München: „Die Passagierin“, Mieczysław Weinberg

Man könnte es mit einem Satz sagen: Musik gut, Szene – nun ja – defizitär.

Mieczysław Weinbergs Passagierin hat seit ihrer posthumen Premiere bei den Bregenzer Festspielen des Jahres 2010 eine Inzenierungs- und Aufführungsserie hinter sich gebracht, die für eine 1966/67 komponierte Oper durchaus erstaunlich ist – auch wenn die Tonsprache des Komponisten eher das ist, was man heute und wohl schon damals als „konservativ“ bezeichnet hat. Zimmmermanns Soldaten und Reimanns Lear, ganz zu schweigen vom fast exterritorialen Amerika Roman Haubenstock-Ramatis, klingen für einen Hörer, der nicht an die Klänge der neuesten Moderne gewohnt ist, wesentlicher fordernder. Insofern ist es fast witzig, wenn ein Besucher in der 16. Reihe des Münchner Nationaltheaters bei notorisch dissonanten Einstimmen des Orchesters die fast schon furchtvolle Bemerkung macht: „Ist das ein Vorgeschmack?“ Nein, das ist es nicht. Weinbergs Oper gehört, das ist bekannt, noch in die  sog. gemäßigte Nachfolge Alban Bergs, der sich bekanntlich der strengen Dodekaphonie Arnold Schönbergs verweigerte und gleichzeitig mit Zwölftonreihen arbeitete. Weinbergs Musik hat auch, das kann, wie Brahms gesagt hätte, jeder Esel hören, Anteile an unverwechselbaren Stilelementen Dmitri Schostakowitschs. Der „Lieblingswalzer“ des Kommandanten wurde in der Schule DSCHs geboren, der Rest ist der Weinberg von 1967, der mit dem Werk, nach eigenem Bekunden, sein wichtigstes geschrieben hat.

© Wilfried Hösl

Bedeutend aber ist die Oper nicht allein deshalb, weil sie auch heute noch anhörbar, also nicht gealtert ist. Bedeutend ist sie wohl vor allem deshalb, weil sie mit Auschwitz ein Thema auf die musikalische Bühne bringt, das in Opern ansonsten nicht vorkommt. Weinberg und sein Librettist Alexander W. Medwedew schrieben die emotional-dramatische Oper nach Zofia Posmysz’ Erzählung Pasażerka z kabiny 45, in der sie ihre Zeit als politische Gefangene im KZ verarbeitet hat. Um die Oper bei den sowjetrussischen Politbonzen durchzubringen, waren die Macher des Werks gezwungen, sich auf bestimmte Sprachregelungen einzulassen, denen sie nicht zugestimmt hätten, wäre es damals möglich gewesen, ohne ideologische An- und Eingriffe frei schaffen zu können. Doch obwohl die fertige Oper von der entscheidenden Kommission, selbst von den Hardlinern (wie Tichon Chrennikow) durchgewinkt und von Schostakowitsch, der Weinberg sehr schätzte, offiziell gelobt worden war, kam die Oper in der Sowjetunion nie auf eine Bühne. Wie gesagt: Obwohl Weinberg und Medwedew alles dafür getan hatten, das Werk, bei all seiner Differenziertheit, für die Betonköpfe spielbar zu machen. Zynisch ausgedrückt: die Selbstzensur der Autoren hat dennoch nicht dazu geführt, das Werk seinerzeit durchzusetzen.

Sie aber – und vielleicht nicht allein sie, sondern auch bestimmte Töne des Texts – machen aus dem Werk ein Problem. In München möchte man ihnen entweichen, indem sich der Regisseur Tobias Kratzer und der Dirigent Vladimir Jurowski für Kürzungen entschlossen haben, die an sich kaum vertretbar sind (dass sämtliche, aufs Konkrete zielenden Regieanweisungen im abgedruckten Libretto gestrichen wurden, passt zum Bild). „An sich“ aber ist der Autor dieser Zeilen dankbar für jeden Einschnitt gewesen: nicht, weil die Musik so schwach wäre (sie ist es nicht), sondern weil Kratzer den Problemen des Stücks ausgewichen ist, indem er eine Lösung mit der geistigen Brechstange anbot. Wer Kratzers Inszenierungen kennt, weiß, dass eine Idee, die „an sich“ nicht schlecht ist, immer nur für ein paar Szenen funktioniert, letzten Endes aber eine Dramaturgie konstruiert, die immer absurd ist. Besteht das Hauptproblem der Passagierin darin, dass Auschwitz auf der Bühne gezeigt werden soll, so hat Kratzer das Problem, alles andere als Auschwitz zu zeigen. Anders ausgedrückt: Eine Auschwitz-Oper mit Auschwitz ist schwierig. Eine Auschwitz-Oper ohne Auschwitz ist unmöglich.

