Bayreuth: „Die Walküre“, Richard Wagner (zweite Besprechung)

Seltsam: Manche Szenen versteht man erst, nachdem man sie ein paar Mal gesehen hat, oder anders: Manche Bedeutungen erschließen sich einem erst, nachdem man darauf verzichtet hat, eine Szene nur nach einer Bedeutung hin zu verstehen. So geschehen zu Beginn des zweiten Akts der Walküre in der Inszenierung von Valentin Schwarz. Da trauern die hinterbliebenen Walküren sehr pathetisch und also sehr komisch um Freia, die sich, traumatisiert von den Ereignissen des Rheingold-Tags, an dem sie als verkaufte Braut zum Tauschobjekt degradiert wurde, wohl schon kurz nach dem Schlussakkord die Kugel gab. Nun liegt sie im Sarg, und wir verstehen, dass es nicht anders kommen konnte. Nebenbei: Die Anmerkung eines Hügelbesuchers, dass das doch ein sinnloser Regieeinfall wäre, weil sich Freia gemäß Textbuch nicht umbringe, gilt nicht – weil Wagner 1. Freia später nicht mehr auftreten lässt, sie 2. in der Regieanweisung des himmlischen Schlussbilds nicht mehr genannt wird und 3. Waltrautes Hinweis auf „Holdas Äpfel“ nicht ausreicht, um ihre Existenz zu beweisen, denn Waltraute ist, nicht allein in dieser Inszenierung, die Irre von Walhall und keine besonders zuverlässige Berichterstatterin.

© Enrico Nawrath

Nun liegt sie also im Sarg – und zweieinhalb Stunden später verstehe ich endlich, was es auch mit den Walküren auf sich hat. Natürlich: Sie gehen in den Beauty Salon, weil sie an ihrer äußeren, nicht, wie Brünnhilde, an ihrer inneren Schönheit interessiert sind. Sie müssen sich also renovieren, weil sich Freia umgebracht hat, deren Suizid sie nicht ohne hintersinnigen Grund beweinen. Holdas Äpfel stehen ihnen, was immer auch Waltraute später behaupten mag (auch sie untersteht, wie jede Bühnenfigur, dem Verdacht, nicht die Wahrheit zu sagen), einfach nicht mehr zur Verfügung. Der Literaturwissenschaftler Clemens Lugowski, der vor bald 100 Jahren ein nach wie vor wichtiges Buch über die „innere Struktur der deutschen Prosaerzählung“ vorgelegt hat (Die Form der Individualität im Roman sollte auch zu den Pflichtlektüren jedes Opernregisseurs gehören), sprach von der „Motivation von hinten“. Das heißt: Ein Ereignis erhält dadurch seine Wichtigkeit, weil es etwas motiviert, was erst am Ende geschieht. In Freias und der Walküren Fall haben wir es also gleich mit zwei Motivationen zu tun: als Folge eines Verbrechens an der jungen Frau – und als Mittel zum Zweck, die Walküren so und nicht anders zu zeigen. Und da gibt’s immer noch Leute, die den Schwarz’schen Ring für „sinnlos“ halten…
Im Übrigen besitzt die Szene bei Schwarz jenen Humor, den sie verträgt; schon der Komponist hat ja den Ritt der Walküren als latente Zirkusnummer, als unterhaltendes Prachtstück für ein zu amüsierendes Publikum angelegt. Man höre nur auf den zwischendurch auch mal mild obszönen Text. Der Ritt passt, zumal in dieser Deutung, glänzend zur augenblicklichen Mode, den komischen Wagner herauszuarbeiten. Während im Neubau von Haus Wahnfried Dutzende von Wagner- Karikaturen ausgestellt sind, kursieren, KI macht’s möglich, bereits mehrere Fotos, die einen herzhaft lachenden Wagner zeigen. Der Meister wäre zweifellos der Erste gewesen, der darüber gelacht hätte – und also passt auch die Bayreuther Walküren-Szene zu Wagner. Der Beauty Salon: das ist indes „nur“ das eine. Eine Inszenierung wirkt, der Leser möge die Banalität verzeihen, oft durch Kontraste. In diesem Fall besteht das Gegenteil der Walküren in der zentralen Liebestat der Walküre. Allein Brünnhildes Einstehen für den Halbbruder, ihr dann als Verbrechen ausgelegter und aktiver Protest gegen den Vater und dessen dilemmatische Staatsraison wäre kontrastiv verloren, würde sie nicht gegen die kabarettistisch anmutende Walküren-Oktett-Szene eine gewaltige Fallhöhe aufrichten. In Bayreuth geschieht’s: mit Catherine Foster als Brünnhilde. Mit einem Satz: Besser als mit ihr kann man die Todesverkündigung nicht machen. Inniger und stimmschöner, sopranistisch ausgeglichener und erfüllter kann heute keine Todesverkündigung klingen.

