Buchkritik: „Oper in Bewegung. Europäisches Musiktheater vom Barock zur Romantik“, Reinhard Strohm

Es geht nicht etwa um das Thema „Bewegung in der Oper“, wie man aufgrund des Titels annehmen könnte, sondern um die fortwährende Veränderung der Gattung an sich in dem neuen Buch des Musikwissenschafters Reinhard Strohm. Er war viele Jahre Redakteur der Richard-Wager-Gesamtausgabe in München, dann Professor an renommierten britischen Universitäten in London und Oxford. Zweifellos ein ehrenwerter, hochbetagter Zeitgenosse (Jahrgang1942) und ein hochangesehener Wissenschaftler.

Sein 319 Seiten starkes Buch (das sich mit Anmerkungen, Literatur- und Textnachweisen empfiehlt) will nichts weniger und nicht mehr sein als eine Einladung zu gelehrten „Entdeckungsreisen in die Welt der Oper“ im Sinne der Vergegenwärtigung „durch geistige und manchmal auch physische Bewegung“.

Apropos: „Szenenwechsel und Kulissentheater waren in Europa eine Errungenschaft von Theaterarchitekten des 16. und 17. Jahrhunderts, die besonders dem Musiktheater zugutekam.“ Der Autor begründet die Behauptung damit, dass „die Musik selbst sich bewegen soll – und kann. Sie tut es nicht nur in ihrer sinfonischen Tendenz des Entwickelns und Fortschreitens von einer Harmonie zu anderen, sondern auch, indem sie tatsächliche Bewegungsvorgänge auf der Bühne beschreibt.“ Musik könne zudem „ganz unmittelbar ein Gefühl von körperlicher Bewegung vermitteln. Das lade zum Nachvollzug ein“. Auch die Lebenswege und Karrieren der Opernkünstlerinnen und Opernkünstler seien von je durch Mobilität gekennzeichnet gewesen, ganz so wie der Transport und der Austausch von Opern(-produktionen) mit Fortbewegung zu tun hätten.

Die Leser des Buches sind eingeladen, in 26 chronologischen Kapiteln bespielhaft die dramatische Entwicklung des europäischen Musiktheaters kennenzulernen. Die Publikation ist eine Reise durch die Welt der Oper im Zeitraum von 1598 bis 1835. Die Auswahl der Werke sei subjektiv, aber repräsentativ, wobei es manche Kapitel gebe, so bekennt Reinhard Strohm, die ursprünglich „für andere Auftraggeber“ (Programmhefte für verschiedene Theater oder wissenschaftliche Beiträge) verfasst worden seien.

Die Publikation versteht sich also als eine Art Kompilation verschiedenster Texte zur Oper und als Operngeschichte von Monteverdis „Orfeo“ bis zu Donizettis „Maria Stuarda“. Ein Kapitel über Opernübersetzungen beschließt das weitausholende Buch, das sozusagen das Profil seines Autors abbildet, seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte.

Man erfährt Grundsätzliches über spezifische Formen des Singens wie Arien und Rezitative, Stimmcharaktere, und über die Gattungen des Musiktheaters, ernste (Seria-) und heitere (Buffa-) Opern, Singspiele und spezifische Deutsche Gattungen von Musiktheater. Opernhelden und Opernmelodien sind Thema des Buches, aber auch der Kastratengesang und der Zusammenhang von Auftraggeber und Publikum

Ein Bogen wird gespannt von der Barockoper, die den Autor offenbar besonders beschäftigte, von Purcell, Albinoni, Händel, Vivaldi und Vinci über Porpora und Rameau bis hin zu Gluck und der Oper Mozarts, Rossinis und Donizettis.

Interessant ist das Kapitel über „Rituale in Mozarts letzten Opern,“ Rituale verstanden als „symbolische Handlungen“. In Mozarts letzten drei Opern dominieren, so der Autor, „drei ganz verschiedene Ritualarten. In der ‚Zauberflöte‘ ist Grundthema der Handlung ein Übergangsritual, in der ‚Clemenza di Tito‘ sind es Herrschertum und Zeremonie, in ‚Così fan tutte‘ zivile Schwüre und Verträge. Von diesen sind die ersten beiden Ritualarten auch in der Realität oft musikalisch ausgestattet, die Ietzte jedoch ist alltäglich und unmusikalisch. Bei den ersten beiden fragt man sich eher, wie die Handlung den Ritualvorgaben angepasst wird, bei letzterer, was die Musik aus ihnen machen kann.“

Von größerem Interesse, weil musikhistorisch außerordentlich aufschlussreich ist das Kapitel „Aufklärung in der Oper“, in der es um den wenig bekannten Komponisten Komponist Peter Winter geht und seine Oper „Das unterbrochene Opferfest“, eine „heroisch-komische Oper in zwey Aufzügen“, die am 14. Juni 1796 im Wiener Kärntnertortheater uraufgeführt wurde. Der Komponist (1754-1825, geadelt 1814) hatte seine Laufbahn in Mannheim und München als Geiger und Kapellmeister begonnen und seit 1778 in München Melodramen, Singspiele und deutsche Operetten vertont. 1791 bis 1793 war er in Italien am Teatro San Carlo in Neapel und dem Teatro San Benedetto in Venedig tätig. „Mit der Musik seiner deutschsprachigen Bühnenwerke scheint Winter eine prekäre Mitte zwischen Mozart und Beethoven einzunehmen“: Er schuf 1797 mit der Oper „Das Labyrinth oder Der Kampf mit den Elementen“ einen zweiten Teil der „Zauberflöte“. Das „unterbrochene Opferfest“ kam 1796 im Wiener Kärntnertortheater auf dieselbe Bühne wie Beethovens „Fidelio“ 1814.

