Zum 100jährigen Jubiläum der Bayreuther Festspiele löste der damals 31-jährige Patrice Chéreau 1976 mit seiner Neuinszenierung von Richard Wagners Ring des Nibelungen wüste Proteststürme aus, die sich allerdings von Jahr zu Jahr abschwächten, bis die Produktion am Ende sogar zum „Jahrhundert-Ring“ glorifiziert wurde. Auch Valentin Schwarz‘ derzeit aktuelle Inszenierung im Vorfeld des 150-jährigen Festspiel-Jubiläums stieß auf heftigen Gegenwind, der sich heuer im vierten Anlauf ebenfalls milderte, aber nicht abklang. Und dabei ist die Inszenierung ohne Chancen, so nachhaltig in Erinnerung bleiben zu können wie Chéreaus maßstabsetzende Auseinandersetzung mit dem gigantischen Werk.
Woran mag das liegen? Nicht nur daran, dass Schwarz‘ Regie-Handwerk in Sachen Personenführung nicht annähernd an die geniale Arbeit Chéreaus heranreichen kann. Mehr noch daran, dass er die Botschaft des Werks nicht ernst nimmt und diese ihm offensichtlich nicht mehr für eine zeitgemäße Deutung reicht. Womit er nicht allein steht. Wagners visionäre Warnung vor empathielosem Kapitalismus und Machtstreben ohne Rücksicht auf den Erhalt von Natur und Menschheit scheint manchem Regisseur zu pathetisch und belehrend, obwohl die Botschaft angesichts der aktuellen politischen Lage so aktuell ist wie lange nicht mehr.
Auffallend ist ein allgemeiner Rückzug der Thematik in die privaten Bereiche der Figuren. Der Ring wird immer mehr zur „Familien-Saga“ umgedeutet, so bei Dietrich Hilsdorf an der Deutschen Oper am Rhein und sogar bei Peter Konwitschny in Dortmund. Und Valentin Schwarz toppt diese Tendenz, indem er die Todfeinde Wotan und Alberich zu Zwillingen erklärt und den verheerenden Kampf um die Weltmacht auf einen familiären Zwist reduziert – mit Konsequenzen, die die gesamte Struktur und Dramaturgie des Stücks aus den Angeln heben, so dass das Geschehen auf der Bühne die Bindung zum Libretto und der Musik verliert und ein willkürliches und unverbindliches Eigenleben führt.
Die abstrusen Widersprüche zwischen Darstellung und Text dürften angesichts der oft miserablen Textverständlichkeit der Sänger vielen weniger werkkundigen Besuchern nicht direkt auffallen, was die Schwächen nicht entschuldigt. Dass sich Klaus Florian Vogt als Siegfried mit seiner klaren Diktion nahezu konkurrenzlos vom Großteil des Ensembles abhebt und dass von Tomasz Konieczny als Wotan selbst in den von Wagner besonders behutsam orchestrierten Monologen kaum ein Wort zu verstehen ist, ist ein Armutszeugnis für die heutige Gesangskultur. Umso sinnvoller wären Übertitelungen, wie sie heute selbst an den kleinsten Bühnen üblich sind, gegen die sich die Festspielleitung aber beharrlich sperrt. Dass alle Besucher so textaffin sind, dass man auf Verständnishilfen wie Übertitel verzichten kann, dürfte mittlerweile eher überholten Wunschvorstellungen als der Realität entsprechen. Was die Internationalität des Publikums angeht, leistet etwa die Lütticher Oper Pionierarbeit, wenn sie die Werke problemlos in vier Sprachen übertitelt.
Dass Schwarz mit seiner Umdeutung Inhalt und Logik des Werks aus der Balance wirft, ist mehr als eine problematische Eigenmächtigkeit. Dass er damit zugleich die eng getaktete Struktur des Werks aus dem Zusammenhang reißt, zeugt von einem fehlenden Verständnis der Tetralogie und, ebenso schlimm, auch von mangelndem Respekt vor der genialen Anlage des Stücks. Wagner spinnt seine Botschaft in ein diffiziles Geflecht von textlichen und musikalischen Motiven ein, in dem die Figuren, Symbole und musikalischen Leitmotive eng aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind. Eingriffe in die Struktur wirken sich verheerend wie eine unaufhaltsame Laufmasche oder gar ein Lauffeuer aus. Genau diese Gefahr hat Patrice Chéreau erkannt und gebannt. Er ist keinen Deut vom Sinn des Textes abgewichen, hat die filigrane Struktur in keinem Detail verletzt, sondern die Handlung lediglich aus der abstrakten mythologischen Fantasiewelt in die Zeit des Frühkapitalismus verlagert, womit er die Klarheit der Warnung Wagners so deutlich herausstellte, dass sie mancher „Wagnerianer“ als unerträglich unbequem empfand. Und das alles mit absoluter Konsequenz, handwerklicher Perfektion und viel Gespür für die theatralische Dynamik des Werks.
