Wieso können die Leute eigentlich – und uneigentlich – nicht die Füße stillhalten?
Das Vorspiel zum Lohengrin gilt bekanntlich als eine der sublimsten Kompositionen, die Wagner je geschrieben hat. Das beginnt – jeder Trottel weiß das – im pianissimo (zu Deutsch, man muss es den Kindern ja erklären: sehr leise), das im Festspielhaus – auch das weiß man – bekanntlich leiser klingt als in jedem anderen Opernhaus dieser Welt – und die Leute scharren mit den Hufen: bis zuletzt. Die Wirkung ist wieder einmal beim Teufel; da kann sich Christian Thielemann am Pult abmühen, wie er will.
Die Bemerkung über die Nebengeräusche im Festspielhaus, die nur an ganz wenigen Stellen – den dramatischen Generalpausen – schweigen (als wüssten die Leute plötzlich, dass sie Füße haben), betrifft alles andere als eine Nebensache. Sie zielt ins Herz einer Ästhetik, von der die Klügeren, oder anders: die Bewussteren unter den Festspielhausbesuchern wissen, dass sie auf absolute Distinktion zielt. Wenn Christian Thielemann das Orchester der Bayreuther Festspiele leitet und Wagners Musik eine Dramatik einhaucht (von selbst entsteht sie ja nicht, denn Lohengrin, das sind zunächst nur viele Punkte und Striche auf dem Papier), die vom ersten bis zum letzten Takt ergreifen sollte – wenn der Dirigent sich um die deliziösen Gralsankunftstöne im Vorspiel des Lohengrin kümmert, werden seine Bemühungen von relativ wenigen, aber immer hörbaren Musikfeinden konterkariert. Schade um den Beginn – aber Lohengrin geht ja nach dem Schlussakkord (pianissimo in den hohen Streichern) glücklicherweise noch weiter.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
2025 ist es jedoch und wohl unwiderruflich zu Ende mit diesem Lohengrin, also der Lohengrin-Interpretation, die 2018 ihre Bayreuther Premiere erlebte und 2022 eine scheinbar letzte, musikalisch überwältigende Aufführung erlebte; wer, wie der glückliche Autor dieser Zeilen, damals dabei war, schwärmt heute noch davon. Wer genau hinhört, merkt, dass Thielemann auf eine Verlebendigung zielt, die Wagners unfassbar kontrollierte Emphase so flexibel auslegt, dass aus dem quasi logisch angelegten Vorspiel jene Symphonische Dichtung wird, die Wagner in einem Kommentartext wortreich beschrieb. Immer wieder zieht er das Tempo an, verlängert hier, verkürzt dort, ohne dass zumindest ich den Eindruck hätte, dass er den Anweisungen der Partitur Gewalt antäte. Er dirigiert quasi keine Oper, sondern ein Musikdrama avant la lettre. Er weist seine Musiker an, solistisch zu glänzen, ohne den gesamten Bau dem Detail zu opfern – und vice versa. Er begleitet die Sänger – und bietet einen Unterbau, der schwerlich zu überhören ist; wieder vernimmt der „Kenner“ Passagen, feinste Abstimmungen und Phrasen, die er nie oder bislang nur unbewusst wahrgenommen hat. Wo sonst hört man, anders als noch 2018, eine derart spannende und inhaltlich deutbare dynamische Steigerung, nach Elsas „Nimm alles, was ich bin“, von f zu ff zu Beginn des Jubelfinales, die unter Thielemann mezzoforte beginnt? – und der Chor, von dem man vor Beginn der Festspiele mutmaßte, dass er aufgrund der Verjüngung und absoluten Erneuerung Probleme hätte, die vormalige Güte und den „alten“ Glanz zu präsentieren, singt unter dem neuen Chorleiter Thomas Eitler de Lint auf höchstem Niveau: extrem wortverständlich (die kollektiven „Sch“-Laute kommen nach Lohengrins Ansprache im ersten Akt freilich fast manieristisch), rhythmisch sehr genau, klanglich rund und doch konturiert, mit einzelnen noch hörbaren Spitzen – aber man hört sie nur, wenn man, wie Mendelssohn Bartholdy, Eidechsenohren hat. Wie Mendelssohn Bartholdy klingt auch manch Passage in Wagners Partitur; Thielemann gestaltet, zusammen mit dem Chorleiter, einen schlanken und kräftigen, sensiblen und dramatischen Lohengrin. Nicht allein das Vorspiel zum dritten Aufzug kommt sehr lebhaft daher.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Und wie singen sie nun? Elza van den Heever ist eine sehr frauliche, also erwachsene Elsa: mit leicht scharfen wie reizvollen Spitzentönen, die ahnen lassen, dass sie den Weg der Emanzipation, den sie mit Ortruds Hilfe beschreitet, aus eigenem Ermessen geht. Sie ist gewiss keine mädchenhafte, sondern eine großstimmige, im Lyrischen wie im Dramatischen souveräne Elsa, die das Publikum am Ende – m. M. nach zu Recht – zu Jubelkaskaden provoziert. Ihre Gegenspielerin und zugleich ihre politische Verbündete im Kampf gegen die korrupte und usurpatorische Männerherrschaft (Elsa erfährt es im dritten Akt) ist die Ortrud der Miina-Liisa Värelä – eine Hochdramatische, die mit stärkstem Ausdruck Wagners Ansicht, dass eine politische Frau etwas Furchtbares sei, zugleich konterkariert und glücklicherweise bestätigt (wie mag wohl die im Parkett sitzende Ex-Kanzlerin Angela Merkel auf diese Figur und ihre Interpretin geschaut haben?). Dass sie nun, anders als in der Premierenserie, eine latent monströse, weil mit Spinnenapplikationen besetzte Handtasche trägt, gehört zu jenen Regie- und Kostümeinfällen, die eine an sich doch fokussierte Deutung merkwürdigerweise stören – auch wenn ihre fledermausartigen Flügel schon immer darauf hindeuteten, dass sie anders als die anderen (Flugviecher) ist.
