Festspielhaus, 24. Juli 2017
Die Ouvertüre hat, in der Interpretation des Festspielorchesters unter dem ingeniösen Hartmut Haenchen, einen meisterhaften Bogen, ja: eine höchst gelungene Dramaturgie – wie das gesamte Programm dieses Festakts zum 100. Geburtstag Wieland Wagners, der an eben jenem Ort stattfand, an dem der Schöpfer „Neu-Bayreuth“ kurz nach seinem Tod im Oktober des Jahres 1966 geehrt wurde: auf der Bühne des Festspielhauses, auf der, neben den sitzenden Besuchern dieser Gedenkfeier, damals der Sarg Wieland Wagners und der Festspielchor standen.
Hatte auch Wieland Wagners Leben einen solchen Bogen? Ja – und Nein. Es sind, so legen es die Reden nahe – insbesondere die lange, doch nicht zu lange des ehemaligen Intendanten der Bayerischen Staatsoper, Sir Peter Jonas -, es sind wohl gerade die Brüche gewesen, die das Werk des Regisseurs ermöglicht haben. Nicht nur er weist an diesem zweieinhalb Stunden langen, doch subjektiv wesentlich kürzeren, also höchst unterhaltsamen Abend darauf hin, dass dieses Werk, das nur durch viele Fotos und wenige Schwarzweiß-Filme dokumentiert wurde, trotz seines vergänglichen Charakters unsterblich ist: weil sich, so Jonas, „ohne Wieland Wagner nicht die progressive Theaterkultur der Bundesrepublik hätte entwickeln können“. Die These ist, alles in allem, bemerkenswert: wie ein Opernregisseur, der es mit der entrümpelten Szene, also der in den Wagnerschen Mythos transformierten Antike, dann mit dem Einbruch einer abstrahierten Moderne zu tun hat, noch unsere so ganz anders geartete Theaterkultur indirekt beeinflusst. Denn so viel „Werktreue“ gab es (meint der Rezensent) bei Wieland Wagner wohl nicht. Dafür sprechen schon die schroffen, doch nicht immer ignoranten Einsprüche seiner Kritiker, die man jetzt in der am Vormittag eröffneten Wieland-Wagner-Ausstellung in Wahnfried groß und präsent an die Wände projiziert.
Wie sich Mythos und Moderne, Tradition und Aufbruch, Nationalsozialismus und Demokratie in Wieland Wagners bekanntlich zweigeteiltem Leben bedingten: auch das musikalische Programm dieses Abends machte es klar. Tatsächlich lieferte das Orchester nicht nur Stücke aus Opern, die Wieland Wagner am Herzen lagen, und die er vor allem in seinen letzten Lebensjahren inszenierte. Mit Berg und Verdi – und mit der Ouvertüre zum „Rienzi“ -, die zum ersten Mal im Festspielhaus erklangen, haben die Bayreuther Festspiele ein jetzt schon historisches Konzert ermöglicht, das in die Annalen er Institution eingehen wird. Kommt hinzu die atemberaubende (ja: atemberaubende) Dignität der Interpretation. Kein Wunder, denn mit Haenchen hatte man einen Dirigenten ans Pult gestellt, dem Wagner ebenso vertraut ist wie Berg, und der mit Ausschnitten aus dem dritten Akt des „Othello“ den subtilsten Verdi-Ton produzieren ließ. „Ton“: dies war auch ein Lieblingsbegriff des „Wozzeck“-Komponisten. Man wird daran erinnert, dass auch Pierre Boulez, den Wieland Wagner für den „Parsifal“ engagierte, und den er gern als „Ring“-Dirigenten haben wollte, der „Wozzeck“ und sein Komponist besonders nahe standen – trotz der typisch Boulezschen Kritik, die er zumal in seinen jüngeren Jahren dem Wiener Neutöner, der inzwischen „klassisch“ geworden war, entgegen schleuderte. Auch mit Wozzeck, wie mit Othello (und Lulu und Aida), wollte sich Wieland Wagner von Bayreuth emanzipieren. Ganz ist es ihm nicht gelungen; die Intendanz der Deutschen Oper Berlin blieb ihm verwehrt, der Frust an Bayreuth stieg zunehmend. Die Erinnerung an die Welt jenseits des inzüchtigen Bayreuther Kanons gewinnt an diesem Bayreuther Abend einen Glanz, der Wieland Wagner angemessener ist, als es der Verweis auf Tannhäuser und Parsifal wäre.
Natürlich (aber was war im Falle Wielands schon „natürlich“?) spielt das Orchester am Ende auch eine Musik zur Erinnerung an die Trauerfeier des Jahres 1966. Vorspiel und Verwandlungsmusik aus dem 1. Aufzug, doch in jener Version, die das letzte Mal im Jahre 1883 in Bayreuth zu hören war: mit den ergänzenden Takten und der Wiederholung einer Passage. Damals hatte Engelbert Humperdinck die Musik verlängern müssen, weil das Laufband für die Wandeldekoration zu kurz war. Es ist zumindest historisch faszinierend (und auch deshalb wird der Abend zum geschichtlichen Ereignis), einmal diese legendäre Fassung zu hören. Man hört: es funktioniert nicht, die Wiederholung macht, mit dem Original im inneren Ohr, nur irritierenden, also keinen Sinn, weil (anders als der mittelalterliche Ritterroman) die Dramaturgie des „Parsifal“ keinen „doppelten Cursus“ kennt – aber es ist faszinierend, diesen Teil der originalen Aufführungsgeschichte endlich einmal zu hören. Zudem ist Haenchen ein überragender Wagner-Dirigent, der selbst unter den akustischen Bedingungen der offenen Bühne momentweise jene mystische Stimmung aus dem Orchester herauszuholen vermag, die sonst dem verdeckten Graben vorbehalten ist. So etwas nennt man wohl: delikat.
