Schostakowitsch meets Aldous Huxley
Tscherjomuschki ist ein Stadtteil Moskaus im Südwestlichen Verwaltungsbezirk mit 102.619 Einwohnern (14. Oktober 2010) auf einer Fläche von 463 ha. 1956 begann hier die Bebauung mit fünfstöckigen Häusern in Plattenbauweise (Chruschtschowka), ab 1958 waren die ersten Häuser im ehemaligen Datschenvorort außerhalb des Eisenbahnrings bezugsfertig. Dem Muster von Tscherjomuschki folgten bald weitere Moskauer Mikrorayons wie Chimki-Chowrino, Mosfilmowski und Tschertanowo. Chruschtschowkas wurden auf Gutheißen Nikita Sergejewitsch Chruschtschows (daher auch der Name) für das einfache Volk in Städten und Siedlungen städtischen Typs massenweise errichtet, um Wohnungsknappheit möglichst kostensparend und schnell zu beseitigen. Anfangs galt der neue Wohnraum noch als begehrt, da eine eigene Wohnung – egal welcher Qualität – für einen einfachen Sowjetbürger jener Zeit noch eine Rarität darstellte.
Vor diesem Hintergrund komponierte Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch in der kurzen Tauwetter-Periode nach der von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow eingeleiteten „Entstalinisierung“ die musikalische Komödie „Moskau, Tscherjomuschki“ nach einem Libretto von Wladimir Mass und Michail Tscherwinski und nahm satirisch Propaganda, Baumängel, Korruption, Funktionärsgehabe und Neid aufs Korn.
Mit dem ursprüngliche Libretto, in dem durch einen Hauseinsturz sowohl „Sascha“ und Mascha Bubenzow als auch Semjon Baburow und seine Tochter Lidotschka plötzlich Anspruch auf Wohnungen in den soeben errichteten Neubauten im Vorort Tscherjomuschki haben, dort aber „Fedja“ Drebednjow den bestechlichen Hausverwalter Afanassi Barabaschkin angewiesen hat, die Trennwand zur benachbarten Wohnung zu durchbrechen, um für sich und Wawa vier Zimmer statt der üblichen zwei in Anspruch nehmen zu können, wodurch die Lidotschka und ihrem Vater zustehende Wohnung plötzlich nicht mehr existiert, braucht sich an dieser Stelle niemand zu „belasten“, denn „das will heute niemand mehr sehen“, so Regisseur Dominique Horwitz. Stattdessen macht er Anleihen bei dem 1932 erschienenen dystopischen Roman „Brave New World“ von Aldous Huxley, der neben George Orwells „Nineteen Eighty-Four“ als ein Musterbeispiel einer totalitären Diktatur in der Literatur gilt. Damit werden Oberstufenschüler im Englischunterricht „traktiert“, stellt sich also die Frage, ob das jemand sehen möchte. Mangel an bezahlbarem Wohnraum gibt es in Deutschland übrigens aktuell zur Genüge, womöglich nicht in Weimar, aber in allen Großstädten und Ballungsräumen. Das Thema als antiquiert abzutun könnte Betroffenen wie Hohn erscheinen…
Der Regisseur verlegt „Moskau, Tscherjomuschki“ am MiR in eine Spielzeugfabrik und einen Schlafsaal und deutet Tscherjomuschki als Metapher für einen Raum, an dem alle Wünsche in Erfüllung gehen sollen: „Tscherjomuschki, wie wunderbar das Faulbeerbäumchen blüht! Es werden alle Träume wahr für jeden der hier lebt!“ Wenn man es nur oft genug vorgebetet bekommt, glaubt man womöglich daran. Mit seiner Inszenierung thematisiert Dominique Horwitz Verlust von Individualität, totale Überwachung und Manipulation. Im Morgengrauen treten die ArbeiterInnen in der Produktionshalle der Spielzeugfabrik an, und nachdem sie mit einer Pille (die Droge Soma aus „Brave New World“, die bedauerlicherweise nur an Arbeiter auf der Bühne verabreicht wird, für die Zuschauer im Auditorium aber nicht) versorgt wurden, die stimmungsaufhellend wirkt, und die kollektive Morgengymnastik absolviert haben, kann die Spielzeugproduktion beginnen. Diese wird lediglich durch die enervierende Fabriksirene und aus dem Off eingespielte sozialistische Parolen gestört, mit denen Dominique Horwitz versucht, auf der Bühne allgegenwärtig zu sein, selbst wenn er nicht persönlich auf der Bühne steht.
Als „Höhepunkt“ des ersten Teils lässt der Fabrikchef Fjodor Michailowitsch Drebednjow seine Frau Wawa, die ihm zuvor Widerworte gegeben hat, von der Produktionsleiterin und den Vorarbeitern misshandeln und vergewaltigen. Zum „Feierabend“ gibt es in der Produktionshalle eine Hörspieleinspielung, wer aufmerksam zuhört, wird darin Teile des ursprünglichen Librettos wiedererkennen, und wiederum die stimmungsaufhellende Pille, mit der sich die ArbeiterInnen in ihrer Freizeit in dem viel zu kleinen Schlafsaal unter der Fabrik der schönen Illusion ihrer Träume hingeben, in denen Spielzeug plötzlich lebendig wird, Frauen zu Burgfräuleins und Männer zu tapferen Rittern werden, die in ihrer Rüstung Drachen besiegen. An dieser Stelle wird die „Operettenrevue“ als lockere Aneinanderreihung von Einzeldarbietungen ohne durchgehenden Handlungsstrang ihrem Namen gerecht, bei denen sich Solodarbietungen und Tanzensembles abwechseln. Doch dann ertönt schon die enervierende Fabriksirene und ein neuer Arbeitstag in der Fabrik beginnt – ein Tag wie der vorherige zu Beginn der Aufführung.
Bühnen- und Kostümbilder Pascal Seibicke hat für „Moskau, Tscherjomuschki“ die düstere Produktionshalle und den für die vielen Arbeiter viel zu engen Schlafsaal entworfen, der auf einem Hubpodium auf den sichtbaren Bühnenraum angehoben wird und mit einer Treppe mit der Produktionshalle verbunden ist. Die Arbeiter ziehen in der Spielzeugfabrik orangefarbene Overalls an, die wie in einer Kaue von der Decke herabgelassen werden und wie man sie als Gefängnisbekleidung in Guantanamo kennt. Abwechslungsreich und phantasievoll sind dagegen die Kostümentwürfe im zweiten Teil der Operettenrevue ausgefallen, in der sich die ArbeiterInnen in ihren nächtlichen Träumen in Burgfräuleins und tapfere Ritter verwandeln und Ballerinas und Zinnsoldaten Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Ballett „Der Nussknacker“ parodieren (Choreografie Rachele Pedrocchi).
Die Neue Philharmonie Westfalen bringt Dmitri Schostakowitschs eingängigen, viele Elemente der Unterhaltungsmusik streifenden Melodien mit diversen musikalischen Zitaten wie die „Moskauer Nächte“ unter der Musikalischen Leitung von Stefan Malzew – von 2001 bis 2015 Chefdirigent der Neubrandenburger Philharmonie – fulminant zu Gehör, für mein Empfinden bisweilen ein wenig zu bombastisch.
Konsequenterweise kommt in der Gelsenkirchener Produktion dem Opernchor des Musiktheater im Revier (Ltg. Alexander Eberle) beinahe die Hauptrolle zu, der nahezu während der gesamten Aufführung auf der Bühne präsent ist und zusammen mit den Gesangssolisten zu einem konformen Ensemble verschmilzt.
Dennoch ragen einige Solistinnen und Solisten und Mitglieder des Jungen Ensembles am MiR gesanglich heraus: Hier sind Rolf A. Scheider und Anke Sieloff als Alexander Petrowitsch und Mascha Bubenzow zu nennen, die sich in einem romantischen Duett sehnsüchtig eigene vier Wände mit eigenem Klingelschild an der Wohnungstür erhoffen, Piotr Prochera und Bele Kumberger als Boris Koretzki und Lidotschka Baburov, die insbesondere im zweiten Teil als Ritter und Burgfräulein auf sich aufmerksam machen können, sowie Zhive Kremshovski und Lina Hoffmann aus dem Jungen Ensemble am MiR als Fabrikchef Fjodor Michailowitsch Drebednjow seine Frau Wawa, die sich angesichts ihres nicht erscheinenden Chauffeurs ein überaus überzeugendes, wutentbranntes Duett liefern, in dessen Folge Wawa schließlich misshandelt und vergewaltigt wird.
Urban Malmberg darf als Semjon Semjonowitsch Baburow als einziger Darsteller tatsächlich auf Russisch singen; ursprünglich war die Rolle mit Publikumsliebling Joachim Gabriel Maaß besetzt, der aber in der laufenden Spielzeit mit seinen diversen Engagements in anderen Produktionen am MiR bereits gut zu tun hat. Petra Schmidt und Adrian Kroneberger als Ljusja und Sergej Gluschkow sollen an dieser Stelle mit ihrem Duett „Liebe ist ein Stern“ in der Traumsequenz nicht unerwähnt bleiben. Sieben TänzerInnen komplettieren als Gäste das Ensemble. Als Vorarbeiter/Aufseher verhalten sie sich in der Produktionshalle zumeist eher unauffällig, wirklich grandios ist ihr Auftritt in der bereits erwähnten Parodie auf das Ballett „Der Nussknacker“.
Nach etwa 140-minütiger Premiere wurden die Akteure auf der Bühne und das Kreativteam mit langanhaltendem Applaus bedacht. Wer sich mit der Inszenierung überhaupt nicht anfreunden konnte, hatte das Große Haus bereits zur Pause verlassen. „Moskau, Tscherjomuschki“ steht mit insgesamt acht Vorstellungen bis 31. Mai 2018 am Musiktheater im Revier auf dem Spielplan.
Detlef Nickel 5.4.2018
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