello singt: „Wahrhaftig, so war es.“ „Ja, die Zeit ändert viel“ (J. Nestroy, Der Talisman). Alle sechs überlegen, was sie tun wollen, wo man sich der Sache so glimpflich erledigt hat. Alle kehren sich um. The same procedure as every time! Donna Anna vertröstet abermals ihren Don Ottavio, Elvira will ins Kloster, Zerlina und Masetto gehen nach Hause, um zu essen, Leporello hat vor, sich im Wirtshaus nach einem neuen Herrn umzusehen. Zum Schluss wenden sich diese glücklich Davongekommenen noch einmal gemeinsam ans Publikum mit der sprichwörtlichen Sentenz: „Seht, so ergeht es einem, wenn man Böses tut. Denn wie man lebt, so stirbt man auch.“ Verwischt der Schluss dann die Logik des ganzen Stückes? Nein: der dramatische Höhepunkt ist der Auftritt des Komturs und Don Giovannis Höllenfahrt. Hier wird die Handlung durch die Musik überhöht. Die herkömmliche Funktion dieses Finalensembles ist die Wiederherstellung von Sicherheit und Heiterkeit des Lebens. Sie beginnt wie eine Fuge und wird zum dramatischen Schlussfurioso und einer musikalischen Stretta. Drama und Musik verbinden sich zur Oper, Alt und Neu, kontrapunktische Satzkunst und Mozartische Gedankenfülle stehen für die Klassizität des Stückes, beide zusammen proklamieren die Gültigkeit der Geschichte.
Es kommt zum Schluss. Ist das nun neue Oper? Sicher keine „Revolution“, wie Fischer vor seiner Reise sagt. Eine Merkwürdigkeit: der Schluss nach der Höllenfahrt des Don Giovanni. Der Vorhang fällt, und der orkanartige, aber kurze Beifall beginnt. Das Publikum beginnt heraus zu strömen und erwartet offensichtlich kein Schlußsextett. Kannten sie das Stück nicht in anderer Form, nicht mit dem Schlußsextett? Die Berichterstatterin hat in ihrem Opernleben von mehr als 70 Jahren in allen möglichen Städten der Welt nie eine andere als die vollständige Fassung gehört und gesehen. Es war einfach state of the art, die Aufführungspraxis der vergangenen Jahrhunderte.
So ist es musikalische Sünde eines Swarowski Schülers, dieses geniale Schlußsextett einfach zu streichen und so die Mozart-Partitur zu berauben. Hoffentlich ist das nicht sein Markenzeichen, falls Iván Fischer in den nächsten Jahren wieder nach Baden-Baden kommen sollte.

Inga Dönges, 24. Dezember 2025


Don Giovanni
Wolfgang Amadeus Mozart
Festspielhaus Baden-Baden

Premiere am 19. Dezember 2025

Regie: Iván Fischer

Musikalische Leitung: Iván Fischer
Budapest Festival Orchester