Premiere: 25.7. 2021. Besuchte Vorstellung: 31.7. 2021
Sie ist schon eine Bombe, ein Ereignis, eine nicht allein szenische, sondern auch akustische Sensation. Als Asmik Grigorian zum Verbeugen vor den Vorhang tritt, crescendiert der Beifall ins Extatische. Kein Wunder: Ihre Senta „rockt“ den Abend, gibt ihm einen wesentlichen Ankerpunkt und verleiht der Deutung, die Dmitri Tcherniakow seinem russisch geprägten Holländer gegeben hat, eine Tiefendimension, die nur der für oberflächlich, ja banal halten könnte, der in der Interpretation von Wagners Oper nicht mehr sieht als einen Krimi und eine Variation des Besuchs der alten Dame.
Ein „russischer“ Holländer? Wer sich die Mühe macht, das umfangreiche und exzellente Programmheft der Neuproduktion zu lesen, wird auf Texte treffen, die, wie im Parsifal-Programmbuch zu Tcherniakows Berliner Inszenierung, die Wirkung Wagners auf die russische Literatur- und Kunstintelligenz beschreiben – eine Wirkung, die wiederum auf die moderne Deutung Wagners, der den Mythos bekanntlich als „für alle Zeiten wahr“ beschrieb, zurückwirkt. Die produktive Rezeption beschränkte sich in Russland nicht allein auf den beliebten Lohengrin und den Ring, auch auf den Holländer. Sie betrifft zum einen die Frage, wie denn die von Wagner inszenierte „Erlösung“ recht eigentlich zu deuten ist und ob und wie sie überhaupt ins Werk gesetzt werden kann, zum anderen die Transformation der Holländer-Figur auf das russische Bewusstsein: nicht allein, aber vor allem in Bezug auf den Romancier Andrej Bely, in dessen um 1900 geschriebenen Petersburg-Roman der Holländer als Sinnbild und Abbild einer sich selbst unsicheren, unbehausten und gespenstischen Erscheinung eine prominente Rolle spielt. Wagner selbst hatte schon, 1859 in einem Brief an Mathilde Wesendonk, bekannt, dass ihm die Erlösungsidee in Bezug auf den Holländer absurd erscheine, indem er sich selbst, nun auch gegenüber Anderen, als jener Holländer sah, der er schon 20 Jahre zuvor gewesen ist. „Wagners künstlerische und theoretische Arbeiten“, lesen wir im Programmheft in einem Text von Tatiana und Elena Werestchagina, „werden als universelle Chiffren zur Entschlüsselung der Moderne und der eigenen Identität aufgefasst“. Das ist so gut wie richtig, wenn auch noch nicht besonders originell, aber seine Wertigkeit erhält die Beobachtung durch die Ergänzung, dass Bely Wagners Konzept kannte und bewusst-unbewusst den Weg des Holländers beschritt – und ihm im grandiosen wie skurrilen Roman Ausdruck verlieh. Diesem „H.“, wie Tcherniakow den Mann im Vorspiel nennt – das ausdrücklich und nicht willkürlich als Traum bezeichnet wird – ist, wie Kleist gesagt hätte, auf Erden nicht zu helfen. Er ist ein ewiger Flüchtling seiner selbst, dessen Schicksal nicht durch irgendeinen „Fluch“ in einer obskuren „Ballade“ erklärt werden kann, diesem (musikalisch hinreißenden) Requisit einer historischen – und schon damals, bezieht man‘s auf‘s rein Textliche, anachronistischen – Opernästhetik. Der Holländer ist ein Mann mit „verzerrten mentalen Formen“ (so Bely über die Stadt Petersburg), der sich, man sieht‘s am Ende, verantwortungslos aus jeder tieferen Bindung stiehlt, Senta im Stich lässt und weiter „unerlöst“ durch sein Leben als Untoter rauschen will – bis ihn, in der neuen Inszenierung, Marys Schuss tatsächlich von seiner Qual, immerzu nur vernichten zu können, wo andere, wie das Gegenbeispiel Erik, lieben und begehren, ja: erlöst – gerade in solchen Akten dessen, was meist unschön als „Regietheater“ denunziert wird, zeigt sich eine Art von, nun ja: Treue am Werk, die den schwierigen und im Prinzip unmöglichen Begriff tatsächlich Ernst nimmt. Denn der Holländer wird tatsächlich von seinem fruchtlosen und sich und andere vernichtenden Umherirren um und in sich selbst (es steht alles im Text und der Musik, deren Holländer-Monolog um die beiden Töne f und h kreist…) befreit, während Senta verzweifelt zurückbleibt. Dass Senta schon zuvor „um ihre Hoffnung auf einen gleichberechtigten Bund betrogen“ wurde, da der Holländer einseitige Forderungen stellt, wie die informierten Werestchaginas schreiben, muss mitgedacht werden, wenn wir Asmik Gregorian inmitten der Vernichtung sehen, die der Holländer denn doch noch mit seinen Männern angerichtet hat. Einziger Trost: zusammen mit Mary, ihrer Mutter, der Rächerin, die schon beim gemeinsamen Verlobungsessen wusste, dass es nicht gut ausgehen wird, können sich die beiden zurückgebliebenen Opfer des Manipulators trösten.
