Was ist eigentlich – und uneigentlich – eine Inszenierung? Man versteht darunter, vertraut man dem einschlägigen Internet-Lexikon, „das Einrichten und die öffentliche Zurschaustellung eines Werkes oder einer Sache. Dies betrifft im engeren Sinne den Bereich der darstellenden Kunst“. Schon recht, aber gehört zu einer Inszenierung nicht auch immer der oder die Inszenierte, also im Fall des Musiktheaters ein Sänger oder eine Sängerin?
Der Rezensent muss sich für diese geradezu Fischer-Lichtesche (nichts gegen Erika Fischer-Lichtes Einführung in das Theater!) Trivial-Einführung bei seinen Lesern entschuldigen – aber Wikipedia unterschlägt, dass eine Inszenierung anders aussähe und klänge, wenn nicht Klaus Florian Vogt, sondern, zum Beispiel, Andreas Schager den Siegfried sänge, der die Rolle im Premierenjahr der Inszenierung des Ring des Nibelungen durch Valentin Schwarz quasi kreierte, wie man im Bühnenjargon des 19. Jahrhunderts sagen müsste. Denken wir nur an die Schmiedelieder. In jedem „normalen“ Opernhaus, also einem Haus, in dem der Orchestergraben nicht verdeckt ist, klingen sie barbarisch (kein Wunder, dass einige der ersten Hörer, die die Lieder seit 1863 im Konzertsaal zu hören bekamen, der Wagnerschen Musik einen „Stempel der Gewaltsamkeit“ attestierten. So zu lesen am 14. November 1863 in der National-Zeitung). Als Schager sie 2022 sang, besser: performte, klang’s gewaltig von der Bühne, zusätzlich verstärkt durch das rhythmische Schlagen auf die drei Seiten eines Türrahmens. Dieser Siegfried war sicht- und hörbar ein wildes Kind, ja, ein ausgesprochener Rock’n Roller.

© Enrico Nawrath
Seit 2024 erfahren wir, dass Siegfried zwar immer noch ein ungestümer junger Mann ist – aber wir kapieren auch, dass die Schmiedelieder nirgendwo so erträglich klingen wie in Bayreuth. Obwohl Wagner in den mittleren 1850er Jahren noch nicht wusste, dass ihm einmal ein Bayreuther Festspielhaus mit den speziellen akustischen Bedingungen zur Verfügung stehen würde (Siegfried wurde hier und nicht in München uraufgeführt), schrieb er bereits einen Orchester- und Vokalpart, der die zeitgenössischen Hörgewohnheiten – allen Lärm bei den heute noch bekannten und unbekannten Opernkomponisten mal abgezogen – arg herausforderte. Gewiss: Wenn man die Lieder so spielt, wie sie geschrieben stehen, also mit allen dynamischen Nuancen und mit dem zeitgenössischen Instrumentarium, haben Sänger und Hörer keine Probleme da durchzukommen. Im Bayreuth des Jahres 2022 gelang es, weil Schager bekanntlich über eine „Röhre“ verfügt und der Orchestergraben vieles abmildert – im Bayreuth des Jahres 2025 ist es der Sänger der Titelpartie, der die barbarisch sein könnenden Lieder ganz elegant macht. Schließlich heißt er Klaus Florian Vogt, dessen Stimme in den letzten Jahrzehnten an Tiefe und Kraft gewonnen hat, ohne an Leuchtkraft verloren zu haben. Das schließt Gewaltexzesse gegen den Ziehvater ja nicht aus; immer noch drückt er Mimes Kopf in die Mikrowelle, und immer noch findet ein anschließendes Waterboarding statt (das bei Schager stets brutaler ausfiel als bei Vogt). Dieser Siegfried ist also ein anderer Siegfried als der des Andreas Schager, obwohl sich rein gestisch kaum etwas geändert hat.
So viel zur Inszenierung.
Vogts Stimme: Sie schwebt wie ein im Wind segelnder Vogel über dem Waldweben, sie drückt und drängt nicht präpotent, wenn es gilt, „die Frau“ zu erobern, sie zeigt einen sensiblen Siegfried bei der Seelen-Arbeit. In diesem Sinne ist er wirklich und annähernd so jugendlich, wie Wagner sich den jungen Mann vorstellte – und wo Wagner ausdrücklich auf absolute Deutlichkeit setzte („Die großen Noten kommen von selbst; die kleinen Noten und ihr Text sind die Hauptsache“), macht Vogt vor, wie sie zu klingen hat.