© Wilfried Hösl

Gespielt wird also nicht Weinbergs und Medwedews Passagierin, sondern der Versuch, Auschwitz zu entauschwitzisieren. Dagegen wäre, weil die realistisch sein sollende Darstellung eines KZs auf der artifiziellsten aller Bühnen nur sehr schwer zu überzeugen vermag, absolut nichts zu sagen, wenn Kratzer als Äquivalent nicht seine typische absurde Versuchsanordnung anbieten würde. Da Auschwitz zwar schrecklich, grausam, schmutzig und, gemessen an der Menschlichkeit, zutiefst unvernünftig (um es sachlich auszudrücken), aber leider real und nicht absurd war, kam zumindest bei mir der Eindruck auf, es bei dieser Interpretation der Oper mit einem sinnentleerten Konstrukt zu tun zu haben. „Inkonsequent“: dieses Pausenwort eines Zuschauers, der der Inszenierung an sich freundlich gegenüberstand, sagt schon viel, sagt auch, wieso Kratzers Passagierin-Deutung zumindest mich kalt wie einen Fisch zurückließ. Daran konnte nicht einmal der Schlussgesang der Marta etwas ändern, auch nicht der polnisch projizierte Text, der darauf hofft, dass die Stimmen der Opfer niemals verhallen mögen. „Ich werde euch nie und nimmer vergessen“: bezogen auf die sichtbare Inszenierung konnte dies nur heißen, Figuren zu vergessen, die jeglicher Persönlichkeit beraubt wurden. Dabei beharrte Posmysz, beharrten die Schöpfer der Oper gerade darauf, dass die Täter es in Auschwitz nicht geschafft hatten, die Persönlichkeiten zu zerstören. Bei Kratzer aber sehen wir, eingebettet in ein inkonsequentes Setting aus einer schlicht gezeichneten – und für Kratzers Verhältnisse erstaunlich unambitioniert und handwerklich schwach (die Figuren treten wie auf Knopfdruck auf und ab) inszenierten – „Gegenwart“ eines Luxusdampfers und der Vergangenheit eines Luxusdampfers der 50er Jahre, in München also sehen wir immer nur den unauflösbaren Gegensatz zwischen den eindeutig historisch situierten Textworten und einem Nachkriegs-Ambiente. Wenn aber Jungs von heute sich unterhalten wie SS-Männer von 1942 und im Speisesaal der 50er Jahre (oder der Gegenwart?) die tödlichen Situationen von Auschwitz quasi wiederholt werden, wird das Spiel sinnlos. Dass Marta im denkbar künstlichen Raum im ersten Akt als fünffaches Double auftritt, alle Frauen bewegungslos minutenlang verharren, im zweiten Akt aus der einen Marta gleich acht werden, die keinerlei Persönlichkeitsmerkmale aufweisen (hier hilft leider nicht einmal mehr die individuell konzipierte Musik) und ihr Geliebter Tadeusz völlig sinnfrei von den schicken Stewards abgeschlachtet wird: das verstehe, wer will. Dass Auschwitz damit relativiert wird, weil die Idee eben doch nicht bis zur letzten Konsequenz durchdacht wurde, sei nur nebenbei erwähnt.

Die Angst-Projektion der „mittleren“ Lisa auf die Figuren jener Zeit, wodurch sie in der anderen Passagierin die einstige Gefangene Marta zu erkennen glaubt, klappt einfach nicht, weil sie jeglicher Differenziertheit entbehrt: so wie, und das ist das Schlimmste, keine Menschen namens Krystina, Vlasta, Hannah, Bronka und Yvette mehr gezeigt werden, sondern nur noch schwarzschick gewandete, singende Schaufensterpuppen. Die Entblößung der Marta – Respekt für die Sängerin – ist da noch das kleinere überflüssige Übel. Daran vermögen auch die verschiedenen, in Auschwitz gesprochenen Sprachen nichts zu ändern, in denen sich die Gestalten artikulieren, zumal man deren Unterschiedlichkeit eher aus dem gelesenen Libretto als dem gehörten Text wahrnimmt (der für diese Aufführung, und das ist gut, sprachlich differenziert wurde).

© Wilfried Hösl

Wie gesagt: Eine Auschwitz-Oper mit Auschwitz ist schwierig. Eine Auschwitz-Oper ohne Auschwitz ist unmöglich. Für die übergeordnete Bedeutung des interpretierten Werks aber soll bei Kratzer eine dritte Zeitebene und eine erfundene Figur zusätzlich einstehen: die „alte Lisa“, also die wohl gerade 100 Jahre alt gewordene ehemalige KZ-Aufseherin, die mit einer Aschenurne (Symbolik!) über den Ozean fährt. Sie begleitet den gesamten ersten Akt, beobachtet permanent die „mittlere“ Lisa, die sich in ihrer Kabine mit ihrem Mann Walter unterhält und ihre einstigen Untaten beichtet und relativiert, und windet sich schließlich, während der Auschwitz-Szenen, die hier keine mehr sind, in konvulsivischen Zuckungen, bevor sie am Ende des ersten Akts ins Wasser springt. Zum Verständnis und zur Vertiefung der nach wie vor diskutablen und spannenden moralischen Probleme der Figur der Lisa und ihrer Beziehung zu Marta, in der sich nichts weniger als die Lebensgeschichte der einzigartigen Auschwitz-Insassin spiegelt, trägt all das nichts bei. Vermutlich hätte die bis zuletzt stets höfliche und diskrete Zofia Posmysz verstört auf diese Enteignung ihrer Biographie und dem Verschwindenmachen von Auschwitz reagiert. Dass das Stück, wie Kratzer sagte, zeitlos sei, ist eine Binsenweisheit – aber dass man mit der „Leere“ operieren müsse, um es nach dem Tod der Opfer, also auch der Autorin und Autoren, für uns verständlich zu machen, wäre nur dann legitim, wenn man dieser Leere etwas Sinnvolles entgegenstellen könnte. Dies aber ist hier nicht geschehen. Stattdessen sehen wir auf ein über weite Strecken uninspiriertes Konfektionstheater, bei dem man leider an den meist falschen Satz denken muss, dass der Regisseur wieder einmal klüger sein wollte als die Schöpfer des Werks. In diesem Fall stimmt er leider.

