3. Februar 2022
Semperoper Dresden
Matthias Pintscher dirigiert bei der Staatskapelle Anton Webern; Mattias Pintscher und Sergej Rachmaninow.
Der Capell-Compositeur der Sächsischen Staatskapelle Dresden der Saison 2021/22 Matthias Pintscher, geboren im Jahre 1971, war im Semperbau bereits vor dieser Verpflichtung kein Unbekannter. Seinen nach dem Drama Hans Henny Jahnns gestalteten hochemotionalen Opern-Erstling „Thomas Chatterton“ hatte er als 27-Jähriger 1998 im Hause mit großem Erfolg zur Uraufführung gebracht.
Bedingt durch die Pandemie-Umstände bedurfte es der Zeit bis zum Februar 2022, dass sich der inzwischen Einundfünfzigjährige in einem Sonderkonzert als Komponist und Dirigent dem Dresdner Publikum vorstellen konnte.
Für seinen Dresdner Neuanfang brachte Matthias Pintscher sein neuestes Orchesterwerk „
Neharot“ für die Deutsche Erstaufführung zur Staatskapelle mit. Neharot, steht im Hebräischen für Flüsse, aber auch für Tränen.
Das Orchesterwerk ist im Frühjahr des Jahres 2020 in New York unter dem Eindruck der ersten Welle der Corona-Pandemie als „ musikalische Reflexion der Verwüstung und Angst, aber auch der Hoffnung auf Licht, die diese Zeit unseres Lebens so emotional geprägt hat“ entstanden.
Unter dem Eindruck des Eingesperrtseins im März 2020 und als Hommage an die Opfer des Covid war ein Totengebet, ein „Kaddisch“, mit weichen Fragmentierungen musikalischer Elemente entstanden.
Der unmittelbare Anlass für die Komposition führte folgerichtig auch zu einem für Matthias Pintscher nicht unbedingt typischen Werk.
Die Musik entwickelte sich fast zögerlich in auf- und abschwellenden Wellen der Blechbläser und Perkussionen, in die fast vorsichtig die Streicher, vor allem die tieferen Instrumente Celli und Kontrabass, eingreifen. Bis sich dann mit einem Hornruf explosionsartig eine wütende Energie des Orchesterklangs entwickelte, um nach einem Trompetensolo mit den Bassinstrumenten auszuklingen.
Faszinierend, wie sich da Klangwellen regelrecht durch das Orchester bewegten, interessante neue Tonstrukturen entstanden und beeindruckende Halleffekte zu hören waren.
Das Dirigat des eigenen Werkes für ein Publikum, das die Zeit der ersten Pandemie-Welle in Sachsen noch relativ entspannt erlebte, dann aber von der Pandemie massiv belastet war, von einem gleichsam gebeutelten Orchester dargeboten, brachte die deutsche Uraufführung der Totenklage für alle Beteiligten schon eine emotionale Herausforderung.
Eingerahmt war das zentrale Werk des Capell-Compositeurs mit Kompositionen von Anton Webern (1883-1945) und
Sergej Rachmaninow (1873-1943).
Anton Webern, in Wien als Anton Friedrich Wilhelm von Webern geboren, ist von den Großen der so genannten Zweiten Wiener Schule derjenige, der ab der 1920-Jahre aus der Zwölftontechnik seines Lehrers Arnold Schönberg mit seiner äußersten Komprimierung der musikalischen Strukturen die radikalsten Konsequenzen gezogen hatte.
Die Idylle für großes Orchester „Im Sommerwind“ war aber bereits 1904 nach der gleichnamigen Dichtung von Bruno Wille (1860-1928) entstanden. Wille hatte das Gedicht einem Band seines „Offenbarung eines Wacholderbaums-Roman eines Allsehers“ vorangestellt, in dem Kontraste des Lebens in der Natur thematisiert waren.
Der junge Komponist sparte nicht mit musikalischen Einfällen und Gestaltungsreichtum. Aber es gibt lange Generalpausen und exzessiv ausgedehnte Einzeltöne, die die Spannung der späteren Werke des Komponisten vermissen lassen.
