Buchkritik: „Torso eines Lebens“, Gideon Klein

Der Komponist Gideon Klein wurde heute vor 76 Jahren, am 27.01.1945, im Arbeitslager Fürstengrube, Nebenlager (Steinkohlebergwerk) des KZ Auschwitz, umgebracht, am Tag der Befreiung durch die Rote Armee.

Geboren am 06. Dezember 1919, verbrachte er die ersten 11 Jahre seines kurzen Lebens in Přerov, einer kleinen mährischen Stadt ca. 20 km südlich von Olmütz. 1931-41 lebte er in Prag, besuchte dort das Gymnasium, und setzte den Klavierunterricht fort. Als 12jähriger trat der junge Pianist bei einem Konzert des Prager Konservatoriums auf. Seine ältere Schwester Eliška (Lisa) studierte in Prag Klavier. Sie führte den Halbwüchsigen über ihren eigenen Freundeskreis in die intellektuelle und künstlerische Welt Prags ein. Das berühmte Künstlercafé Mánes spielte in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Über der Moldau sitzend, genießt man noch heute den Blick auf den Fluß mit Brücke und Hradschin. Dort traf sich damals das intellektuelle Prag mit seiner lebendigen Mischung aus tschechischer, jüdischer und deutscher Kultur. Auch das reiche Theater- und Konzertleben der Stadt bot dem hochbegabten Gideon viel. Aber schon in seiner Heimatstadt hatte die Mutter durch die intensive Pflege von Freund- und Bekanntschaften mit Musikern und Schauspielern das Interesse ihres Sohnes geweckt und viele Impulse gegeben. Nach ihrer Scheidung kamen die Mutter und weitere Familienmitglieder nach Prag. Oskar Kokoschka und Angehörige von Thomas Mann besuchten die Familie. Menschen, die vorübergehend eine Bleibe in Prag suchten, waren immer wieder zu Gast und die große Wohnung der Familie wurde bald zu einem Treff von Verfolgten aus Nazi-Deutschland, Österreich oder auch Palästina. Vor dem großbürgerlichen Haus im Stil des Historismus am Moldauufer weisen heute Stolpersteine auf die unglückliche Familie des Komponisten hin. Seine erste Komposition legte Gideon Klein als Neunjähriger vor, eine lyrische Suite für Klavier. Insgesamt handelt es sich um ein schmales Gesamtwerk, welches durch die Ermordung brutal abgeschnitten worden ist. Über seine Auftritte als pianistischer Begleiter und Solist wurde damals in den Prager Zeitungen berichtet. Nach dem Abitur fuhr Gideon für einige Wochen nach Italien. Nach der Rückkehr entstand sein Op. 11, ein Melodram für Singstimme und Klavier, in welchem er dem Ernst der Zeit und der persönlichen Bedrohung durch die Nazi-Barbarei musikalisch nachspürt. Der Dichter des Gedichtes (Topol/Der Pappelbaum) ist unbekannt. Mit „intervallisch freier Atonalität“, großen Septen, verwirrender Chromatik und häufigen Taktwechseln verfügte Klein über die Ausdrucksmöglichkeiten der zeitgenössischen Musik damals, war er doch schon als 15jähriger vertraut mit Schönbergs Atonalität. Gleich zu Beginn seines Studiums schrieb er eine Studie über Mozart, dessen Streichquartette und den „Individualisierungsprozeß der einzelnen Stimmen im Streichquartett“ (Untertitel).

