Buchkritik: „500 Jahre Bayerisches Staatsorchester“, Florian Amort (Hrsg.)

Würdiges Geburtstagsgeschenk

Pünktlich zum Beginn der Münchner Opernfestspiele erscheint ein äußerlich extravaganter, inhaltlich interessanter, hoch solider und vielseitiger Band mit dem Titel 500 Jahre Bayerisches Staatsorchester, herausgegeben von Florian Amort, der auch einige Kapitel des Werks zu verantworten hat. Die Untertitel sind Das Bayerische Staatsorchester und 500 Jahre gelebte Tradition, welch letzterer etwas stutzen, weil vermuten lässt, bereits in den Gründungsjahren habe das Orchester die Tradition, die noch gar nicht vorhanden war, gelebt. Auf tiefrotem Grund erscheinen in mal blank geputztem, mal Zeichen von Putznotstand zeigenden goldenen Buchstaben, die wild durcheinander gewirbelt scheinen, die Buchstaben von Bayerisches Staatsorchester,und umdiesem noch ein Plus an Exzentrik zu verleihen, hat man nicht ein vertrautes Hoch-, sondern ein Querformat gewählt.

Nach den üblichen Grußworten, darunter eines des Herzogs Franz von Bayern, wo man sich mit den Ex-Herrschern wohl besser versteht als die Preußen mit den Hohenzollern, gliedert sich das Buch in drei Blöcke: eine chronologisch aufgebaute Geschichte des Orchesters, Portraits, zum Teil in der Form von Interviews, mit den Dirigenten und die Diskussion von Problemen, die nicht nur das Bayerische Staatsorchester, sondern alle Klangkörper mehr oder weniger betreffen. Die Autoren sind durch andere Veröffentlichungen bekannt, das Bildmaterial ist interessant und wird teilweise zum ersten Mal veröffentlicht, die Zahl der Anmerkungen hält sich in Grenzen, so dass man nicht zu andauerndem Blättern gezwungen wird, sondern zügig die größtenteils sehr interessanten Artikel durchmessen, sich gut unterhalten kann und sich zugleich angemessen belehrt fühlt.

Ungefähr gleichzeitig scheint eine Jahrhundertwende zugleich auch eine Wende in der Geschichte des Orchesters, das als Herzogliche Hofkapelle begann, gewesen zu sein. Das 16. Jahrhundert bedeutet für diese die Zusammenlegung der Münchner Hofkapelle mit der Maximilians I. nach dessen Tod, somit eine bedeutende Verstärkung bei der Wahrnehmung der vielfältigen Aufgaben am Hofe und in der Kirche. Auch im folgenden Kapitel steht die Münchner Hofkapelle im Mittelpunkt und mit ihr Orlando di Lasso, der wie seine Kollegen nicht nur Mitglied derselben, sondern auch Komponist war und der in diesem Buch auch noch in einem späteren Kapitel gewürdigt wird.

Im 18.Jahrhundert kommt es zu einer Fusion zwischen den Orchestern der bayerischen und pfälzischen Wittelsbacher. Später wird noch von der Zusammenarbeit Wagners und Strauss‘ die Rede sein, hier spielt die mit Mozart eine bedeutende Rolle, indem er zum Beispiel La finta giardiniera für das Orchester komponierte. Noch heute sollten sich die Bayern dafür schämen, dass sie Mozart zwar den Auftrag für Idomeneo, nicht aber die ersehnte Festanstellung vergönnten. Ähnliches widerfuhr Weber mit Abu Hassan, aber da ist das Buch bereits im 19. Jahrhundert angelangt.

Interessant sind generell die Einblicke in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Musiker, aber auch in die Bayerns, das für die Kultur stets mehr ausgab, als die Einnahmen es eigentlich hätten rechtfertigen können. 