Wenn man mit der filigranen Textur des Rings so willkürlich umspringt wie Valentin Schwarz, schafft man viel Verwirrung und Ungereimtheiten und lenkt von der warnenden Intention Wagners ab, die immer ihre Berechtigung behalten sollte, was nichts mit konservativ-rückständigen Vorstellungen von Werktreue zu tun haben muss, wie Chéreau bewies.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Hier nur einige Beispiele, mit denen Schwarz für Irritationen sorgt:
1. Der Umgang mit Symbolen
So komplex Wagner die Textur strickte, so sehr kam es ihm stets auf Klarheit an. Hilfestellung leisten dabei einige zentrale Symbole, mit denen Schwarz aber nichts oder nur wenig anfangen kann. Die Weltesche taucht bei ihm nur in der Walküre beiläufig auf. Im Programmheft heißt es nur lapidar: „Sturmwind brachte eine alte Esche zu Fall.“ Dabei geht es nicht um eine beliebige Esche, sondern um die Weltesche, dem zentralen Symbol einer intakten Natur, die Wotan verletzte, indem er seinen Speer aus einem ihrer Äste schnitzte. Im Laufe der Tetralogie dorrt die Weltesche vor sich hin, bis Brünnhilde am Ende der Götterdämmerung aus ihren Scheiten den Brand entfacht, mit dem sie die alte empathielose, machtbesessene Welt dem Untergang weiht. Indem Schwarz die Weltesche unberücksichtigt lässt, entzieht er dem Werk den Aspekt der Verantwortung für den Schutz der Natur.
Keine Rolle bei Schwarz spielt auch Wotans aus der Weltesche stammender Speer. In den Speer schnitzt er die Runen der Verträge, mit denen er sich die Welt untertan machen möchte und sich dabei bis zur Handlungsunfähigkeit verstrickt. Konzeptlos geht Schwarz auch mit dem Schwert um, das Wotan in der Weltesche für seinen Sohn Siegmund hinterlässt: Notung, das vermeintlich unbesiegbare Schwert, mit dem Siegmund Wotan im Kampf gegen Alberich beistehen soll. Schwarz ersetzt das Schwert durch einen Revolver, bevor es dann im Siegfried doch unvermittelt als Schwert auftaucht.
Mehr Gedanken machte sich Schwarz um den Ring, dem Symbol der Weltherrschaft, das ein hemmungs- und rücksichtloses Jagen auslöst. Wer aus dem zunächst materiell bedeutungslosen Rheingold einen Ring schmiedet und gleichzeitig der Liebe entsagt, kann sich zum „Walter der Welt“ aufschwingen und genau das tut Alberich, der Nibelungenfürst. Allerdings präsentiert Schwarz den Ring als Knaben, mit dem Alberich seine Machtvorstellungen realisieren will. Dass dieser Knabe sich letztlich als Hagen entpuppt und ein weiteres Kind aus der Heldenschmiede von Brünnhilde und Siegfrieds für Verwirrung sorgt, gehört zu den schwächsten Einfallen der Inszenierung.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
2. Die Genealogie des Rings
Die Genealogie der Rings mit ihren Göttern, Helden, Riesen, Nibelungen, Walküren und vielem mehr mag auf den ersten Blick verwirren, ist aber von Wagner schlüssig und wohl bedacht angelegt. Dass Schwarz den „Lichtalben“ Wotan und den „Nachtalben“ Alberich als Zwillingspaar deutet, kann man hinnehmen, auch wenn die beiden „über den Wolken“ und „im Nabelnest der Erde“ räumlich strikt voneinander getrennt leben. Absurd wird es aber, wenn Sieglinde bereits zu Beginn der Walküre vor ihrer Begegnung mit ihrem Bruder Siegmund hochschwanger über die Bühne wankt. Siegmund und Sieglinde, das Wälsungen– und Geschwisterpaar, hat Wotan bewusst mit der Absicht gezeugt, die beiden in höchster Not aufwachsen zu lassen, um sie im Elend so weit zu stählen, dass sie Siegfried, den „hehrsten Helden der Welt“, zeugen können. Minutiös instrumentalisiert Wotan die Kinder, führt sie bewusst zusammen, damit sie, frei von jeder moralischen Fessel, die Wotans Handeln hemmt, freier als er, der Gott, agieren können. Wenn Schwarz im Programmheft fragt: „Ist Hunding der Vater?“ wird der Verlauf der gesamten Walküre sinnlos. Der große Streit zwischen Fricka, Wotans Gemahlin und Hüterin der Ehe und Moral, und Wotan über den Inzest der Geschwister verliert seinen Anlass. Wotan müsste auch nicht dem Befehl Frickas, Siegmund zu fällen, nachkommen, Brünnhilde müsste sich nicht dem Gebot Wotans, Siegmund den Schutz zu entziehen, widersetzen, Wotan müsste nicht Brünnhilde wegen ihrer Befehlsverweigerung verstoßen und Sieglinde könnte ihr Kind unbesorgt zur Welt bringen. Die minutiös geplante und letztlich aus dem Ruder laufende Instrumentalisierung der Wälsungen wäre überflüssig.