© Enrico Nawrath
Großartig, weil, zumindest für den Autor dieser Zeilen, ist ja schon die szenisch-musikalische Übereinstimmung, die auch sonst, zumindest nach meinem subjektiven Empfinden, in dieser Inszenierung herrscht. Wenn Fafner, alt und psychisch verpanzert, in seinem Krankenbett lebensfeindlich dahinsiecht, harmoniert’s prachtvoll mit den engen und finsteren Sekundschritten, die die Kontrabasstuba zusammen mit der Basstuba und der Posaune über den Paukenschritten und den Tremoli der tiefen Streicher formuliert. Fafners Höhle – man sieht sie, auch wenn mancher Zuschauer einen Wald oder sonst etwas an „Romantik“ vermissen mag. Hier treten mit dem Wanderer und Alberich zwei alte Herren auf, die ihren Ringkampf am Sterbebett des uralten Ekels weiterführen. Thomas Konieczny und Olafur Sigurdason machen das wieder großartig, zumal Konieczny als wie aus einer Telenovela entsprungener Patriarch und Sigurdason als proletarischer Underdog (schon ihre Blumengaben sagen alles über sie aus) auch vokal auf der Höhe sind; Koniecznys Stimmklang bleibt, man hört’s am Abend öfters, natürlich reine Geschmackssache, aber das Gesamtpaket Wotan / Wanderer stimmt vollkommen.

© Enrico Nawrath
Neu im Ensemble ist die Erda der Anna Kissjudit. Stärker noch als im Rheingold, in dem sie bereits höchst positiv auffiel, ist ihre Siegfried-Erda. Nun darf sie, als Prophetin auf verlorenem Posten, die genauso wenig über die Zukunft weiß wie wir alle, bei aller Deutlichkeit herzhaft orgeln. Gänzlich grandios also ihr Gespräch mit dem Wanderer, in dem zwei Urgewalten aufeinanderstoßen. Neu ist auch der Waldvogel. Victoria Randem hat eine für einen Waldvogel ungewöhnlich große, hellrund leuchtende Stimme, die – aber das ist schon eine Beckmesserei – an den Rändern noch etwas konturiert werden könnte, um ganz zu wirken. Die Sängerin hat sich mit der kleinen, doch unverzichtbar bedeutenden Rolle auf jeden Fall für größere Rollen in Bayreuth empfohlen, auch wenn an der Wortverständlichkeit noch gearbeitet werden müsste (doch gewiss: Ring-Textkenner verstehen natürlich mehr als die anderen Hörer). Neu ist gleichfalls die das Drama und die Lyrik betörend herausarbeitende Dirigentin Simone Young, die das Orchester der Bayreuther Festspiele so souverän leitet, dass man ihm einfach nur gern zuhört.

Was sonst auf der Bühne steht, blieb gegenüber 2024 gleich – und gleich gut: die leuchtende Brünnhilde der Catherine Foster (immer noch mystisch gut: ihre Wiederauferstehung, eine verhüllte Frau mit Sonnenbrille), die ihren Partner nicht niedersingt, sondern mit ihm agiert, der agile und tenoral gar nicht hässliche Zwerg des Ya-Chung Huang, der charakteristische Fafner des Tobias Kehrer und die beiden stummen Herren, die man nicht als Edelstatisten bezeichnen kann: Igor Schwab als Grane und Branko Buchberger als Hagen, dessen (unbewusste) Zurückweisung durch Siegfried – die Frau ist halt in diesem Moment interessanter – völlig erklärt, wieso der eh schon labile Junge ein Vorspiel und drei Akte später mit dem Schlagring des gekillten Fafner den einstigen, aber leider nur kurzzeitigen ersten Freund und Kumpel Siegfried hinterrücks tötet.
So verbinden sich, von Teil zu Teil, die Motive: ein wirklicher Ring, das Kind als „Ring“ (auch das von Erda behütete Ersatzkind hat, traumatisiert von den mörderischen Ereignissen im Hause Walhall, wieder einen Auftritt), der „Tarnhelm“, der nie einer war, weil es schlicht und einfach keine gibt, undundund. Die Inszenierung ist reich an diesen Details, man muss sie nicht immer sofort einordnen können, aber es gelingt meist, doch was den Besuchern des Bayreuther Festspielhauses wie ein Rätsel scheinen mag, fällt am Ende eh hinten rüber, weil Klaus Florian Vogt und seine Kolleginnen und Kollegen einen Siegfried nach ihrem Vermögen gestalten, der das Publikum schließlich zu einem finalen Applaus animiert, den man nur als episch bezeichnen kann.
Frank Piontek, 30. Juli 2025
Siegfried
Richard Wagner
Bayreuther Festspiele
Wiederaufnahme-Premiere: 29. Juli 2025
Inszenierung: Valentin Schwarz
Musikalische Leitung: Simone Young
Orchester der Bayreuther Festspiele