Das 19. Jahrhundert bringt viele Neuerungen, natürlich auch für den vom Hof- zum Staatsorchester werdenden Klangkörper. Hier geht die Geschichte der Bayern ein in die allgemeine, so mit der Erfindung von Gas- und danach Elektrikbeleuchtung, der Drehbühne, der Trennung von Schauspiel und Oper, in München in Residenz- und Nationaltheater. Levi, Wagner mit vielen Uraufführungen und von Bülow hinterlassen ihre Spuren, und flugs ist man in der Nazizeit, bei der Kontroverse zwischen Knappertsbusch und Thomas Mann und kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn man liest, dass nach 1933 kein einziger Musiker das Orchester verlassen musste, nur die verheiratete Harfenistin Schwierigkeiten bekam, weil man Doppelverdiener nicht dulden mochte. Das klingt schon fast zu schön, um wahr zu sein, auch wenn der Autor meint, ein Widerstandsnest sei das Orchester auf keinen Fall gewesen, was sich auch bei den nach 1945 anstehenden Entnazifizierungsverfahren deutlich zeigte.

Es wird über die Uraufführungen von Friedenstag und Capriccio berichtet und darüber, dass anstelle des Bauens eines neuen Hauses, das Hitler plante, die Zerstörung des schon bestehenden durch einen Bombenangriff stand.

Vor 50 Jahren, zum 450. Geburtstag des Staatsorchesters, meinte man, über die Entwicklung nach 1945 solle man besser später urteilen, was aber im vorliegenden Band nicht in einem entsprechenden zusätzlichen Kapitel, indirekt aber mit den nun folgenden Dirigentenportraits geschieht.

Es beginnt mit Felix Mottl, wird mit Bruno Walter, der trotz antisemitischer Angriffe 1961 einen großherzigen Brief an das Orchester schrieb, fortgesetzt und widmet sich dann Knappertsbusch, der nicht nur Wagner und Strauss, sondern auch Korngold und Braunfels aufführte. Selten kommt es zu Überschneidungen, wie hier mit der Kontroverse um das Rundschreiben zur Wagner-Pflege. Im Kapitel über Keilberth lernt man die Vokabel „kulturpessimistische Verstimmungen“ und gedenkt seines Sterbens zu „so stürben wir…“. Bemerkenswert sind auch die Anmerkungen zu Sawallisch und Carlos Kleiber, den der nüchterne Gielen „das einzige Genie“unter den lebenden Dirigenten nannte. Hochinteressant ist der Vergleich seiner Version der Pastorale mit der anderer Dirigenten, wohl zutreffend das Prädikat „rekomponierender Dirigent“. Zu wertvollen Einsichten kommt der Leser durch die Interviews mit Zubin Mehta, Kent Nagano und schließlich Kirill Petrenko, wo inzwischen auch Berliner dem Satz zustimmen können: „Bei Petrenko ereignet sich das Absolute der Musik mit oder trotz Bühne“. Die weite Spanne von Lucia bis zum Ring unterstreicht dazu die Vielseitigkeit des Dirigenten.

Im dritten Block geht es um Themen wie das Ab- und Umwerben von guten Musikern mit dem mehrfach Entführten Orlando di Lasso als ein Beispiel, um das Orchester als „Insel der Seligen“, die Praxis des Probespielens, um die Hermann-Levi-Akademie und den „Arbeitskosmos Staatsorchester“. Herausragende Musiker wie berühmte Instrumente, die eine Rolle für das Orchester spielten, werden gewürdigt, die Frage „Wie funktioniert das BSO?“ gestellt. Es folgen noch hochinteressante, wenn auch nur teilweise speziell für das BSO geltende Probleme, ehe Uwe Friedrich mit dem jetzigen Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski den „Traum vom perfekten Klang“ durchlebt. Das letzte Wort vor den Anmerkungen allerdings hat Christoph Lang mit dem Kapitel „Traditionspflege und Öffnung“ und sieht die Zukunft des Orchesters und der Musik im Allgemeinen in Vielfalt und Öffnung. 

Ingrid Wanja, 29. Juli 2023


Das Bayerische Staatsorchester- 500 Jahre gelebte Tradition
Herausgeber: Florian Amort

Bärenreiter Verlag 2023
285 Seiten
ISBN 978 3 7618 2642 3