Matthias Pintscher ließ die Musik regelrecht aus dem Nichts entstehen, bevor er den brillanten Streichern im Wechsel mit den hervorragenden Bläsern des Orchesters breiten Raum für das zwölf-Minuten-Werk gab, so dass die ungestümen Taktwechsel ordentlich zur Wirkung kamen.
Nach dem publikumswirksamen, unfertigen Frühwerk Weberns und der emotionalen anlassbezogenen Komposition Mattias Pintscher s schloss das Konzert mit einem reifen Spätwerk Rachmaninows „Symphonische Tänze“ op. 45.
Sergej Rachmaninow, auf einem Landgut im Gouvernement Nowgorod geboren und in Russland ausgebildet, war eigentlich weltläufig unterwegs gewesen. Mit seiner Familie wohnte er 1906 längere Zeit in Dresden, erfreute sich an den barocken Schönheiten und nahm am vielfältigen gesellschaftlich-kulturellen Leben der Stadt, aber auch Leipzigs, teil. Für den Komponisten war das Pflaster der Stadt fruchtbar, denn hier entstanden unter anderem seine zweite Symphonie, eine Klaviersonate d-mol und die symphonische Dichtung „Die Toteninsel“.
Ein Kuriosum: der Hausbesitz eines „Eigentümers Sergej Rachmaninow mit Wohnsitz New York“ wurde erst 1990 aus dem Grundbuch der Stadt getilgt.
Im Dezember 1917 brach er von Moskau aus zu einer Konzertreise nach Schweden auf, kehrte aber nie in sein Heimatland zurück.
Als Rachmaninow 1940 in den Vereinigten Staaten auf Long Island lebte, war er bereits krank und schöpferisch ausgelaugt. Trotzdem hoffte er die frühere Partnerschaft mit dem Ballettmeister Michael Fokin (1880-1942) weiterführen zu können. Deshalb griff er auf eigenes Material, eine 1915 unvollendete Ballettmusik „Die Skythen„ zurück, um mit den Erfahrungen von 25 Jahren Kompositions-Handwerk aus den Entwürfen als sein letztes vollendetes Werk eine Bilanz seines Lebens zu schaffen.
Rachmaninow s Erwartung, seine „Symphonischen Tänze“ auf der Ballettbühne erleben zu können, erfüllten sich wegen Fokin s Versterben nicht.
Die Partitur des Opus 45 sieht eine außergewöhnlich große Orchesterbesetzung und als Besonderheit ein Altsaxophon vor. Dabei war weder eine Ballettmusik noch eine Symphonie entstanden. Die drei Sätze hatten ursprünglich die Bezeichnungen „Mittag“, „Abenddämmerung“ und „Mitternacht“.
Es wird berichtet, dass der Komponist selbst während der Proben zu einer Aufführung des Minneapolis Symphony Orchestra die Satzbezeichnung des „Non Allegro“ als Druckfehler definiert habe und das „Non“ ausstreichen ließ. Deshalb findet sich in den Konzertprogrammen die Satzbezeichnung häufig mit „(Non) Allegro“.
Matthias Pintscher ließ das Orchester das Werk keinesfalls tänzerisch spielen. Der erste Satz wies eher Anklänge an eine Marschmusik auf, während sich beim Hören des Andante con moto, des 2. Satzes, Bilder aufdrängten.
Im dritten Satz orientiert sich die Komposition fast ausschließlich auf den Gregorianischen Hymnus „Dies irae“, dem Tag des Zorns, gestaltet das „Lento assai“ wenn nicht das gesamte Werk zur Totenklage.
Matthias Pintscher baute mit der Sächsischen Staatskapelle eine faszinierende Spannung zwischen einer wilden Orgie, Bildern russischer Weiten und niederdrückender Todessehnsucht auf.
Irritierend am Konzert war das mäßige Interesse der Dresdner Musikfreunde an der Vorstellung des Capell Compositeurs der Sächsischen Staatskapelle. War das Konzert mit Werken unterschiedlicher Stilrichtungen doch eine Demonstration der Fülle der Möglichkeiten des Orchesters, seinen prachtvollen Klang und die exzellenten Leistungen seiner Solisten im Zusammenwirken mit dem Gastdirigenten Mattias Pintscher zu erleben.
Autor der Bilder: Sächsische Staatskapelle © Oliver Killig
Thomas Thielemann, 4.2.2022