Schade also um die grandiosen Sängerinnen und Sänger, das phänomenale Orchester, die Musik, die, bei allen möglichen Einwänden gegenüber Text und Dramaturgie, das Werk schlussendlich zu einem bedeutenden macht – denn das Thema Auschwitz an sich ist ja noch kein Qualitätskriterium für ein gelungenes Kunstwerk. Was wir hören, ist immer farbig, abwechslungsreich, dramatisch bewegend; als Hörspiel täte der Abend beste Dienste. Nur leider stoßen sich allzu viele Informationen von Text und Musik – mit Ausnahme der nicht sonderlich spannenden Begegnungen zwischen Lisa und ihrem Mann, was freilich auch und bewusst an der einfacher konturierten Musik liegt – an so gut wie allem, was wir sehen. Nur ein einziges Mal hatte ich den Eindruck, dass die unwirksame Idee der unpersönlichen Vervielfachung der Marta eine nachvollziehbare Wirkung entfaltet: wenn Lisa plötzlich den Geistern der Vergangenheit begegnet und diese, wie in einem Horrorfilm, aus jeder Ecke kriechen. Der Rest ist glatt, poliert und auf eine Art und Weise selbst dort klinisch, wo es um Mord und Totschlag geht. Dass die Wohlstandsgesellschaft der 50er Jahre die Erinnerungen an ihre eigene mörderische Vergangenheit verdrängt hat? Geschenkt. Dass in Gegenwarts-Figuren Motive der Vernichtung wiederkehren? Es bleibt eine szenisch defizitäre Behauptung. Kratzers Ansatz ist aller Ehren wert. Aber er funktioniert nur dann, wenn man die riesige Kluft zwischen dem Hör- und dem Sichtbaren ignoriert.

© Wilfried Hösl

Der Beifall galt denn auch, wenn ich mich nicht täusche, eher den musikalischen Protagonisten als der szenischen Umsetzung und Umdeutung der Oper. Sie trugen das Ganze, leider ohne meiner Meinung nach die Unausgegorenheit des „Konzepts“ vergessen zu machen: allen voran Sophie Koch und Elena Tsallagova als Gegenspielerpaar Lisa und Marta. Wie schade, dass die vokalen Potenzen der beiden Sängerinnen in der Szene meist leerliefen und dort, wo sie konkret wurden, den Schrecken bagatellisierten. Großartig die dramatischen Spitzen Sophie Kochs, betörend die lyrischen Höhen Elena Tsallagovas. Die Frauen, also Daria Proszek, Lotte Betts-Dean, Noa Beinart, Larissa Diadkova und Evgeniya Sotnikova, vervollkommneten sehr homogen das weibliche Ensemble, während mit Charles Workman (als Walter) und Jacques Imbrailo (als Tadeusz) zwei stimmschöne Vokalcharaktere auf der Bühne agierten. Zusammen mit dem Bayerischen Staatsorchester und dem Bayerischen Staatsopernchor spielten sie das einzige interessante wie nuancenreiche Drama des Abends: das der Tonspur, zwischen Höllenwalzer und Deklamation, Lyrik und Gewalt.

Akustisch gehört diese Passagierin also zweifellos zu den herausragenden Produktionen dieser Oper. Mit einem Wort: ein musikalisch großer Abend.

PS: Wer wissen will, was es mit dem realen Auschwitz auf sich hatte, dem durch keinerlei inkonsequente Abstrahierung und wohl auch durch keinerlei Bühnenrealismus beizukommen ist, sollte das ausgezeichnete und höchst informative, Oper, Geschichte und Erinnerungskultur genau erläuternde Programmbuch lesen. Interessanterweise wirkt es stellenweise wie ein Gegenentwurf zur Inszenierung.

Frank Piontek, 15. Juli 2024


Die Passagierin
Mieczysław Weinberg /  Alexander W. Medwedew

Bayerische Staatsoper

Premiere am 10. März 2024
Besuchte Aufführung: 13. Juli 2024

Inszenierung: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Bayerisches Staatsorchester