Premiere: 17. Oktober 2020
Wenn in Monteverdis „L´Orfeo“ der Tanz eine große Rolle spielt und sich ein Choreograph des Stückes annimmt, so ist das nicht Neues. Schon 1967 brachte Erich Walter in Duisburg eine Ballett-Version in der Oper heraus. In den letzten Jahren präsentierten Sasha Waltz (Amsterdam/ Staatsoper unter den Linden) und Nanine Linning (Niederländische Reiseoper) ihre getanzten Inszenierungen der Monteverdi Oper. In Gelsenkirchen wollte man jetzt ein großes spartenübergreifendes Corona-Projekt auf die Bühne bringen: Opernensemble, Dance Company und Puppentheater warfen ihre Kräfte in eine Inszenierung, die einen am Ende aber eher gelangweilt und ratlos zurückließ.
Als szenischen Rahmen lässt Ausstatterin Rebekka Dornhege Reyes die Bühne nach hinten mit mehreren schwarzen Plastikplanen begrenzen. Über der Bühne schwebt ein weißes Rechteck, auf das Wolkenbilder projiziert werden. Optisch dominierend ist die von Giuseppe Spotta choreografierte MIR Dance Company, die mit 15 Akteuren beteiligt ist, während sich die 18 Gesangssolisten auf Galerien auf der Seitenbühne befinden. Spotta lässt seine schwarzgekleidete Compagnie selten synchron tanzen und seine Choreographie korrespondiert wenig mit Monteverdis Musik. Überraschend ist zudem, dass zwar auf Abstand getanzt wird, die Compagnie aber während der ganzen Vorstellung Mundschutz trägt. Viele Szenen wirken zudem gezwungen originell. Zum Hochzeitsfest wirbeln und werfen die Tänzer lebensgroße weiße Stoffpuppen umher. Soll damit Gewalt gegen Frauen thematisiert werden? Wenn Orfeo versucht den Fährmann Caronte in den Schlaf zu singen, dann stapfen die Tänzer mit wassergefüllten Gummistiefeln über die Bühne. Am Ende der Szene tragen sie die Gummistiefel über den Armen und winden sich am Boden. Nach dieser Szene ist der Bühnenboden so durchnässt, dass der Tanz regelmäßig unschöne Quietschgeräusche erzeugt. Euridice ist in dieser Inszenierung hauptsächlich als Holzpuppe präsent. In Ihrem ersten Auftritt wirkt es so, als würde Orfeo an unsichtbaren Fäden ziehen und die Puppe zum Leben erwecken. Diese Marionettenthematik mit einer angedeuteten Abhängigkeit der Puppe von ihrem Schöpfer spielt in der Personenführung für die Regisseurin Rahel Thiel aber sonst keine Rolle. Ärgerlich ist es, wenn Euridices Tod mit einer gut 30 cm großen Minipuppe im Schein einer Taschenlampe nachgespielt wird. Wie soll man das im 2. Rang noch erkennen können?
Für die musikalische Leitung hat man sich mit Werner Ehrhardt einen Spezialisten für Alte Musik engagiert, der ein 20-köpfiges Ensemble mit vielen historischen Instrumenten leitet. Die Aufführung plätschert aber meist schwunglos vor sich hin. Die Ritornelle blühen nicht richtig auf, sondern wirken wie Füllmaterial. Die lyrischen Gesangsszenen entwickeln wenig Spannung und die großen Chöre verwackeln permanent, weil die Gesangssolisten, welche auch die Choraufgaben übernehmen zur Hälfte auf den beiden Seitenbühnen positioniert und räumlich zu weit voneinander entfernt sind. Der Orfeo wird sonst mit einem Bariton besetzt, welcher die Titelpartie zu einem zupackenden Problemlöser macht. In Gelsenkirchen macht der Tenor Khanyiso Gwenxane den Orfeo zu einem verträumten Philosophen, der zwar schön singt, aber weitgehend unbeteiligt an dem eigenen Schicksal wirkt.
Mit viel Energie stürzt Mezzosopranistin Lina Hoffmann jedoch in ihren kurzen Auftritt als Botin. Da erlebt man Feuer und Leidenschaft für eine Rolle, die bloß berichtet, was hinter der Szene passiert ist. Stimmlich beeindruckend ist die sonore Basswucht, mit der Michael Heine den Fährmann Caronte singt. Eine kurzen, aber prägnanten Auftritt hat Bariton Piotr Prochera als Gott Apollo. Da fragt man sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Prochera und Gwanxane ihre Rollen getauscht hätten?
Insgesamt erlebt man in Gelsenkirchen ein stark schwächelnde „L´Orfeo“-Produktion. Vom Publikum gibt es trotzdem viel Jubel. Das kann daran liegen, dass das Publikum seine Solidarität mit dem von Corona gebeutelten Haus bekunden möchte. Dieser „L´Orfeo“ ist schließlich die erste große Opernproduktion seit Februar und vier Tage vor der Premiere wurde Gelsenkirchen zum Corona-Risikogebiet erklärt, was dazu führte, dass das Platzkontingent weiter eingeschränkt wurde. Gerade einmal 200 Zuschauer dürfen die Premiere miterleben. Vielleicht hört man bei Schlussapplaus aber auch deshalb viel Jubel, weil die Tänzer auf der Seitenbühne lautstark die singenden Kollegen feiern.
Rudolf Hermes, 18.10 2020
(c) Bettina Stöss