Und auch die Rolle der Walküren wird bedeutungslos. Neun Töchter zeugte Wotan, die ihm, als Walküren zu bedingungslosem Gehorsam gedrillt, auf dem Schlachtfeld gefallene Helden zuführen sollen, mit dem er eine Super-Armee gegen das Nibelungen-Herr aufbauen möchte. Die militärisch-strategische Bedeutung der Walküren verliert ohne den politischen Akzent des Stücks ihre Substanz. Da können sie auch, wie bei Schwarz, ihr Dasein als verwöhnte Beauty-Girls in einer Schönheitsklinik vertrödeln.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
3. Die Psychologie des Rings
„Mein Schlaf ist Träumen, mein Träumen Sinnen, mein Sinnen Walten des Wissens.“ So spricht Erda, die Urmutter, im Siegfried zu Wotan. Es ist der Blick in die Welt des Unbewussten, die zum Erkenntnisgewinn tieferer Wahrheiten führt. „Wie aus tiefem Sinnen kommend“ beginnt auch Wotan seinen großen inneren Monolog in der Walküre, endend mit der deprimierenden Erkenntnis: „Nur eins will ich noch: das Ende – das Ende.“
Wenn Erda jedoch schon über die Bühne humpelt, bevor Wotan sie weckt, wirkt das nicht nur albern, sondern verkennt auch die psychologische und philosophische Bedeutung des Schlafs. Ebenso unreflektiert geht der Regisseur mit Alberich und Hagen in der Götterdämmerung um. „Hagen, den Speer im Arm, den Schild zur Seite, sitzt schlafend an einen Pfosten der Halle gelehnt“, heißt die Regieanweisung im zweiten Akt der Götterdämmerung. Welchen Sinn ergibt Alberichs Frage „Schläfst du, Hagen, mein Sohn?“, wenn der Filius an einem Sandsack seine Muskeln stählt? Und dass Wotan Brünnhilde in einen langen Schlaf versenkt, hat auch seine Gründe.

© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
4. Der Ring als Musiktheater
Die inhaltlichen Ungereimtheiten der Inszenierung banalisieren nicht nur die visionär-utopische Intention des Werks, sondern kollidieren auch immer wieder mit der Musik. Der Orchesterpart kommentiert pointiert die Aussagen des Textes. Wenn darauf keine Rücksicht genommen wird, bildet die Musik nicht mehr als eine Klangfassade ohne weiteren Erkenntnisgewinn. Wobei es verwundert, dass Schwarz so wenig Sinn für die theatralischen Effekte des Werks erkennen lässt. Wagner hat mit untrüglichem Instinkt einen Ausgleich zwischen bedeutungsschweren, die Konzentration der Zuschauer stark fordernden Passagen und wirkungsvollen Effekten mit viel Bühnenzauber und musikalischen Ohrwürmern angestrebt. Eine sinnvolle Praxis, um die Aufmerksamkeit des Publikums in Spannung zu halten. Dass das Feuer als schützendes Element in der Walküre und als reinigende Kraft im Finale der Götterdämmerung lediglich im Teelicht-Format zum Zuge kommt, wirkt nicht nur billig, sondern verkennt auch hier die Kraft eines wichtigen Symbols wie die des Feuers.
Insgesamt eine unausgegorene, banale und alles andere als erhellende Deutung des Rings. Im nächsten Jahr steht eine KI-unterstützte Neuinszenierung auf dem Programm. Vielleicht kommt die „künstliche“ Intelligenz zu überzeugenderen Lösungen als manche „menschliche“.
Pedro Obiera, 5. August 2025
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