Dessau: „Don Giovanni“, Wolfgang Amadeus Mozart

Don Juan ist eine der interessantesten Figuren des Welttheaters, ein erotischer Mythos, geboren aus dem Geist des spanischen Katholizismus, der Prototyp der sexuellen Maß­losigkeit und der zynischen Verachtung aller gesellschaftlichen Tabus. Der spanische Dichter Tirso de Molina mit dem Drama „Der Betrüger von Sevilla und der steinerne Gast“ hat dem Mythos einen Namen gegeben, dem Mythos vom größten Frauen­verführer aller Zeiten, dessen Leibes- und Lebensenergie auch nach hunderten von Jahren nicht an Attraktivität und Faszination verloren hat. Er hat das neuabendländische Menschenbild geprägt wie sonst wohl nur noch der Faust-Stoff. Weit mehr als fünfhundert Mal wurde der Stoff nach Tirso bearbeitet. Mozarts und Da Pontes „dramma giocoso“ „Don Giovanni“ – uraufgeführt im Prager Nostizschen Nationaltheater 1787 – war die vierunddreißigste Gestaltung des von Tirso de Molina als Drama in die Welt gesetzten Stoffes. Ein Evergreen auf den Opernbühnen bis heute. Doch kaum eine Oper wurde so konträr gedeutet. Neben der „Zauberflöte“ ist der „Don Giovanni“ die meistinszenierte Oper Mozarts. Doch schon in den ersten deutschsprachigen Fassungen wurde Don Giovanni zu einem völlig anderen Werk. Don Giovanni wurde zum Singspiel, dann zur heiteren Posse, schließlich zum bloßen Lachstück in zum Teil grotesken musikalischen und textlichen Bearbeitungen. Kein Wunder, dass der Don Giovanni die Phantasie jeder Gene­ration immer aufs Neue beschäftigt hat. Kein anderes Werk der Operngeschichte ist so oft und so konträr gedeutet worden: Im neunzehnten Jahrhundert versuchte man, das Drama giocoso Mozarts abzuschaffen, erst machte man aus ihm ein „Singspiel“, dann gestaltete man es zur Romantischen Oper (Don Juan wurde zum tragischen Helden, zur Idealverkörperung der Unfassbarkeit und Undomestizierbarkeit des Eros, vor allem  E. T. A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist dies zu verdanken), in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bemühte man sich um die Wiederherstellung des ursprünglichen dramma giocoso und in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es vielfältige, ja konträre Versuche, das dramma gio­coso mit aktuellem, mit gegenwärtigem Sinn zu füllen, um es schließlich erneut zu demon­tieren,

©  Thanh Ha Nguyen

Idealtypisch und im Sinne Mozarts war wohl nur die von Mozart selbst überwachte und einstudierte Prager Uraufführung im Nostizschen Nationaltheater 1787. Dort hat Mozart seine Auffassung des „dramma giocoso“ (diese heikle Mischform der Oper als einer mit tra­gischen Elementen durchsetzten Komödie macht heute den meisten Sängern, Dirigenten und Regisseuren Probleme) verwirklicht, in spätbarocker Optik und idealisiertem Naturalismus. Fast alle Arien konnten – ohne unwahrscheinlich zu wirken – mit einer Dreiviertel-Wendung zum Publikum gesungen werden, die Gestik war noch ziemlich sche­matisch, aber die mimische Begabung der Sänger konnte sich frei entfalten, das Spieltempo war lebhaft und sprudelnd, alles im Sinne des Parlando, die musikalischen Tempi gehorchten dem Gesetz des Maßvollen. Kostümierung und Dekoration entsprachen der Zeit, also der Gegenwart Mozarts. Es gab kräftige Akzente im Tragischen wie im Komischen, aber nie wurde die Grenze der Natürlichkeit übertreten. Gerade der Begriff Natürlichkeit ist ein für den Mozartgesang, und das Mozartver­ständ­nis zentraler Begriff Der Gesetzeskanon des darstellerischen Stils entsprach in vollkommener Weise den Forderungen der Aufklärung. Schon der Titel verrät es ja: „Il dissoluto punito o sia Il Don Giovanni, Dramma giocoso in due atti “. Das ist eindeutig aufklärerisch: Der aus der Gesellschaft ausschweifende Don Giovanni wird bestraft. Dem entspricht das Ende der Oper, wo die gesellschaftliche Norm wieder hergestellt wird, auch wenn man das Schlußsextett als doppelbödig, ja als ironisch empfinden darf. In diesem Sinne ging „Don Giovanni“ am 27. Oktober 1787 zum ersten Mal über die Bühne. Mozart dirigierte selbst und der Erfolg war triumphal. Mozart selbst hat übrigens den Don Giovanni einen Tag vor der Uraufführung im hand­schriftlichen Verzeichnis seiner Werke ausdrücklich als „Opera buffa“ eingetragen.