Delikat war schon die Deutung der „Rienzi“-Ouvertüre, also die Erinnerung an Wieland Wagners Stuttgarter Inszenierung des Jahres 1967. Im Rezensentendeutsch: Haenchen versteht sich auf Spannungsbögen, logische Übergänge, instrumentale Zartheiten und genaues Stimmen- und Linienspiel. Er versteht den genialen Reißer nicht als Mittel zum Zweck der Volksbelustigung, sondern als ernsthaftes – und kompositorisch hervorragend gebautes – Symphonisches Drama in nuce. Und er lässt es bedauern, dass Wagners geniales Frühwerk in Bayreuth keinen Ort hat. Dafür dürfen wir mit Claudia Mahnke in den „Wozzeck“-Bruchstücken eine ganz wunderbare, golden schimmernde Marie hören; wir dürfen die absolute Reinheit des Bergschen Tons, der selbst in den verschatteten, schrägen und gestopften Tönen noch wie dunkles Kristall schimmert, genießen. Wir hören Camilla Nylunds wunderbar intime Desdemona, das Lied an die Weide und ihr Ave Maria; im Riesenrund des Festspielhauses könnte man jetzt eine fallende Stecknadel vernehmen. Wer Camilla Nylund vor einer Woche in der Generalprobe der „Walküre“ hörte, wird wissen, über welch subtile und kostbare Stimmmittel dieser reich timbrierte und fürs italienische Fach prädestinierte Sopran verfügt. Voilá: eine singende Schauspielerin, eine schauspielende Sängerin. Wagner wäre vielleicht, obwohl er Verdi hasste – den er kaum kannte -, auch im Angesicht der Desdemona betroffen gewesen. Und Stephen Gould bringt seinen machtvollen Tenor kurz, aber interessierend für diesen Typ Othello, zuletzt noch ins Spiel, bevor die Szene nach der Ermordung mit einem Pizzicato abbricht.
Brüche also. Sir Peter Jonas spricht von ihnen, indem er von Bellini – einem frühen musikalischen Hausgott des Komponisten des in der Heimat des „Norma“-Schöpfers spielenden „Liebesverbots“ -, diesem großen Musiker und „kleinen Arschloch“, zu Wagner, John F. Kennedy (auch er ein Kind des Jahres 1917) und Wieland Wagner überblendet. Auch die Wieland-Geschichte besteht aus Widersprüchen: hier die Nazizeit und Wielands „ödipale Tragödie“, dort die Entwicklung einer „klaren und radikalen Ästhetik“. Hier die Nähe zu Hitler, Bühnenbildexperimente im Bayreuther Außenlager des KZ Flossenbürg, dort die Einheit von Ethos, Pathos und Logos in der Persönlichkeit des Festspielleiters und Regisseurs, der auf den Trümmern der politisch schmutzigen Vergangenheit ein neues Theater schuf. Hier der „schockierend radikale Opportunismus“ des jungen, verführten Hitlergünstlings, der eigentlich Fotograf und Maler werden wollte (in Wahnfried kann man nun, wohl erstmals öffentlich, einige seiner durchaus gelungenen Porträtgemälde bewundern) – dort ein Mann, der sich nicht leiden kann und aus Scham über die Vergangenheit seines ersten Lebens, die niemals vergehen konnte und wohl deshalb beschwiegen werden musste, in seinem zweiten Leben stumm bleibt; der frühe Tod trifft den früh Gealterten, der mit 49 Jahren schon ergraut ist, von außen gesehen nicht ganz unerwartet. Jonas aber beschränkt sich nicht auf die Nachzeichnung biographischer Daten und Ansätze einer psychologischen Interpretation des komplizierten Charakters. Er erinnert sich an „sein“ Bayreuth der 50er und 60er Jahre, als es noch möglich war, mit Hilfe furchtloser Hausangestellter auf die Beleuchterbrücke zu kommen und sich die Aufführungen anzuschauen. Amüsant und bewegend die Erinnerung an die Zeiten, da die Studenten und Liebhaber so lange Karten tauschten, bis man in der richtigen, also möglichst preiswerten Preisklasse saß. Jonas spricht nicht allein über das „visuelle Belcanto“, das er in der berühmten Erweckungszene der Brünnhilde in einer Fotografie des 1954er „Ring“ repräsentiert sieht, als Wolfgang Windgassen auf Martha Mödl lag. Er spricht auch über die unlösbaren Fragen von Kunst und Moral und über Wieland Wagners Schweigen und seinen Selbsthass, den Nike Wagner in „WAHN/FRIED/HOF“ analysierte: „Mag sein, dass dieses negative Verhältnis zu sich selbst mit der Desillusionierung zu tun hat, die damals einsetzte, mit der Erkenntnis seiner furchtbaren Fehlorientierung und der Introjizierung von Schuldgefühlen.“
Was bleibt? Katharina Wagner weist in ihrer kurzen wie konzisen Rede auf das Vermächtnis der „unvollendeten Persönlichkeit“ hin, den Werkstattcharakter und den Experimentierwillen der Bühne Bayreuth niemals preiszugeben: auf dass im Theater immer wieder ein erfüllter Augenblick entstehe. Am Ende aber sagt Wolf-Siegfried Wagner – aphoristisch, wie nur er das in der Wagner-Sippe zu können scheint: „Irgendwo hier ist er noch, dein Geist“. Und endlich ruft er in die Gasse: „Katharina, bist du am Amt?“
Womit nicht alles, aber sehr vieles – auch über den Vater und Großvater und die Tochter als Erbin ihres Vaters, Onkels und Großvater – gesagt wurde.
Frank Piontek29.7.2017
Fotos: Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath