Die CD „I Canti“ von Giacomo Puccini, in der Bearbeitung von Johannes X. Schachtner und interpretiert vom US-amerikanischen Tenor Charles Castronovo sowie dem Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Ivan Repušić, präsentiert eine facettenreiche Reise durch das weniger erkundete Repertoire des berühmten italienischen Komponisten. Auf Initiative von Castronovo entstanden die sehr gelungenen Cover-Fotos auf der CD von ihm, die ihn als perfektes Double des großen Meisters aus Lucca zeigen. Verblüffend! Giacomo Puccini, bekannt für seine opulenten Opernwerke, hat vergleichsweise wenige Lieder für Singstimme mit Klavierbegleitung geschaffen. Mit nur elf zu Lebzeiten veröffentlichten Stücken und einigen über ein Jahrhundert verschollenen Kompositionen gibt diese CD einen seltenen Einblick in Puccinis weniger bekannte Seite. Die erste kritische Edition dieser sechzehn Vokalkompositionen wurde 2010 präsentiert, und der Arrangeur Johannes X. Schachtner wurde von dieser Ausgabe inspiriert, die Klavierbegleitung in eine Orchesterfassung umzuwandeln. Ihm gelang es hervorragend, Puccinis einzigartige Klangsprache zu adaptieren und authentische Orchesterversionen der Lieder zu schreiben. Dabei gelangen ihm mustergültige Intstrumentalfarben, wie z.B. im „Sole e amore“ mit Motiven aus „La Bohème“ oder im mitreißenden „Avanti Urania“. Die Aufnahme, die im Februar 2023 entstand, markiert die Premiere dieser orchestralen Versionen der Puccini-Lieder, die von Charles Castronovo interpretiert werden. Der Tenor, bereits seit seiner Mitwirkung in einer konzertanten Aufführung von Mozarts „La clemenza di Tito“ im Jahr 2006 mit dem Münchner Rundfunkorchester verbunden, kehrt in der Saison 2023/24 als „Artist in Residence“ des Orchesters nach München zurück. Die Klavierlieder Puccinis, nun in orchestraler Pracht, stehen in der Tradition des italienischen 19. Jahrhunderts und knüpfen an den Belcanto an. Anders als das deutsche Kunstlied zeichnen sie sich durch ein unwiderstehliches Melos aus, das von einer reizvollen harmonischen Begleitung getragen wird. Die Lieder spiegeln nicht nur Puccinis dramatisches Gespür wider, sondern auch eine hoch spannende Chronik seines künstlerischen Lebens, von frühen, fast unschuldigen Liebesliedern bis zu seinen letzten Werken. Ein interessanter Aspekt der CD ist der Blick in Puccinis Werkstatt. Einige Lieder bieten Einblicke, wie Melodien aus früheren Werken in seinen berühmten Opern wiederverwendet wurden. Ein Beispiel ist die Umwandlung der Melodie aus dem Lied „Mentía l’avviso“ in die berühmte Arie „Donna non vidi mai“ des Renato Des Grieux in „Manon Lescaut“. Solche Verbindungen enthüllen die kreative Kontinuität und den Entwicklungsprozess eines der größten Opernkomponisten. Die CD enthält nicht nur die sechzehn orchestral bearbeiteten Lieder, sondern auch Orchesterwerke Puccinis aus seiner Studienzeit am Mailänder Konservatorium. Diese Stücke spiegeln nicht nur den Einfluss von Puccinis Lehrer Amilcare Ponchielli wider, sondern zeigen auch den Eindruck, den die Musik von Richard Wagner auf den jungen Komponisten hatte. Das „Preludio sinfonico“ ist dabei ein herausragendes Beispiel für Puccinis Begeisterung für Wagner, während das „Capriccio sinfonico“ ein Vorgeschmack auf spätere Opernmelodien ist, darunter auffällig der Beginn von „La Bohème“. Charles Castronovo, der für seine vielseitige Stimme und emotionale Tiefe bekannt ist, liefert eine beeindruckende Interpretation der so unterschiedlichen Lieder. Sein Gesang, geprägt von Nuancen und exquisiter Phrasierung, verleiht jedem Stück eine besondere emotionale Gestalt. Von jugendlicher Unschuld bis zu nachdenklicher Reife beherrscht er das breite Spektrum der Gefühle, das Puccinis Lieder durchzieht. Seine virile Tenorstimme ist deutlich gereift und gefällt durch schmelzreichen Gesang. Manchmal drückt er etwas zu sehr auf die Stimme, wenn ein hoher Ton gefordert ist, was nicht wirklich notwendig erscheint. Ein lyrischerer Zugang mit seiner Stimme würde diesem Bedürfnis die Grundlage entziehen. Castronovo überzeugt durch seinen abwechslungsreichen Vortrag mit ausgezeichneter Textverständlichkeit. So sollte es sein und ist doch in diesen Tagen eher selten anzutreffen. Die Münchner dürfen sich auf sein Debüt als Cavaradossi freuen. Das Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Ivan Repušić stellt eine optimale musikalische Begleitung dar. Präzision, Leidenschaft und ein harmonisches Zusammenspiel aller Instrumentalgruppen schaffen ein homogenes klangliches Gefüge. Die Streicher verleihen Wärme und Ausdruck, die Bläser brillante Klänge, und das Schlagzeug trägt zu einem pulsierenden Rhythmus bei, der die Musik vorantreibt. Ivan Repušić, der als Dirigent eine klare Kontrolle und ein tiefes Verständnis für Puccinis Musik zeigt, führt das Orchester mit Leidenschaft. Seine Interpretation ist respektvoll gegenüber dem Originalwerk, bringt jedoch auch innovative Perspektiven und Einsichten, die die Musik in einem neuen Licht erscheinen lassen. Die CD „I Canti“ ist eine gefühlvolle Darbietung von Puccinis weniger bekannten Werken. Diese Aufnahme ist nicht nur eine Entdeckung für Liebhaber von Puccinis Musik, sondern auch eine bedeutende Bereicherung des Repertoires des Meisters aus Lucca. Besondere Anerkennung ist hier nochmals Johannes X. Schachtner zu zollen, der es kongenial verstand, Puccinis einzigartiges Gespür für Orchesterfarben auf die Lieder zu übertragen. Ein anspruchsvolles und künstlerisch herausragendes Werk, das die Vielschichtigkeit eines der größten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts auf eindrucksvolle Weise einfängt.
Dirk Schauß, 5. Januar 2024
Giacomo Puccini
I Canti
Charles Castronovo, Tenor
Münchner Rundfunkorchester
Ivan Repušić, Leitung
BR Klassik, CD 900349