Johannes Weigand, Hausherr und Regisseur am Anhaltischen Theater Dessau, weiß das alles sehr genau. Er verrät es in seiner vortrefflichen jüngsten Inszenierung der „Opern Aller Opern“.

Um es klipp und klar zu sagen: Er zeigt das Stück, klug und publikumsfreundlich gekürzt auf drei Stunden inklusive einer Pause, als quirlig abschnurrende Opera buffa. Seine Inszenierungsidee. „Menschen im Hotel.“  Das mag befremdlich klingen, gibt aber dem vergnüglichen, wahrhaft buffonesken Abend seinen Sinn.

Dramaturgie des Librettos von Da Ponte war für Mozarts geniale Komposition unerlässlich. Mit komplexen Charakteren und dynamischen Szenen hatte der Komponist einen perfekten Rahmen für die Schaffung neuer musikalischer Strukturen, die vielleicht ebenso revolutionär waren, wie der Anti-Held seiner Oper selbst.

Die Bühne von Hermann Feuchter zeigt das übergroße, mit roten Herzkissen verzierte Lotterbett eines nicht eben seriösen Hotels mit Klimaanlage, wechselnder (gelegentlich puffi­ger) Beleuchtung, Minibar, Tisch mit Stühlen, Sesseln, diversen Koffern und Fenstern und einem Balkon in den Wänden einen veritablen Einheitsspielraum.  Hinter dem Bett ein großer Vorhang, der fast wie ein Theater auf dem Theater anmutet und aufgezogen mal einen Kippspiegel, mal das Schloss des Titelhelden, mal das Grabmal des Komturs oder auch nur eine nackte Marmorwand enthüllt. In diesem Ambiente entfaltet Weigang souverän eine schwarze Komödie, mit lächerlichen, rührenden, komischen und schließlich tragischen Szenen.  

Don Giovanni tritt auf wie eine Mischung aus Udo Lindenberg und dem alten Casanova, in enganliegenden (nicht unerotischen) jeansartigen Hosen, skelettverzierter weißer Lederjacke (später tauscht er sie gegen in blausilbrig gestreiftes Jackett ein), mit Halbglatze und langen auf den Rücken herabfallenden strähnigen Haaren, eine fellinihafte Type zwischen ancient régime und Gegenwart. Er wird vorgeführt als rücksichtslosen, unmoralischen Looser, dem nichts mehr gelingt an dem Tag der Handlung, an dem das Stück spielt, wie er bekennt. Er ist ein ausgebrannter, aufgeblasener nihilistischer Liebhaber, der glaubt, mit seinem Stand und mit Penunsen alles und jeden kaufen zu können (er wirft mit Geldscheinen nur so um sich, auch übrigens ins Orchester).  Sein Diener Leporello ist ein Alter Ego, das nach seinem Abgang von der Hotelchefin flugs einen neuen Job angeboten bekommt. Die beeindruckend aufgedonnerte Donna Elvira mit wechselnden Kostümen (Judith Fischer), seine sitzengelassene, endlos betrogen Gattin, die eher zugeknöpfte Hotelchefin Dona Enna (meist den Belegunsgplan mit sich führend), der im adretten Anzug mit Krawatte auftretende Tapetenvertreter, oder ist er Ausstattungschef des Hotels, Don Ottavio (das Musterbuch demonstrativ durchblätternd), Masetto als Toilettenmann und Zerlina als Stubenmädchen, der Chor als in orange/schwarz und pink gewandetes Hotelpersonal entfalten ein turbulentes, kontrastreiches, quirliges Spiel, das in der völlig überdrehten, karnevalesken Festszene kulminiert, in der Don Giovanni als  Johannes der Täufer mit abgeschlagenem Haupt auftritt und Leporello als pinkfarbener Osterhase mit Netzstrümpfen als grotesker Transvestit. Am Ende stirbt der Bösewicht Giovanni auf dem Lotterbett, von der Marmornen Statue des Komturs in die sich auftuende Erdspalte versinkend, die das Bett als Grabmal des Joannes/Giovanni enthüllt. Eine schlüssige, komödiantische, ganz und gar unpathetische, ja unromantische Lesart, die das Stück kurzweiliger erscheinen lässt, als man es meist sieht.