Lohengrin ist wieder Piotr Beczała: eine glückliche Wahl, denn der Sänger „kann“ sowohl den strahlend auftretenden wie verdüsterten Helden aus der Anderswelt: vom ersten Auftritt und zärtlichen Schwanabschied über die Zornausbrüche des zweiten zur Brautgemachszene des dritten Akts, bis hin zur genau durchartikulierten Gralserzählung. Bleiben auf der Seite der Deutschen und der Brabanter der schütter klingende Telramund des Olafur Sigurdarson (sein Alberich hat mir wesentlich besser gefallen), der glänzende König des Mika Kares und der gleichsam vorbildliche Heerrufer des Michael Kupfer-Radecky. Man könnte diese Partie auch sachlicher und weniger beteiligt, also staatsmännisch formeller singen (Roman Trekel war in Bayreuth einst so ein Repräsentant des Staats) – aber so geht es auch. Sie alle gliedern sich wie selbstverständlich in eine Inszenierung ein, die seit 2018. an Tiefenschärfe gewonnen hat. Die Titelfigur, Wagners Projektionsfläche für seine (und vieler Zeitgenossen) Idee eines republikanischen Königtums, später seines (nur scheinbaren!) einsamen Künstlerdaseins, ist immer noch, wie das Dramaturgenpärchen der Bortnichaks im Programmheft schreibt, „gleichzeitig der unbekannte Künstler/Held aus dem Jenseits, Spiegelbild unerreichbarer futuristischer Perfektion“ und ein „Standartenträger männlicher Dominanz“, ja: der Regisseur Yuval Sharon hat letzteren Aspekt noch verschärft, indem er nun, wesentlich expliziter als zuvor, das Motiv der Fesselung der Frau durch den Mann nicht erst im Brautgemach verwendet, sondern durch die Akte laufen lässt. Nun wird nicht allein Elsa gefesselt zum Münster geführt, auch die blütenstreuenden Frauen treten gebunden und nicht mehr ridikül lächelnd auf – und werden, meist ziemlich rüde, von ihren Männern an den ihnen zustehenden Platz gebracht. Die Zeiten sind offensichtlich vorbei für das realsozialistische Wunschbild. Ortrud betätigt sich als Revolutionärin, indem sie Elsa, gegen ihren Willen, der natürlich eintrainiert wurde, entbindet – und Lohengrin fesselt Elsa am Ende des zweiten Akts von Neuem. Zu flackern aber beginnt’s im Elektrohaus erst wieder, wenn Elsa aufbegehrt: bis zum Schlag, der sie, notwendigerweise, von Lohengrin trennt.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Das alles, so plakativ es auch erscheinen mag, indem es eine einseitige Interpretation der Beziehungen zwischen Lohengrin und Elsa vornimmt, hat Auswirkungen auf die Sicht auf die Inszenierung. Denkt man zunächst noch, dass man der Regie – zwischen dem Mottengewusel und dem infantilen Flugspiel der luftlings kämpfenden Knaben (als wär’s eine Inszenierung von Cosima Wagner von Anno 1900) zum giftgrünen Waldmännchen des Finales – mit einer guten Portion Humor sogar etwas objektiv Komisches abgewinnen kann, dreht sich spätestens Mitte des zweiten Akts das Bild. Lohengrin wird unversehens zum Geschlechterdrama der Wagnerzeit, über dessen Relevanz für die Gegenwart wir Heutigen uns unterhalten könnten. Der Bühnenausstatter Neo Rauch und seine Partnerin im Leben und der Kunst, die Kostümgestalterin Rosa Loy, haben einmal geschrieben, dass es ihnen zwingend schien, „die Handlung im zeitlichen Raum zwischen den gestrickten Kragen eines Anthonis van Dyck und der neoromanischen Industriearchitektur des frühen Elektrifizierungszeitalters freischwebend zur Entfaltung zu bringen, was freilich vor dem Hintergrund des – hochenergetische Sachverhalte verhandelnden – Lohengrinstoffs einen überzeugenden Spannungsbogen entstehen ließ“. Nun endlich gibt es diesen Bogen: feministisch gewichtet (man könnte ja auch Lohengrins deutlich hörbare Traurigkeit reflektieren) – und theatralisch durchaus stark. Denn die