Vor zwei Wochen, nämlich am 6. November, beging die Musikwelt den 125. Todestag von Peter Iljtsch Tschaikowsky. Bis heute ranken sich um den Tod des Komponisten, dem viele Bewunderer den ersten Rang unter den russischen Tonsetzern zugestehen, mythenartige Legenden. Diese in den unseriösen Bereich des Musikjournalismus zu verdammen, in den sie gehören, ist nur eines der zahlreichen Ziele, die sich die Macher der Hörbiographie „Tschaikowsky – Der Wille zum Glück“ in der Reihe BR-Klassik gesetzt haben.
Wer beim Anhören auch dieser gelungenen Produktion den Satz „Warum die große Geste verschmähen, wenn die Form sie trägt?“ vernimmt und sich dann auf die Suche macht, wann der Komponist dies gesagt oder geschrieben haben mag, stößt ins Leere bzw. findet die Quelle in der profunden Kenntnis von Jörg Handstein, denn offenbar stammt dieser Satz von ihm.
In der Tat charakterisiert er ebenso knapp wie treffend das Schaffen Tschaikowskys, der den großen Emotionen formvollendet Raum gab und damit Millionen von Menschen eine musikalische Stimme verlieh, ja denen Antwort gab, die sich fragten, wie man seelische Not ausdrücken und dadurch womöglich aushalten könne. So wurde er denjenigen ein ferner Freund, die in seinen Ausdrucksmöglichkeiten einen Widerhall eigener Nöte finden konnten und können, um sich damit vielleicht etwas weniger einsam zu fühlen.
So erging es jedenfalls seiner besten Freundin Nadeschda von Meck, die stets die Distanz der Brieffreundschaft einhielt, wenngleich sie ihn nach Kräften – auch finanziell – unterstützte: „Ich segne Sie jedesmal für das Gut, das Sie der Menschheit bringen, für den Trost, den Sie dem Leben bringen – meinem zum Beispiel, das so arm an Freude und Glück ist“, so Frau von Meck in einem Brief vom 24. Juli.1889 an Tschaikowsky.
Aus Putins Rußland hätte der Komponist entweder fliehen oder seine Homosexualität noch besser verbergen müssen als im Zarenreich – das muß man sich erstmal klarmachen. Eines der Verdienste der Hörbiographie ist, daß diesem problematischen Bereich in Tschaikowsyks Leben genügend Raum gegeben wird und das mit aller gebotenen Sensibilität. Auch wenn gleichgeschlechtliche Liebe im Westen tatsächlich schärfer verfolgt wurde als in Rußland, das zumindest in den Städten etwas liberaler eingestellt war, so war sie dennoch gesetzlich verboten und nur sehr wenigen Menschen gegenüber könnte sich der Komponist entsprechend öffnen. Neben Frau von Meck war sein Bruder Modest, ebenfalls schwul, einer seiner wichtigsten Gesprächs- bzw. Briefpartner.
Gerade in dieser Produktion sind die Musikbeispiele ganz hervorragend eingesetzt, um die inneren Stimmungen des Komponisten, all seine Nöte, Sorgen und Ängste wiederzugeben. Allerdings ist Stefan Wilkenings Stimme, die er Tschaikowsky leiht, gerade in den Passagen, wo seine Angreifbarkeit und Bedrückung geschildert werden, zu füllig und fest.
Großartig ist, wie aus anderen Hörbiographien der Reihe gewohnt, Udo Wachtveitl als Sprecher, der all die politischen, kulturgeschichtlichen und persönlichen Aspekte einfühlsam und engagiert schildert.
Tschaikowsky als Kind spricht Moritz Zehner, Shenja Lachner den Bruder Modest, Nadeschda von Mecks Briefzitate liest Viola von der Burg und Laura Maire erscheint als Antonina Tschaikowskaja. Weitere Zitate sprechen Thomas Albus, Christian Baumann, Andreas Neumann, Katja Schild und Benedikt Schregle ein.
Das bewährte Team für Redaktion und Regie bzw. Tonregie und Technik setzt sich aus Bernhard Neuhoff, Michael Krogmann und Daniela Röder zusammen.
Den Abschluß der Biographie bilden hier zwei charakteristische Kompositionen; es ist einerseits die mitreißende Symphonie Nr. 6 h-Moll, op. 74, mit dem bekannten Beinamen „Pathétique“, wobei das Wort im Deutschen immer so einen sentimentalen Beigeschmack hat. „Pathetisch“ ist diese Musik ja nicht, sondern aufwühlend, seelentief und aufrichtig. Andererseits haben sich die Macher der Hörbiographie für das eher unbekannte Chorstück „Die Nachtigall“ für gemischten Chor D-Dur entschieden. Aus diesem kleinen Werk spricht ganz deutlich die russische Seele, indem durch den Responsorialgesang einem volksmusikalischen Stück ein sakraler Charakter verliehen wird.
Mariss Jansons leitet Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und fängt mit den Mitwirkenden all die Schwermut und Sehnsucht nach Glück ein, die für Tschaikowskys Musik so charakteristisch ist, was ja auch immer wieder aus seinen Briefen spricht. So schreibt er 1878 über seine 4. Symphonie: „Das ist das Fatum, jene verhängnisvolle Macht, die hindert, daß die Sehnsucht nach Glück zum Ziel gelangt, die eifersüchtig darüber wacht, daß Wohlergehen und Ruhe nicht vollständig und ungetrübt sind, die wie ein Damoklesschwert über dem Haupt schwebt und unentwegt die Seele vergiftet. Diese Macht ist unüberwindlich, und man bezwingt sie nie. Es bleibt nur, sich zu unterwerfen und vergeblich zu klagen.“
Glücklicherweise blieb es nicht bei der vergeblichen Klage – Tschaikowsky verstand es, wie nur wenige andere seiner Kollegen, seiner gequälten Psyche tiefsten Ausdruck zu geben und damit musikalische Offenbarungen einer großen Seele zu schaffen.
Schön, daß, unter vielem anderem, dies in der Produktion entsprechend gewürdigt und den Hörerinnen und Hörern nahegebracht wird.
Andreas Ströbl, 19. November 2023
4 CDs
BR-KLASSIK 900915