„In Wirklichkeit bewegte sich Winter als Komponist eher zwischen dem Wien-Mannheimer Ignaz Holzbauer (1711-1783) und dem Veneto-Wiener Antonio Salieri (1750 -1815): Wie diese wollte er die italienischen und französischen Idiome der großen heroischen Oper, der Opera buffa und der Opera comique dem ursprünglich bescheideneren Areal des deutschen Singspiels anverwandeln. Hubers Libretto zum ‚unterbrochenen Opferfest‘ bedeutet die engste Annäherung an den aufklärerischen Liberalismus Frankreichs, die in diesen Jahren im Habsburgerreich möglich war. Entscheidend war für Huber die These vom Recht nichtchristlicher Kulturträger, als gleichwertige Menschen behandelt zu werden.“

Der katholischen Kirche war dieses Werk natürlich ein ebenso großer Dorn im Auge wie die freimaurerischen und aufklärerischen Hintergründe von Mozarts und Schikaneders „Zauberflöte“.

Die zentrale Frage, die Reinhard Strohm in fast allen Kapitels seines Buches bewegt, ist die, ob Oper Literatur sei. Dazu definiert der Autor den Begriff Literatur: „Der Literaturbegriff ist heute vom Sockel heruntergestiegen und betrifft alles sprachlich Verfasste: Drama, Lyrik, Kinderlied, Nachrichten, Filmdialog, Werbung und somit auch Operntexte.“

Oper hat literarische Vorlagen vieler Gattungen und Stile begierig aufgeschluckt: „klassisches Drama (Shakespeare, Schiller, Goethe), Tragödie (Macbeth, Die Bassariden), Komödie (Figaro, Barbier, Falstaff), dramatische Legende (Pelléas und Mélisande). Mythen und Epen wie die von Orpheus und Eurydike, Iphigenie, Orlando, Armida standen von Alters her im Bücherschrank; Freischütz, Ruslan und Ludmilla, Der Ring des Nibelungen wurden vermeintlichem Volksgut nachempfunden. Die Romantik liebte historische Aktionen: Guillaume Tell, Les Huguenots, Zar and Zimmermann. Verserzählung, Novelle und Roman fanden sich öfter auf der Opernbühne wieder als im Sprechtheater: Eugen Onegin, Hoffmanns Erzählungen, Candide. Playwrights schrieben selbst Libretti: Philippe Quinault (Alceste], Pierre Beaumarchais (Tarare), Bertolt Brecht (Mahagonny); dasselbe taten Komponisten wie Richard Wagner, Arrigo Boito, Ernst Krenek. Operntexte und ihre Übersetzungen sind multinationale Literatur“

Der Begriff der „Literaturoper“ des 20. Jahrhunderts meint im engeren Sinn einen (fast) unverändert als Oper vertonten Dramentext, im weiteren Sinne eine Oper, die sich zu ihrer literarischen Herkunft bekennt. „Aber im weitesten Sinn war Oper immer schon Literaturoper…Librettodichtung galt allzu lange als zweitrangige Literaturform gegenüber der höheren Sprachkunst des Dramas. In mehrfacher Hinsicht wurde sie abgewertet…Die Oper wehrte sich gegen die Geringschätzung, nur eben falsch: Zuerst eiferte sie der Sprachtragödie nach, dann wurde ihr literarischer Stil immer gestelzter bis hin zu den ‚sacri bronzi‘ (Kirchenglocken) des italienischen Melodramma und zu Wagner’schem Wortbombast. Barocke Librettisten waren meist Amateurdichter oder Hofpoeten. Sie dachten viel an ihre Leser, selten an die Sänger, kaum je an die Zuschauer. Erst Pietro Metastasio (1698-1782) verstand es, den Wortklang seiner Arienverse dem Gesang anzupassen. Das war nicht nur zweckgemäß, sondern begründete auch eine neue Identität von Operndichtung. Oper ist aber nicht nur als Text Literatur, sondern will es auch als Gesang sein: Literatur zum Hören. Sie ist das ‚Kraftwerk der Gefühle‘ und trägt die Gefühle sozusagen unter Hochdruck vor. Wort, Musik, Bild und Aktion dienen zusammen diesem erhöhten Ausdruck. Sollte man dieses Ganze dann nicht ‚Literatur‘ nennen? La Musica stellte im Prolog von Monteverdis ‚Orfeo‘ bereits 1607 fest: ‚Ich entflamme die Gemüter. Ich erzähle euch Orfeos Geschichte.‘ Oper ist Literatur, die von Musik erzählt wird.“

Dieter David Scholz, 23. Dezember 2025


Reinhard Strohm: Oper in Bewegung
Europäisches Musiktheater vom Barock zur Romantik

Bärenreiter 2025, 319 Seiten