Bayreuth: „Parsifal“, Richard Wagner

Man kann sich, vor dem 1. Akt im Königsbau sitzend, natürlich auch Gedanken über den Widerspruch von Werk und Welt machen. Da wird zu schönsten Tönen die Depression der Erde gezeigt – und die Besucher freuen sich schon auf die Pausen-Verköstigung (Champagner und Bratwürste inklusive). Ein bisschen ist es also immer noch wie in jenen Zeiten kurz nach 1900, in denen Alban Berg und Igor Strawinsky böse-lustvoll die Bayreuther Intermezzi glossiert haben. 2025 ist Parsifal, aller gezeigten Probleme ungeachtet, vor allem ein ästhetisches Erlebnis, wozu die Augmented-Reality-Brillen intensiv beitragen, auch wenn nicht jeder Besucher über den optischen overkill, den die Bühne und die AR-Pictures ins Gehirn drücken, glücklich sein dürfte. Schaut man sich den 1. Akt an, gerät man denn doch ins Grübeln.

Andreas Schager (Parsifal), Lavinia Dames (Klingsor Zaubermädchen), Marie Henriette Reinhold (Klingsors Zaubermädchen)
© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Wenn Michael Volle den Amfortas so stimmstark und charakteristisch, aber vor allem in jeder Silbe absolut wortverständlich bringt, wird man wieder aufs Wesentliche zurückgeworfen. Es ist der eminente Sänger/Darsteller, der das Drama plötzlich zum Vorschein bringt, ja: erst realisiert. Es sind die Sängerinnen und Sänger, die mit Wagners Ethos – wie problematisch es auch für eine einigermaßen aufgeklärte Gegenwart sein mag – ernstmachen. Der Regisseur Jay Scheib, dem es in seiner Deutung um die Ausbeutung der Erde durch den nach Lithium und seltenen Erden, also den nach einem etwas anderen „Gral“ gierenden Menschen geht, zeigt die Wunde(n) des verletzten Menschen und der vom Menschen verletzten Natur – und Michael Volle repräsentiert an diesem Abend wie kein Zweiter eben diese Wunde. Aus dem symbolisch-allegorischen Theater wird plötzlich ein ganz nahes. Und Parsifal – das ist eine der bedeutenden Stellen der Inszenierung – gerät als einziger der Anwesenden während der ersten Gralszeremonie in einen wirklichen, mitleidvollen Blickkontakt mit dem leidenden Amfortas. Dass er „nicht wissen“ kann, was er da sah, ist angesichts des schauerlichen Blutrituals nur zu verständlich, sein Schweigen so beredt wie der Zorn des in die Gralsangelegenheiten verstrickten Gurnemanz.

Ekaterina Gubanova (Kundry), Andreas Schager (Parsifal)
© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Man sieht: Je öfter man die auf den ersten Blick einfach daherkommende Inszenierung schaut, desto psychologisch interessanter wird sie, auch wenn die zwischen den verschiedensten Objekten changierende Gral-Symbolik darauf hinweist, dass es „den Gral“ nicht gab und nicht gibt: weder für Klingsor, in dessen künstlichem Paradies eines hippiemäßigen Gartens der Lüste noch im innerlich und äußerlich verdorrten Gralsgebiet. Was schließlich bleibt, ist die Abwesenheit jeglicher Transzendenz – und der vorsichtige Einzug der wirklichen, beziehungsnahen Liebe; Kundry II und Gurnemanz, die Helden des inszenierten Vorspiels, machen ja schon mal vor, wie so etwas aussehen könnte – und Georg Zeppenfeld und Michaela Bauernfeind, die als „Edelstatistin“ zu bezeichnen untertrieben wäre, sind wirklich ein schönes Paar. Dass das Gralsreich nicht völlig verloren ist, zeigt ja schon die Tatsache an, dass es unter den „Rittern“ auch zwei weibliche Knappen gibt. Also alles gut auf dem Hügel, wenn das Publikum schließlich, hoffentlich, kapiert, worum es in dieser Parsifal-Deutung zentral geht: um ein neues Bewusstsein gegenüber Mensch und auch tierischer Umwelt. Nichts anderes hat Richard Wagner 1882 von seinen Besuchern erwartet.

Andreas Schager ist wieder der Parsifal – und er singt, o höchsten Gesanges Wunder, über weite Strecken tatsächlich leise. Es klang so schon im Premierenjahr 2023, aber es fällt auch heuer auf: Schon die Wunden-Arie wird nicht zum durchgebrüllten Monolog, und erst recht fast magisch klingen die Karfreitagstöne aus Schagers Kehle. „Auch deine Träne ward zum Segenstaue“ – so muss man das machen. Ekaterina Gubanova ist eine packende und schöne Kundry, die im Lauf des zweiten Akts stimmlich immer besser und reiner wird; je dramatischer sie vokal und gestisch agiert, je mehr sie also aufdrehen muss, desto souveräner wird ihr Gesang. Georg Zeppenfeld ist ein Gurnemanz von stärkster, wenn auch im Bassgrund nicht völlig gefestigter Gestaltungskraft: genau, vokal ungefähr das genaue Gegenteil von Ludwig Weber (um einen der von einem älteren Bayreuther Publikum verehrten Kämpen der frühen Nachkriegszeit zu nennen). Jordan Shanahan ist schließlich ein Klingsor mit schwarz geschliffenem Bariton, der den Vertreter der Ballroom-Culture wie immer flamboyant ausstellt. Und da Parsifal eine Choroper ist, muss der Chor extra belobigt werden: unter Thomas Eitler de Lint realisiert er eine Festspiel-Aufführung.

Michael Volle (Amfortas), Andreas Schager (Parsifal), Ekaterina Gubanova (Kundry), Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Chor und Statisten
© Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Der orchestrale Unterbau wird von Pablo-Heras Casado geleitet. Ich gesteh’s: Nicht alles gefiel mir am Dirigat. Die Temposchwankungen, die dramatisch motiviert sein mögen, irritieren immer noch ein wenig, manch Spannungsbogen wird unterbrochen, manch dynamische Möglichkeit (ich weiß: man muss das Parsifal-Orchester nicht wüten lassen) unausgetestet. Bisweilen ertappte sich der Opernfreund dabei, dass seine Gedanken abschweiften – was an der insgesamt zurückhaltenden Inszenierung wie an der orchestralen Schicht gelegen haben könnte. Nur die viertelstundenlange wie unappetitliche Wundenversorgung bietet per vorproduziertem Video etwas auf, was, neben den Leichenattrappen der zum Teil geköpften Klingsor-Krieger und Blumenfreunde, sensible Gemüter verschrecken könnte, doch schon während des Vorspiels, also der geträumten oder erinnerten Liebesszene zwischen Gurnemanz und Kundry II, kam es im rechten Parkett zu einem dramatischen Zusammenbruch.

Der Rest war einfach nur ein „schöner Opernabend“ – mit wesentlichen und wesentlich berührenden Auftritten und Momenten. Der Widerspruch von Werk und Welt bleibt bestehen – und wird doch gelegentlich aufgebrochen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Frank Piontek, 9. August 2025


Parsifal
Richard Wagner

Bayreuther Festspiele

Aufführung am 9. August 2025
Wiederaufnahmepremiere am 30. Juli 2025

Inszenierung: Jay Scheib
Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado
Festspielorchester Bayreuth