© Enrico Nawrath

Läuft die Walküren-Szene weiter, betritt auch Sieglinde, damit die Tragödie die Bühne (ist der Ring eine Tragödie, so die der Kinder, nicht, wie man früher, in vaterhörigen Zeiten meinte, die des Vaters). Im vierten Spieljahr betritt Sieglinde No. IV die Bühne. Nach Lise Davidsen, Elisabeth Teige und Vida Miknevičiūtė singt diesmal Jennifer Holloway die Partie: zur Begeisterung des Publikums. Ihr flackernder Sopran, dessen Vibrato unüberhörbar auffällt, mag nicht jedermanns und -fraus Sache sein – dass sie die Partie „kann“, dass sie der leidenden Figur alles mitgibt, um sie in ihrem auch selbstzerstörerischen Hang zur Selbstanklage verständlich zu machen, ist unzweifelhaft. Im Übrigen sind Stimmen immer (in Klammern: immer) Geschmackssache, Vergleiche mit früheren Interpretinnen der Partie führen, so naheliegend sie auch sind, selten weit. Also muss man auch nicht darüber rechten, ob der Siegmund des letzten und auch des diesjährigen Spieljahrs, also Michael Spyres, im ersten Akt, wie ein Hörer bemerkte, alle Töne getroffen habe. Die Frage wurde ventiliert, ob es hier um einen „Gesamteindruck“ mit Fehlermessung oder nicht doch um einen Gesamteindruck geht, der noch andere Paradigmen beinhaltet. Mit und nach dem zweiten Aufzug aber war klar, dass es aus verschiedenen Gründen bedauerlich ist, dass Siegmund den 2. Akt nicht überlebt: definitiv nicht zuletzt aus stimmlichen.
Neu im Ensemble ist auch Siegmunds Gegenspieler, der geschädigte Dritte, also Hunding. Vitalij Kowaljow hat das, was man eine „Röhre“ nennt – aber der voluminöse wie artikulationsreine Bass kann’s auch leise. Er drückt den Fremden vokal fast an die Wand – und er flüstert geradezu, ohne seine Gefährlichkeit zu verlieren. Es sind nicht zuletzt diese Um- und Neubesetzungen, die den Begriff der „Inszenierung“ notwendigerweise schillern lassen – denn ein Georg Zeppenfeld macht als Hunding, noch dazu gegen den helltönenden Klaus Florian Vogt, einen völlig anderen Eindruck als Vitalij Kowaljow, mögen sie auch die selben Gesten ausführen. Dieser Hunding also ist ein völlig anderer Typus als der, den wir noch 2023 sahen – und Spyres’ baritonal getönter, im besten Sinne männlicher und zugleich lyrisch begabter Tenor repräsentiert einen etwas anderen Siegmund als der seines „Vorsängers“.

© Enrico Nawrath

Wie Catherine Foster gleich blieb auch, neben der Fricka der Christa Mayer, der Wotan des Thomas Konieczny – nur, dass er nun, wie schon im Rheingold beobachtet und, ebenso wie Fosters Brünnhilde, noch einmal eine Steigerung erfahren hat. Natürlich gibt es nicht „den“ besten Wotan der Gegenwart, aber allzu viele Konkurrenten gibt es auf der Bergspitze des anspruchsvollsten Wagner-Fachs gewiss nicht, wenn Geste und Gesang, ganz im Wagner’schen Sinn, untrennbar miteinander vereint werden. Nicht, dass Wagner selbst mit dieser Leistung zufrieden gewesen wäre. Er wäre überhaupt mit keiner einzigen stimmlichen und schauspielerischen Performance heutiger Wagner-Sänger einverstanden gewesen, weil sein ästhetisches Ideal meilenweit von Allem entfernt war, was heute als gut und richtig zu gelten hat. In diesem Sinn muss sich auch der exzellente Sängerdarsteller auf die Suche nach Ausdrucksmitteln machen, die uns 2025 unmittelbar berühren. Mit Konieczny (schon Wotans Abschied ist das Eintrittsgeld wert), Foster und Spyres, auch mit Holloway und sogar mit Christa Mayer, deren Stimme zu Gunsten großer Charakterisierungskunst den einstigen Glanz leider eingebüßt hat, ist es eindrücklich gelungen. Wotan, verstrickt in seine Schuld, bleibt ein übler Patriarch – und ein leidender Mensch.

© Enrico Nawrath

Es verhält sich also mit den Sängerinnen und Sängern ein bisschen wie mit der Regie: Sie springen mit ihren Gestaltungsmitteln in die Lücken, die Wagner ihnen ließ, auf dass wir mit ihnen, jedes Jahr von Neuem, andere Seiten der Persönlichkeiten entdecken, die wir zu kennen meinen, weil wir sie schon so oft gesehen haben – wie die Walküren. Die erhielten übrigens in der 25. Reihe im tosenden Schlussapplaus ein einsames Buh. Galt es der dritten von links oder der zweiten von rechts? Schwer zu sagen, auch wenn die Begegnung der acht Damen an diesem Abend tatsächlich nicht die klanglich schönste war. Der Buhruf galt auf keinem Fall dem wie immer und nicht allein für Brünnhilde verlässlichen Grane, also Igor Schwab, der, wieso auch immer, im schönen Programmbuch der Produktion keine eigene Biographie bekommen hat. Schade, denn auch der sympathische Grane hat ja eine Geschichte – die man vielleicht erst dann verstehen kann, wenn man ihn ein paar Mal gesehen hat.
Und das Orchester? Simone Young wählt in der ersten Hälfte des ersten Akts betont gemessene Tempi, bevor sie sozusagen aufdreht. Der Vorsichtigkeit des gegenseitigen Erkennens und der dank Hunding gespannten Situation entspricht umgekehrt die rasende Leidenschaft des zweiten Teils; so wird ein Part auf den anderen bezogen – und so bedingt das Andante das Allegro. So hören wir oft kostbare Einzelheiten – und mitreißende Tuttipassagen im dramatisch zupackenden Zeitmaß.
Der Applaus war denn auch, aber nicht allein, für das Orchester und seine Leiterin absolut eindeutig.

Frank Piontek, 28. Juli 2025


Die Walküre
Richard Wagner

Bayreuther Festspiele

Wiederaufnahmepremiere: 27. Juli 2025

Inszenierung: Valentin Schwarz
Musikalische Leitung: Simone Young
Orchester der Bayreuther Festspiele