Das Angebot eines Studienplatzes an der Royal Academie of Music in London 1939 konnte er wegen Geldmangels und vor allem wegen fehlender Ausreiseerlaubnis nicht wahrnehmen, aber in Prag wegen der inzwischen auch dort gültigen Nürnberger Gesetze Komposition und Musikwissenschaft auch nicht weiter studieren. Geheimkonzerte in privaten Kreisen und zunehmendes kompositorisches Schaffen bestimmten sein Leben, bis er November 1941 nach Theresienstadt deportiert wurde, wo er als Arrangeur, Begleiter, Dirigent und Komponist zusammen mit seinen Kollegen Viktor Ullmann, Pavel Haas und Hans Krása bemerkenswerte Aktivitäten entfaltete, ohne jede Chance außerhalb dieses Ghettos jemals gehört oder auch nur zur Kenntnis genommen zu werden. Die dort entstandene Kammermusik wurde kürzlich in Wuppertal (In Liebe und Verehrung) programmatisch den großen, bekannten, klassisch-romantischen kammermusikalischen Werken gegenübergestellt. Dort war auch sein Streichquartett Nr. 2 zu hören gewesen, welches kurz vor der Aufnahme ins Lager Theresienstadt entstanden war und in dem das lyrische Cello in großem Solo gegen das böse Chaos der Entstehungszeit ansingt. Mit solch progressiver Musik führte Klein die Tradition böhmisch-ungarischer Musik eines Janacek und Bartok fort. Inzwischen sind die wichtigsten Werke diese hochbegabten Komponisten gedruckt. Sie finden inzwischen zunehmend ihren Platz im Konzertleben, wenn dieses sich von seinem aktuell durch Pandemie bedingtem Ende hoffentlich eines Tages wieder erholen wird.

Zum 100. Geburtstag des Komponisten fand am 13. und 14. Dezember 2019 in Berlin ein Symposium statt, um das gehaltvolle Werk zu würdigen. Der Verein „musica reanimata“ hatte in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Institut für Musikforschung in Berlin dazu eingeladen. Der hier besprochene Band enthält die Beiträge dieses Symposions. Sie bieten eine detaillierte und kenntnisreiche Ergänzung des Bandes „Gideon Klein-Materialien“ (1995 im von Bockel Verlag, Hrsg. von Hans-Günter Klein, 129 S. ISBN 978-3-3928770-24-8).

Die Beiträge im Einzelnen: Albrecht Dümling: Einführung · David Fligg: Gideon Klein. Geboren am 06. Dezember 1919 in Přerov (Prerau), gestorben am 27. Januar 1945 im Arbeitslager Fürstengrube · Paul Schendzielorz: Das Frühwerk von Gideon Klein – mit 15 auf der Höhe der Neuen Musik ·David Fligg: These were good times: The „Poplar Tree“ on the edge of war · David Vondrácek: Musik und Lebenswelt bei Gideon Klein. Mit einigen Anmerkungen zu seinen Chorsätzen · Gottfried Eberle: „Individualisierung der Stimmen“. Gideon Kleins Streichquartette · Lubomir Spurný: Gideon Klein als Pianist · Wolfgang Rüdiger: Die Wiedergabe des Verlorenen im Werk. Gideon Kleins Divertimento (1939/40) als Akt des Widerstands. Analyse und Interpretation · Wolfgang Rathert: „Die stabilisierten Formen der gesellschaftlich ausgeübten Musik“. Gideon Klein, Mozart und Theresienstadt · Albrecht Dümling: Zeugnis eines kompositorischen Neubeginns: Die drei Lieder op. 1 von Gideon Klein · Winfried Radeke: Fünfstimmig im Ghetto. Die Madrigale von Gideon Klein · Jascha Nemtsov: Gideon Kleins Sonate für Klavier (1943) im Kontext stilistischer Tendenzen seiner Zeit · Michael Beckerman: Gideon Klein at 100, His Cello Scream at 75 · Beatrix Borchard: Gideon Klein oder „Musik an der Grenze des Lebens“ – Konzertmontagen als Vermittlungsform · Tilman Kannegießer-Strohmeier: Gekommen, um zu bleiben? Zur Editionsgeschichte Gideon Kleins.

Johannes Vesper 4. Dezember 2023


Torso eines Lebens
Der Komponist und Pianist Gideon Klein (1919-1945)“,
Hrsg. Albrecht Dümling

Schriftenreihe „Verdrängte Musik“,
2020 von Bockel Verlag, 260 Seiten, ISBN 978-3-95675-031-1
19,80 €