CD: „The Folly“ , Fabrice Bollon

Bei Aufführungen vom 7. und 8. Juli 2022 am Theater Freiburg entstand die vorliegende, bei dem Label Naxos erschienene Live-Aufnahme von Fabrice Bollons neuer, auf einem Libretto von Clemens Bechtel beruhender  Oper The Folly. Hierbei handelt es sich um eine beachtliche Angelegenheit. Bollon, der auch am Pult steht und das bestens disponierte Philharmonische Orchester Freiburg intensiv und sehr konzentriert den Weg durch seine eigene Partitur weist, ist ein recht eindringliches Werk gelungen. Hier haben wir es mit einer historischen Oper zu tun. Im Mittelpunkt steht Erasmus von Rotterdam, einer der größten Humanisten des Mittelalters, dessen erklärtes Anliegen es war, die katholische Kirche zu reformieren, ohne sie dabei zu spalten. Dem älteren Erasmus steht der jüngere Martin Luther gegenüber, dessen Intention ebenfalls eine Reformation der Kirche war. Seine 95 Thesen, die er an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg anschlug, spielen auch hier eine Rolle. Diese Szene kommt im ersten Akt vor. Eindringlich beleuchten Bollon und Bechtel die Zeit zwischen Mittelalter und Moderne, in der die beiden Reformatoren aufeinandertreffen. In der Erreichung ihrer Ziele gehen beide indes verschiedene Wege. Luthers Vorgehensweise ist ungleich drastischer als die von Erasmus, der jegliche Gewalt ablehnt und an humanistischen Idealen festhält. Einfühlsam zeigen Komponist und Librettist die unterschiedlichen Positionen der beiden Männer auf. Luther lässt an keiner Stelle einen Zweifel daran aufkommen, was er will, während Erasmus eine klare Stellungnahme gänzlich ablehnt. Letzterer will in diesem Kampf keine Stellung beziehen, sondern das Ganze nur von außen her betrachten. Indes kann er nicht verhindern, dass sich die von ihm verurteilte Gewalt doch noch ausbreitet. Mit großem Einfühlungsvermögen wird hier die Frage aufgeworfen, ob Neutralität hier noch berechtigt ist. Die titelgebende allegorische Figur der Folly – zu Deutsch: Torheit – entspringt der satirischen Schrift Erasmus‘  Lob der Torheit von 1509, in der er seine Kritik an der katholischen Kirche gehörig manifestiert und mit einigem Zündstoff versieht. Offensichtlich wird, dass nach Folly nur törichte Handlungsweisen zu einem Fortschritt führen. Folly sieht sich an der Spitze allen Lebens. Am Ende holt Erasmus‘  Haushälterin Margarethe  Büsslin ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Er beschließt nach Freiburg überzusiedeln, wo am 21. Mai 2022 in Gedenken an den berühmten Humanistin Bollons neue, ihn betreffende Oper erfolgreich aus der Taufe gehoben worden ist.

Diese hat ihre Qualitäten. Bemerkenswert ist, wie Bollon die traditionelle Musizierweise mit einem elektronischen Klang zu mischen versteht und dabei verschiedenen Zeitebenen Rechnung trägt. Saxophon, E-Violine und E-Violoncello sowie Keyboard und Drumset geben dem vielschichtigen Klangteppich einen modernen Anstrich. Altmodische Choräle und Musik der Zeit von Erasmus von Rotterdam als Erinnerung an die Vergangenheit gesellen sich dazu. Auch Pop und Minimal-Music fehlen nicht. Ernste Klänge und Unterhaltungsmusik reichen sich hier die Hand, was ein recht differenziertes, abwechslungsreiches und interessantes Klanggemisch ergibt, das Bollon und das Orchester perfekt ausloten.

Das Textbuch setzt sich aus fünf unterschiedlichen Sprachen zusammen. Gesungen wird  in lateinisch, englisch, deutsch, niederländisch und baseldütsch. Die gesanglichen Leistungen bewegen sich auf hohem Niveau. Michael Borth singt mit geradlinigem, kantablem und trefflich fokussiertem Bariton einen guten Erasmus von Rotterdam. Sein Stimmfachkollege John Carpenter überzeugt als tiefgründig singender Petrus und Papstsekretär Da Bibbiena. Einen wie eine schöne Mezzosopran-Stimme klingenden Countertenor bringt Zvi Emanuel-Marial in die Doppelrolle der Stultitia (Folly) und des Papstes Julius II ein. Roberto Gionfriddo ist ein kräftig und markant singender Martin Luther. Durch einen warmen, sonoren Bassklang zeichnen sich der Papst Adrian VI und der deutsche Gesandte von Jin Seok Lee aus. Anja Jung leiht ihren profund klingenden Alt der Margarethe Büsslin. Mit warmem, tiefsinnigem Mezzosopran gibt Inga Schäfer der Hosenrolle des Ulrich von Hutten ein treffliches vokales Profil. Mit dünnem Kindersopran singt Alma Unseid den Jungen. Die Sprechrolle des Papstes Leo X ist mit Johannes Kaffner besetzt. Solide sind die übrigen kleinen Nebenrollen. Tadellos präsentiert sich der von Norbert Kleinschmidt einstudierte Opernchor des Theaters Freiburg.

Fazit: Wieder einmal eine prachtvolle moderne Oper auf CD. Hier haben wir es mit einem hervorragenden Werk zu tun, das sich hoffentlich auf den Bühnen des In- und Auslandes durchsetzen wird.

Ludwig Steinbach, 23. Juni 2024


The Folly
Fabrice Bollon (Komponist und Dirigent)

Theater Freiburg
Philharmonisches Orchester Freiburg

Naxos
Best.Nr.: 8.660545-46
2 CDs