Ihrer Mutter? Tatsächlich – ohne ein gesungenes Wort des Textbuchs zu ändern, kann Senta als Marys Tochter, damit auch als Dalands Frau, ernannt werden, denn Mary bezeichnet die junge Frau ausdrücklich als ihr „Kind“. Doch schien es nicht für einen seligen, musikalisch überirdischen Augenblick so, als würde H. jetzt auf den Racheplan vernichten können, als könne er nicht in der Begegnung mit der jungen Frau sein Trauma überwinden, das vielleicht nur in seinem wiederkehrenden Alb-Traum Wirklichkeit war und ist? Sind wir nicht Zeugen eines coup de foudre, der uns und H. die Hoffnung gibt, dass es mit seinem immer wiederkehrenden Drang, „die Inseln zu zerschmettern“ (wie es in Petersburg heißt), ein Ende haben könnte? Wieso also sitzt er zu Beginn des 3. Akts so erratisch mit seinen Leuten zusammen wie zu Beginn der Oper? Wieso scheint er immer noch Rachepläne zu hegen, obwohl die Begegnung mit der Frau, die sich wiederum von ihm begeistern lässt, ihm jeglichen Vernichtungsfeldzug untersagt?
Die Antwort fällt leicht: weil H. ein extrem irrationaler und labiler Typ ist, dessen Psyche nicht mit dem Maßstab einer gesellschaftlich-seelischen Normalität definiert werden kann. Der Rückfall in sein vertrautes Muster – der Welt, also sich selbst und den Anderen – feindlich und fremd gegenüber zu stehen, ist stärker als eine temporäre „Liebesszene“ und macht „geordnete“ Verhältnisse und logische Handlungsabläufe unmöglich. Um dies zu belegen, muss man nicht einmal einen Blick ins Programmheft werfen. Oder anders: Die „Treue“, die Senta ihm im zweiten Akt schwört, bezeigt die Treue zu H.s Sein – das eben, als „Geschick“ (heute würden wir sagen: als mentale Grundverfassung), unwandelbar ist. Kommt hinzu, dass die Provokationen der Matrosen selbst das stärkste „Gespenst“ zu erschüttern vermögen. Frage: Was sind eigentlich „Gespenster“?…
Wer nun meint, dass eine Inszenierung gescheitert ist, weil zu deren vollem Verständnis die Lektüre des Programmhefts nötig sei, unterschlägt die Tatsache, dass ein sozusagen vom Blatt gespielter Holländer hochproblematisch ist und sich eine tiefere Interpretation im Licht der heutigen Betrachtung immer von selbst verstünde. Kenntnisse, Vertiefungen und Neuüberlegungen schaden nicht, wo es darum geht, eine Oper, deren ursprüngliche, in Wagners und im Sinn des tiefen 19. Jahrhunderts idealistische „Erlösung“ von uns schon sehr weit entfernt ist, ins allein gültige Heute zu holen. Alles andere wäre ein Historismus, der Wagners Problemen und Neurosen, auch seiner innewohnenden und gelegentlich völlig unabsichtlichen Modernität – es ist eine Modernität des gestörten Bewusstseins – nicht gerecht würde. Manche szenische Lösungen mögen einfacher und unmittelbarer erscheinen; ausgefuchstere erfordern stärkeres Nachdenken, könnten aber gerade hierdurch tiefer wirken. So wie in diesem „Fall H.“, wie Sigmund Freud den pathologischen Fall des Holländers genannt hätte, über dessen reinen Inhalt Sie im Artikel meines Kollegen Klaus Billand alles erfahren können; dass dieser Inhalt umstandslos auf eine innere Wirklichkeit verweist, dessen Stürme und gewaltigen Wogen nicht durch eine illustrative äußere Natur gezeigt werden müssen, wenn die Grundidee, wie hier, einfach in allen Details stimmt, sei angefügt. Im Übrigen würde sich sogar, folgt man Peter Brooks profunden Überlegungen zum „leeren Raum“, der Fliegende Holländer auf einer völlig leeren Bühne realisieren lassen – vorausgesetzt, die Spieler spielen so, dass wir sie verstehen; der Rest ist Dekor (apropos: Der Tisch fiel übrigens, das war klar, in der Premiere nicht mit Absicht um). Und dass Wagners Fabel auf eine Krimihandlung gleichsam „heruntergebrochen“ wurde: dies ist keine Sünde, sondern das Resultat einer Überlegung, die sich auf Andrej Bely berufen kann: „Die ‚Fabel‘ ist ein Irrtum; es gibt nur ein Thema – nämlich die Schilderung der Panoramen des Bewusstseins.“ Und ein Theater ohne Interpretation ist ein totes Theater.
