München: „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdinck

©  Geoffroy Schied

Auch dieses Jahr steht wieder Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel in der Inszenierung von Richard Jones (Regie) und John Macfarlane (Bühne und Kostüme) auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper. Und erneut hinterließ die Aufführung einen nachhaltigen Eindruck. Hierbei handelt es sich um spannungsgeladenes, aufregendes und hervorragend durchdachtes modernes Musiktheater. Jones ist nicht daran gelegen, ein altbackenes konventionelles Märchen auf die Bühne des Nationaltheaters zu bringen. Er intendiert vielmehr ein soziales Drama von enormem Tiefgang und wartet zusätzlich noch mit knallhartem Realismus auf. Hunger in all seinen Extremen bildet den Ausgangspunkt seiner gelungenen Regiearbeit. Sowohl den Mangel an Nahrung als auch ausgelassene Völlerei führt der Regisseur dem Publikum in gleichem Maße eindringlich vor Augen. Nach Essen drängt, am Essen hängt doch alles. Das wird schon an dem Hauptvorhang ersichtlich, auf dem ein Teller mit Besteck zu sehen ist. Dieser ist im zweiten Akt dann mit Blut beschmiert und im dritten Akt schlussendlich zerbrochen. Diese Symbolik kann sich sehen lassen.

Hänsel und Gretel und ihre Eltern gehören der Unterschicht an. Sie fristen ihr Leben in einer unansehnlichen Sozialwohnung. Der leere Kühlschrank gibt beredtes Zeugnis von der großen Armut, in der die Familie lebt. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter verwunderlich, dass der von den Geschwistern an den Tag gelegte Frohsinn sehr aufgesetzt wirkt. Er ist nichts weiter als ein mäßig erfolgreicher Rettungsanker zur Bewältigung der tristen Verhältnisse. Als letztes Mittel, ihrer trostlosen Situation zu entkommen, bleibt ihnen schließlich nur noch die Realitätsflucht. Immer stärker träumen sich Hänsel und Gretel aus ihrem beschränkten Dasein hinaus in eine bessere Welt. Diese offenbart sich ihnen im zweiten Akt als ein Herrensalon mit Flügeltüren, der bis auf eine längs durch den Raum verlaufende riesige Speisetafel leer ist. Der Wald wird durch auf die Wände gemalte Büsche und Gestrüpp sowie durch einige Statisten mit Baummasken symbolisiert. Interessant mutet das Sandmännchen an, das Jones als einen auf die Brust der dunkel gekleideten Sängerin aufgesetzten Greis interpretiert.

©  Geoffroy Schied

Neben solchen ansprechenden äußeren Eindrücken misst der Regisseur dieser Szene auch einen tieferen Sinn bei: Während die Geschwister mit einem gehörigen Schuss an Übermut die von ihnen gesammelten Erdbeeren verschlingen, beschmieren sie sich mit deren rotem Saft, sodass ihre Kleider wie von Blut überströmt erscheinen. Sinnbildlich wird seitens der Regie hier das Blut der von der Herrenliga geknechteten Unterschicht vergossen – ein sehr eindringliches Bild. Der Traum von Hänsel und Gretel von Reichtum und Glanz wird immer konkreter. Während der Pantomime am Ende des zweiten Aktes werden sie in ihrer Phantasie zur Herrschaft der prächtigen Villa. Sie ziehen sich elegante Gewänder an und lassen sich von einer Reihe von Köchen mit Wasserköpfen ein opulentes Mahl servieren. Ein Fisch schlüpft dabei in die Rolle des Dieners. Auf diese Weise an dem riesigen Tisch sitzend und vornehm speisend erträumen Hänsel und Gretel sich den heiß begehrten gesellschaftlichen Aufstieg. Dieser wird ihnen in der Realität indes verwehrt.