© Thanh Ha Nguyen

Für die die tragischen Momente und den musikalischen Tiefgang des Stücks sorgt der Dessauer Musikchef Markus L. Frank am Pult der (wieder einmal) vorzüglich aufspielenden Anhaltische Philharmonie Dessau. Er dirigiert mit sichtbarer Freude flüssig, transparent und unpathetisch das musikalisch anspruchsvolle Stück mit seinen vielen Taktwechseln und weiß klug zu disponieren. Er ist handwerklich souverän dirigiert durchaus dramatisch, wenn auch alles andere als „historisch informiert“.  Seine Tempi sind straff, aber nicht gehetzt, zuweilen lässt er sich sogar viel Zeit und er lässt die vielen instrumentalen Pikanterien (vor allem der Holzbläser) prachtvoll zur Geltung kommen.  Ein klangprächtiges orchestrales Vergnügen, das von einem exquisiten Sängerensemble gekrönt wird:

Der seit letzter Spielzeit ins Ensemble des Hauss integrierte Bariton Kay Stiefermann singt (und spielt) einen virilen, sportiven und vokal vorzüglichen Don Giovanni, der Hamburger Bariton Michael Tews einen exzellenten Leporello,   der südkoreanische Bassbariton Caleb Yoo  weiß dem Commendatore überirdisches schwarzes Bassformat zu verleihen, der australisch-griechische Tenor Costa Latsos (der leider nur seine erste Arie singen darf) hat stimmlich nicht die Autorität eines Ehrenmannes der bürgerlichen Zukunft für die er als Gegenspieler Giovannis eigentlich steht. Er ist eher zartbesaiteter, zerbrechlicher Schwächling neben der starken Anna von Ania Vegry, dem sängerischen Mittel und Höhepunkt der Aufführung. Die in England geborene Sopranistin, die längst international auf sich aufmerksam gemacht hat, singt eine betörende, makellose warme und große Donna Anna. Entzückend der türkische Masetto von Barış Yavuz und die polnische Zerlina von Bogna Bernagiewicz.

©  Thanh Ha Nguyen

Die Donna Elvira der vokal so beeindruckenden wie vielseitige bulgarischen KS Iordanka Derilova, sie ist seit 2003 Mitglied des Ensembles des Anhaltischen Theaters Dessau, ist eine Klasse für sich.  Alles in allem eine bemerkenswerte Aufführung. Der Applaus des Premierenpublikums war denn auch gewaltig.

Dieter David Scholz, 6. Mai 2024


Don Giovanni
Wolfgang Amadeus Mozart

Anhaltisches Theater Dessau

Premiere am 4. Mai 2024

Inszenierung: Johannes Weigand
Musikalische Leitung: Markus L. Frank
Anhaltische Philharmonie Dessau