Premiere: 02.10.2022, besuchte Vorstellung: 12.10.2022
Heute ins Theater oder ins Kino? – Beides!
Die Deutsche Oper am Rhein präsentiert in dieser Spielzeit eine Neuinszenierung des fliegenden Holländers, deren Ankündigung den ein oder anderen Wagnerfreund im Vorfeld vielleicht zusammenzucken ließ. Aktuell ist es offenbar im Trend der Zeit, die bekannte Oper aus Sicht der Senta zu beleuchten, erst vor wenigen Wochen feierte im Theater Mönchengladbach eine ähnlich angelegte Inszenierung der Oper ihre Premiere. Im Mittelpunkt der Handlung steht also nicht die verlorene Seele des Holländers, vielmehr ist er in diesem Fall lediglich Projektionsfläche für Sentas Träume.
Regisseur Vasily Barkhatov, der sich bei der Inszenierung des Holländers 2013 in St. Petersburg vor allem mit der Figur des Fliegenden Holländers beschäftigt hat, hat sich für die Deutsche Oper am Rhein nun auf Sentas Spuren begeben. Gleich zu Beginn des Abends lernt das Publikum die junge Senta kennen, die mit ihren Eltern in eine Kinovorstellung vom „Fliegenden Holländer“ geht. Schnell ist klar, ein intaktes Familienleben gibt es hier nicht. Statt sich auf den Film zu konzentrieren, flirtet die Mutter lieber mit anderen männlichen Kinobesuchern. Senta fasziniert der Film dafür umso mehr. Immer und immer wieder geht sie in ein und denselben Film. Begleitet wird sie hierbei durch den Opernbesucher, der durch die Kinoleinwand in den Saal schaut. Gleich hier begeistert das Bühnenbild von Zinovy Margolin zum ersten Mal, was sich während der folgenden rund 135 Minuten, gespielt wird die Fassung ohne Pause, noch öfter einstellt. Bei dieser Inszenierung gibt es auch für das Auge wahrlich einiges zu entdecken, ohne dass es vom eigentlichen Geschehen ablenkt. Im Gegenteil. Das Bühnenbild, die Kostüme (Olga Shaishmelashvili), das Licht- und Videodesign (Alexander Sivaev) und die Inszenierung entwickeln im Zusammenspiel mit der Musik fast einen Rausch, bei dem die Zeit wie im Fluge vergeht. Bemerkenswert auch mit welcher Detailverliebtheit beim Inszenierungsteam gearbeitet wurde, was sich beispielsweise bei der Kontrolle der Eintrittskarten zum Kinosaal zeigt.
In ihrer Flucht vor dem waren Leben durchbricht Senta mit Beginn des ersten Aktes die Leinwand und träumt sich quasi in die Geschichte hinein. Durch diesen geschickten Schachzug ist es möglich, dass Senta bereits hier im Mittelpunkt steht, obwohl sie in der Oper ja erst viel später ihren ersten Auftritt hat. Zum zweiten Akt wechselt die Geschichte dann in die Gegenwart. Wir befinden uns nun in einer Zwitter-Umgebung aus dem Vorraum des Multiplexkinos und einem Food-Court in einem größeren Shopping-Center. Senta lebt nun mehr denn je in ihrer eigenen Welt und ihr Vater Daland möchte sie durch eine Art Konfrontationstherapie „heilen“. So engagiert er den Darsteller des Holländers aus dem Film, damit dieser Senta nun im wahren Leben begegnen und sie anschließend verlassen könne. Auf diese Weise so hofft Daland, würde Senta von ihrem abgöttisch geliebten Idol ablassen können. Gelungen skizziert Barkhatov hier ein typisches Fan-Verhalten, welches er dann später mit dem als Fussballfans auftretendem Männerchor fortsetzt. Gelungen auch die Darstellung der Gesellschaft rund um Senta in der Spinnrad-Szene, in der sich alle Mütter nur mit dem eigenen Handy beschäftigen und als gleichförmige, fast auch etwas gleichgültige Gesellschaft einen starken Gegenpart zur stark individuell geprägten Senta bilden.
Auch musikalisch kann der Opernabend überzeugen. Die Duisburger Philharmoniker zeigen unter der musikalischen Leitung von Patrick Lange eindrucksvoll den Wechsel zwischen den kraftvollen Passagen und der doch noch vorhandenen Leichtigkeit in Wagners Frühwerk. Stellenweise agiert das Orchester fast in der Form eines Singspieles mit extremer Zurückhaltung gegenüber den Sängern um dann im richtigen Moment mit voller Wucht aufzuspielen. Mit Gabriela Scherer als Senta und James Rutherford als Holländer wurden zwei Künstler für die beiden Hauptrollen verpflichtet, die den großen Applaus und zahlreiche „Bravo“-Rufe am Ende des Abends zu Recht entgegennehmen dürfen. Bemerkenswert auch die Darstellung des Daland durch Hans-Peter König, der wiedermal mit großer Textverständlichkeit und akkuratem Gesang überzeugen kann. Überzeugend auch David Fischer als Steuermann mit seinem lyrischen Tenor. Abgerundet wird die Besetzung durch Norbert Ernst als Erik und Susan Maclean als Mary. Eine weitere Hauptrolle nimmt bei dieser Oper natürlich der Chor der Deutchen Oper am Rhein ein, der unter der Leitung von Patrick Francis Chestnut trotz Corona-Schwächung an diesem Abend stimmgewaltig und harmonisch agiert.
Ein besonderes Lob auch an das Publikum in Duisburg, dass sich an keiner Stelle zu einem Zwischenapplaus hinreißen ließ und sich jeglichen Applaus bis ganz zum Ende aufhob. Erst als sich Senta, nun sichtlich gealtert und in den Mantel des Holländers gehüllt, erneut einsam in ihren Kinosessel zurückzog und das letzte Licht erloschen war, setzte großer Jubel der recht zahlreich anwesenden Zuschauer ein.
Markus Lamers, 13.10.2022