In Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters wird er als Komponist gerühmt, dem die deutsche Operngeschichte Entscheidendes verdanke. Hamburg kennt ihn als eine der herausragenden Gestalten der Oper am Gänsemarkt. Ulrich Schreiber würdigt ihn in seinem Opernführer für Fortgeschrittene als Mann, der das künstlerische Gewicht des Braunschweiger Opernhauses garantierte.
Johann Sigismund Kusser muss ein interessanter Musiker gewesen sein. Bis vor Kurzem kannten höchstens die eingefleischtesten Kenner der frühen deutschen Operngeschichte – also der Geschichte der deutschsprachigen Opern des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts – seinen Namen, wohl kaum seine Opernmusik, denn nur wenig hat sich, gemessen an dem, was er einst auf die Bühnen brachte, erhalten. Von einer Ariadne sind, das ist typisch für die Überlieferungssituation der frühen deutschen Opern, ein paar Arien, von Erindo oder die unglückliche Liebe (Braunschweig 1694) nicht weniger als 44 Einzelsätze gedruckt worden, doch wer nach jüngeren Aufführungen sucht, wird bald enttäuscht werden. Der Erindo (der dem guten Ulrich Schreiber so unbekannt war, dass er aus ihm eine Sie machte) kam vor ein paar Jahren in einer rekonstruierten Fassung in der Slowakei heraus, von der zwei Fragmente auf Youtube dokumentiert worden sind; von der Ariadne zeugt die Aufnahme eines Lamentos. Das war es bis vor Kurzem, was an akustischen Belegen auf dem Markt kursierte.
Nun aber kann man den Ruf des Opernkomponisten an einer Ersteinspielung eines als verlorengegangen geglaubten Werks überprüfen, das erst vor wenigen Jahren aus den Tiefen der Archive gehoben wurde. Damit konnte die übersichtliche Reihe der eingespielten deutschsprachigen Opern des 17. Jahrhunderts, also der Opern vor Mattheson, Händel und Telemann, wesentlich bereichert werden. Nach den Aufnahmen einzelner „Arien“ von Johann Philipp Krieger und den Kompletteditionen von Sigmund Theophil Stadens Seelewig von 1644 (einem schlichten geistlichen Singspiel), Valentin Meders Argenia von 1680, H.I.F. Bibers Arminio von 1690-1692, J.G. Conradis Schöner und getreuer Ariadne von 1691, Reinhart Keisers Geliebtem Adonis von 1697 und C.L. Boxbergs Sardanapalus von 1698 ergänzt Kussers Adonis die Serie nun „höchst erwünscht“, wie man seinerzeit gesagt hätte. Es dürfte nicht allein an der Interpretation durch die jeweiligen Ensembles liegen, dass der zeitgleich entstandene Sardanapalus nicht allein in den Rezitativen viel einschichtiger klingt als Kussers Dreiakter. Man hört, aus welcher Schule der Mann aus Pressburg kam: als Schüler Jean-Baptiste Lullys verstand er sich auf reich instrumentierte Tanzsätze, empfindsame Phrasen und Personencharakterisierungen, die auch heute noch jenem Hörer Freude bereiten, der die durchaus unbanalen Deliziositäten des späten 17., frühen 18. Jahrhunderts zu schätzen vermag. „Mit seinen klanglichen und formalen Neuerungen“, so Werner Braun im Piper, „folgte Kusser der weiter fortgeschrittenen internationalen Entwicklung und bannte so die Gefahr des Provinzialismus.“ Nichts gegen die einfachen Lieder, die noch wenige Jahre zuvor von einem Krieger in seine „Opern“ genannten Singspiele eingelegt wurden; Freien ist kein Pferdekauf aus Johann Philipp Kriegers Flora (zu hören auf der alten LP Nürnberg. Die freie Reichsstadt) bleibt ein köstliches Stück früher deutscher Opernkunst, aber der Abstand zu einem Kosmopoliten wie Kusser ist gewaltig. Kusser, geboren 1660, übte sein Handwerk in Braunschweig, Hamburg und Stuttgart aus, bevor er nach London und Dublin ging, wo er 1727 starb. Den Adonis schrieb er in seiner Position als Stuttgarter Operndirektor und Hofkapellmeister, wiederentdeckt hat das Werk die neuseeländische Musikwissenschaftlerin Samantha Owens, die zusammen mit dem Ensemble il Gusto Barocco die Einspielung vornahm. Mag man auch leise Zweifel daran hegen, ob Kusser die gesamte Musik geschrieben hat, so erhalten wir doch einen eindringlichen Einblick in die avancierte Opernkultur an einem deutschen Hof des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Vorlage für den deutschen Adonis war, und auch dies ist typisch, die italienische Oper Gl’Inganni di Cupido von Giuseppe Fedrizzi und dem Librettisten Flaminio Parisetti, die kein Jahrzehnt zuvor in Braunschweig herausgekommen war. Ob Kusser mehr schrieb als die Tanzsätze und ansonsten die vorliegende Musik bearbeitete: Die Frage wird diskutiert. Wer das deutsche Textbuch versifizierte, scheint unbekannt zu sein – genug, dass man als Barockfreund sein Vergnügen an den herrlichen Stilblüten hat, die die Zeit so liebte. Schon der Eingang ist ja in seiner Mischung aus Einfachheit und Geziertheit sublim: „Stumme Bäume, die ihr gebt / meiner Ruhe süße Schatten; / ihr sollt den Bericht erstatten, / wie vergnügt mein Herze lebt.