Dies musste erst einmal in Bezug auf die geistigen Hintergründe einer Inszenierung geschrieben werden, die manch Beobachter als relativ willkürlich, dem „ursprünglichen Stoff“ nicht adäquat, bestenfalls als „spannend“ empfand. Von hier aus aber erklärt sich erst, wieso Asmik Grigorian, die allenthalben gelobt wurde, eine in jedem Sinne starke Interpretation der Senta auf die Bühne brachte, die als Teil der Interpretation, nicht als exzentrisch brillante Figur verstanden werden muss: als provokantes Girlie, das gegen die Spießigkeit der bürgerlichen Stadtumwelt rebelliert, als freches Mädchen, das von den grau- und braungekleideten Bewohnerinnen, den Frauen in Mutter Marys Abendsingstunde, vielleicht sogar bewundert wird – schließlich als erwachsen werdende Frau, die in der Begegnung mit dem fremden Mann eine Ahnung von der Naturgewalt erfährt, die sie einen (unmöglichen) Treueschwur aussprechen lässt, der sie, als alles zu spät und vorbei ist, in einen letzten verrückten Treueschwur und eine Verzweiflung jagt, die ehrlicher ist als es jegliches harmonisierende Ende sein könnte. Grigorian beglaubigt das Senta-Ereignis mit einer Präsenz, die das Gestische, eine weit dimensionierte Körper- und besonders Armsprache, und das Akustische, einen starken, hohen, markigen und völlig ausgeglichenen Sopran zu einer Figur vereinigt, deren Innenleben genauso ausgeprägt ist wie das des – psychisch ganz anders gelagerten – Holländers, der ihr (es steht ja im Text…) als „Fremder“, nicht als Wiedergänger irgendeines historischen Bildes begegnet; hier ist das sog. „Holländer“-Bild die aus Marys Handtasche geluchste Schwarzweißfotografie eines schwarzhaarigen jungen Mannes, der vielleicht in den 50ern oder 60ern seine Jugendjahre erlebte: kein Wunder, denn die Mutter kennt ja die „Ballade“ – so wie sie einen Traummann anzuhimmeln scheint, den es nur im Film gibt. Marina Prudenskaya gab ihr szenisch und vokal ein beeindruckendes Profil.
Das Gegengewicht zu Asmik Grigorians Senta bot John Lundgren als „H.“, dessen tiefe Stimme zwar nicht immer fokussiert aus der Kehle klang, aber den masochistischen Leidensgestus der Figur beeindruckend, stimmstark und differenziert in den Saal brachte: nicht als bassbaritonaler Strahlemann, sondern als Charakterkopf, bei dem sogar die weniger klaren Töne stimmig waren. Riesenapplaus also auch für den Sänger, der sowohl einen bedrohlichen als auch, in der zentralen Szene des 2. Akts, einen sensiblen Menschen charakterisierte. Dass er kaum wortverständlich gewesen sei, wie dies schon kurz nach der Premiere über das Dampfradio verbreitet wurde, könnten nur die behaupten, die nicht genau zuhörten.
Zentrale Szene des 2. Akts: Wer Eric Cutler als Erik erlebt, fühlt sich an Berichte aus dem 19. Jahrhundert erinnert. Denn der „Jäger“ – hier ein schon optisch herausragender Amant – wurde in Wagners Zeit nicht unbedingt als larmoyanter Säuseltenor interpretiert. Cutler spielt, szenisch und vokal, einen selbstbewussten „heldischen“ jungen Mann, dessen stimmlicher Ausdruck auch heftig werden kann, ohne indes zu präpotent zu detonieren – auch dies ein Gegengewicht zum Holländer, das, so ist eben Senta, so ist die „Liebe“ drauf, bei der jungen Frau per se keine Chance haben kann, weil er auch nur zu den Bürgern der allzu kleinen Stadt mit ihren riesigen Puppenhäusern gehört, die ihrem Naturell so gar nicht passen. Georg Zeppenfelds Daland ist schlicht und einfach vollkommen, Attilio Glasers Steuermann eine Ohrenweide, der man nicht vorwerfen kann, dass sie „zu schön“ klingt, weil sie eben: schön klingt.
Und das Orchester? Und der Chor? Schienen sie während der Premiere, wie es im Livestream noch hörbar war, im dritten Akt auseinander, so waren sie nun gut beisammen: auch in der massenmäßig gefährlichen Konfrontation der beiden Chöre im Schlussakt, aber die Chorstatisten müssen besonders erwähnt werden.
Oksana Lyniv fasst, in Übereinstimmung mit dem Regisseur, den Holländer als dramatische Ballade auf; der Zug, der vom ersten bis zum letzten Takt mit dem Orchester der Bayreuther Festspiele durch den Abend geht, ist so frisch wie die Wogen, die aus dem Orchestergraben tönen und jeglichen Illusionismus akustisch zu ersetzen vermögen. So wie Tcherniakow, auch als sein eigener Bühnenbildner, im Stoff die Sozialgeschichte, den Mythos, die Psychologie und Wagners Neurosen ineins bringt, hören wir von unten das Ineinander von quicklebendiger Spieloper und düsterem Musikdrama: eine wunderschöne und vor allem packende Mischung.
Frank Piontek, 1.8. 2021
Fotos: siehe unten (Beitrag von Klaus Billand)