Auf ein Knusperhäuschen verzichtet Richard Jones. Stattdessen präsentiert er auf dem wiederum heruntergefahrenen Vorhang einen überdimensionalen, weit geöffneten Mund. Auf dessen Zunge erblickt man eine riesige Torte – ein ungemein surrealistisches Bild. Beim Auftritt der Hexe entschwindet der Prospekt wieder in Richtung Schnürboden und gibt den Blick frei auf die Backstube der bösen Magierin. Diese führt der Regisseur als ein auf den ersten Blick gar nicht maliziöses, freundlich wirkendes und biederes Hausmütterchen vor, das sich augenscheinlich gerne als Konditorin betätigt. Auf dem Backtisch stehen eine ganze Anzahl von Torten und sonstigen süßen Leckereien.

©  Geoffroy Schied

Man kann durchaus nachvollziehen, dass sich die Kinder, die nun auf dem kulinarischen Gipfel ihres Traumes angelangt sind, sich an diesen Köstlichkeiten ungeniert schadlos halten. Bevor sie, nun doch Verdacht schöpfend, zu entfliehen versuchen, stülpen sie die Hexe nach Art des Komiker-Duos Laurel und Hardy noch rasch mit dem Gesicht in einen der Sahnekuchen, worüber die schrullige Alte aber überhaupt nicht lachen kann. Anschließend wird Hänsel auf den linken Rand des Backtisches verbannt, während Gretel der Zauberin während des Hexenrittes bei der Kreation ihrer neuesten Torte zur Hand gehen muss. Am Ende bugsieren die Geschwister ihre Peinigerin kurzerhand in den durchsichtigen Backofen. Die abschließende Mutation der Hexe in einen riesigen Kuchen, der von den befreiten Lebkuchenkindern kurzerhand in seine Bestandteile zerlegt wird, ist ein erheiternder Anblick. Dieses Konzept von Richard Jones war sehr überzeugend. Der Regisseur hat es mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch ausgesprochen kurzweilig umgesetzt.

Eine ansprechende Leistung erbrachte Vladimir Jurowski am Pult. Mit enormem Elan wies er dem bestens disponierten Bayerischen Staatsorchester in gemäßigten Tempi den Weg durch Humperdincks abwechslungsreiche Partitur und animierte es zu einem intensiven, differenzierten und gefühlvollen Spiel. Neben wagnermäßigen großen Orchesterausbrüchen wartete er auch mit zarten und leisen Klängen auf, woraus ein sehr vielschichtiges Klangbild resultierte. Den Sängern war er ein umsichtiger Begleiter.

©  Geoffroy Schied

Mit gut sitzendem, lyrisch grundiertem und höhensicherem Sopran sang Nikola Hillebrand eine beeindruckende Gretel. Rachel Wilson war ein recht burschikoser Hänsel, dem sie mit ihrem profunden, elegant dahinfliessenden Mezzosopran auch gesanglich voll und ganz entsprach. Eine Luxusbesetzung für die Hexe war der wunderbar im Körper singende Tenor Ya – Chung Huang. Darstellerisch machte er aus seiner Rolle mit sehr aufgedrehtem Spiel ein wahres Kabinettstückchen. Ausgesprochen sonor und mit bester italienischer Technik gab der noch junge Thomas Mole den Besenbinder Peter. Demgegenüber fiel die in der Höhe mehr keifende als schön singende Juliane Banse als Gertrud ab. Meg Brilleslyper war ein schön italienisch fundiert singendes Sandmännchen und Echo V. Perfekt sang Iana Aivazian das Taumännchen und das Echo III. Schön war der von Kamila Akhmedjanova einstudierte Kinderchor der Bayerischen Staatsoper anzuhören.

Ludwig Steinbach, 9. Dezember 2025


Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck

Bayerische Staatsoper

Premiere: 24. März 2013
Besuchte Aufführung: 6. Dezember 2025

Inszenierung: Richard Jones
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Bayerisches Staatsorchester