“ Die da singt heißt Venus; im Libretto, das dem Dirigenten Jörg Halubek ein wenig zu lang erscheint, wird nun nicht allein die bekannte und oft veroperte (siehe Keiser) Geschichte der Liebesgöttin und des schönen, am Jagdfieber sterbenden Jünglings erzählt. In bester barocker Tradition erzählt das Stück die Geschichte dreier Liebender bzw. Abgewiesener: eine lyrische (Venus und Adonis), eine dramatische (Daphne und Apollo), eine gelind komische (Pallas Athene und Vulcan). Dabei werden die Geschichten nicht stupide hintereinander erzählt; die dramatische Krönung des Ganzen besteht im 2. Akt in der gleichzeitigen Konfrontation von Apoll & Daphne und Pallas & Vulcan. Zentrum des Geschehens aber ist das Wirken des grausamen wie lieblichen Gottes Cupido, der mit seinem von Vulcan geschmiedeten Pfeil seine Mutter dazu bringt, gegen ihren Willen den Adonis zu begehren. Ansonsten herrscht business as usual. Natürlich bekommt der plebejische Handwerker nicht die Zeustochter, und Daphne wird, das ist spätestens seit der ersten Oper bekannt, in einen Lorbeerbaum verwandelt. Doch weil wir in einer Oper an einem absolutistischen Hof sitzen, gewährt Jupiter schließlich den unglücklich Verstorbenen die Gnade des himmlischen Zugangs: „So müsse man hören, / die himmlischen Sphären, / erklingen von Lust…“
Und wie klingt nun der neuerlich zum Leben erweckte Adonis? Zwar ist keine der Arien, die eher „Arietten“ genannt werden müssen, länger als zwei Minuten. In diesem Sinn ähnelt das Werk noch dem Sardanapalus, der zur selben Zeit entstand, doch ist Kussers Musiksprache, die von il Gusto Barocco verlebendigt wird, wesentlich unterhaltsamer, weil psychologisch vertiefter. Indem der Komponist französische und italienische Elemente, Tänzerisches und Lyrisches mit sicherer Hand und Gespür für die einzelnen Figuren in seine Partitur brachte, sorgte er für das größtmögliche Divertissement. Von der Opera seria mit ihren starren, wenn auch schönen Konventionen (und Konventionsbrüchen …) ist Adonis noch weit entfernt. Stattdessen herrscht ein Ineinander von Rezitativ und Arie, das uns an den Grund der Oper erinnert: es muss gesungen werden, wenn gesungen werden muss. Yannick Debus, Ulrike Hofbauer, Anita Rosati, Nina Bernsteiner, Nils Wanderer (Alto), Seda Amir-Karayan (Alto) und Dominik Wörner machen das tadelfrei, genau und einschmeichelnd. Man spürt: über die zeitliche Distanz hinweg vermögen die alten Geschichten von Liebe und Verfallenheit, Lust und Verzweiflung noch zu interessieren.
Die Rezitative wurden von Kusser und seinen Interpreten höchst abwechslungsreich komponiert und gestaltet. Halubek setzte nicht weniger als drei verschieden besetzte Continuo-Gruppen für die verschiedenen Sphären ein; dass ein Vulcan von einem Fagott und nicht einer Viola begleitet wird, ist klar, und dass die Welt des drängenden Apollo anders klingt als die der Venus, ist unüberhörbar. Dem Notentext kommt das Ensemble durch rhythmische Improvisationen bei, die nichts Steriles an sich haben – so wie die Sänger ihren Rollen ein stimmliches Profil geben, das ihr Spiel gut hörbar macht. Man muss Kusser dafür dankbar sein, dass ihn die Biographen als Lully-Schüler führen, denn die Ouverture, die beiden Sinfonie und Auftrittsmusiken der Jäger und Musen klingen füllig und elegant ins Ohr. Die italienisierenden Arien mögen einfach geformt sein, primitiv sind sie, das macht auch die Interpretation, an keiner Stelle. Von hier aus ist es nicht vermessen, die Ähnlichkeit mit Händels Opern, die der Gigant im Stil des sog. „vermischten Geschmacks“ seit 1705 geschrieben hat, zu bemerken; auch große Meister stehen bekanntlich auf den Schultern großer Meister.
Ob Kusser wirklich jede Note des Adonis komponiert hat? Die Frage ist am Ende unwichtig. Es stimmt schon: Die deutsche Operngeschichte verdankt Kusser, wie auch immer, Entscheidendes. Freuen wir uns also, dass eines der schönsten Beispiele der seltenen Gattung „Sehr frühe deutsche Oper“ nun in einer Referenz-Einspielung vorliegt.
Frank Piontek, 12. März 2024
Johann Sigismund Kusser: Adonis
Il Gusto Barocco
Dirigent: Jörg Halubek
cpo 555 609-2