Inszenierung, in die Yuval Sharon die Figuren gestellt hat, bezieht ihre Kraft vor allem aus dem Geist des neueren (Leipziger) Surrealismus. Der Realismus des Werks verflüchtigt sich ins Malerische einer bildhaften Inszenierung, die den unwirklichen Bildchen durchaus eindrucksvoll Raum gibt: Ortrud und Telramund in der Dunkelheit, Elsa im elektronischen Gehäuse, ihr Kopf schimmernd in der Nacht: völlig unabhängig von jeglicher Bedeutung hat die Szene etwas Impressives, als wär’s ein Gemälde von Henri Rousseau oder Rene Magritte (oder Neo Rauch). Neo Rauchs stehende und wandernde Prospekte zeigen immer wieder weite große Wolken über einer Küstenszenerie, das Schilf schimmert tiefblau, der einzige Kontrast ist das grelle Orange der Welt der wieder angeworfenen Elektrizität (Lohengrin tritt immer noch wie ein heilbringender Monteur auf), und die Nuancen zwischen Blau und Grau betören jetzt so stark, man gewöhnt sich ja an Vieles, dass man selbst die lächerlichen, weil betont deutlich wuselnden Mottenmenschen mit ihren spät erleuchteten Flügelspeeren als integrale Teile eines Bildgesamtkunstwerks zu akzeptieren bereiten ist. Wenn man sich zudem daran erinnert, dass Hans Neuenfels in seiner – theatralisch viel strengeren, doch bildlich vergleichbar konsistenten – Bayreuther Lohengrin-Inszenierung das opportunistische Volksheer als Mixtur aus Mensch und Tier (nicht als Ratte!) auf die Bühne brachte, kann man den Lohengrin von Rauch und Loy durchaus als Fortsetzung einer Denktradition begreifen; der Mozart-Liebhaber mag auch an Hans Neuenfels’ genialische Salzburger Così fan tutte-Inszenierung von 2000 denken, in der das Bild der in den Bernstein eingeschlossenen Insekten ubiquitär war.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Im Bayreuth des Jahres 2025 sind die Figuren eingeschlossen in ihrem engen Kosmos – bis Elsa und Ortrud sich von den männlichen Interessen befreien. Was bleibt, sind Elsa, Ortrud und das seltsame grüne Männchen, das mit einer Geste das gesamte Volk tot oder ohnmächtig zusammenbrechen lässt: eine Energie, die die Gralsenergie auf verstörende Weise übernimmt. Noch das Schlussbild birgt ein Rätsel – aber Schwäne gehören ja zu den aggressivsten Vögeln unter der Sonne. War es also gut, dass Ortrud Gottfried verzaubert hat?
Die Inszenierung mag nicht zu vielen Fragen animieren, aber Einiges bleibt doch offen – und das ist gut so. Nicht offen bliebt die Frage, wie die Besucher die Musiker feierten: das Getrampel auf dem historischen Boden des Zuschauerraums von 1876 und das Gejohle waren jedenfalls so eindeutig wie manch Setzung, die das Regieteam mit den beiden die Inszenierung dominierenden Bildkünstlern am unauslotbaren Stoff vorgenommen hat.
Wieder mal leider ein PS: Man sollte den Leuten endlich ihre Handys wegnehmen. Wer am Ende „nur“ klatschen und sich die Künstler vor dem Vorhang anschauen möchte, hat schlechte Karten – irgendein Mensch steht garantiert schon vor einem, wenn nicht, sofort nach dem Schlussakkord, Hunderte von Besuchern wie aufs Kommando ihr Handy einschalten und in die Höhe heben, um sinnlose Fotos zu schießen, die sie sich danach nicht mehr anschauen. Und noch was, liebe Leute: Kein Künstler sieht von der Bühne aus auch nur einen Zuschauer, auch wenn der sich noch so schnell von seinem Platz erhebt. Lasst den Blödsinn – und konzentriert Euch bitte aufs Wesentliche! Es ist völlig ausreichend.
Frank Piontek, 5. August 2025
Lohengrin
Richard Wagner
Bayreuther Festspiele
Aufführung am 4. August 2025
Wiederaufnahmepremiere am 1. August 2025
Bühnenbild und Kostüme: Neo Rauch, Rosa Loy
Inszenierung: Yuval Sharon
Musikalische Leitung: Christian Thielemann
Festspielorchester Bayreuth