Sie gehört zu den wichtigsten DVD-Veröffentlichungen des Labels Naxos von diesem Jahr: Wagners Ring des Nibelungen aus der Deutschen Oper Berlin. Die Premieren erfolgten sukzessive während der Corona-Zeit in den letzten zwei Jahren. Für die DVDs mitgeschnitten wurden die ersten beiden zyklischen Gesamtaufführungen von Wagners großangelegter Tetralogie im November 2021. Das Ergebnis, eine gelungene Kombination aller mitgeschnittenen Aufführungen, kann sich sehen lassen. Lobend hervorzuheben ist in erster Linie die Inszenierung von Stefan Herheim, der zusammen mit Silke Bauer auch für das gelungene Bühnenbild verantwortlich zeigt, und dem Uta Heiseke die Kostüme schuf. Auch die gesanglichen Leistungen sind größtenteils phantastisch. Zu den Einzelheiten gleich. Demgegenüber fällt Sir Donald Runnicles am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin ab. Ihm fehlt es etwas an dem nötigen Drive für Wagners Musik. Aus sich herausgehen und mit dem Orchester vorwärts zu drängen, ist seine Sache eher weniger. Daraus resultiert ein manchmal etwas introvertiert wirkender Klang, der nicht sonderlich berauschend wirkt. Aus diesen Gründen ist sein Dirigat leider nur mittelmäßiger Natur.
Hervorragend gelungen ist, wie oben bereits erwähnt, die Inszenierung von Stefan Herheim. Diese stellt wahrlich einen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Ringes dar und geht sicher einmal in die Annalen der Deutschen Oper Berlin ein. Herheim hat sich über Wagners Ring treffliche Gedanken gemacht und ihn mit einer ausgefeilten, stringenten Personenregie in sehr kurzweiliger Art und Weise sowie sehr spannend auf die Bühne gebracht. Er wartet mit vielen gelungenen Regieeifällen auf. Er und sein Team haben das Werk geschickt modernisiert. Oftmals gönnt der Regisseur den beteiligten Personen Aufritte an Stellen, an denen Wagner solche für sie überhaupt nicht vorgesehen hat. Mit Tschechow’ schen Elementen, die die Spannung noch steigern, kann der Regisseur umgehen, das muss man sagen! Hauptrequisit aller vier Aufführungen ist ein Konzertflügel. An diesen setzen sich immer wieder die Protagonisten und hauen munter in die Tasten. Darüber hinaus erfolgen durch ihn Auftritte und Abgänge. Hier huldigt Herheim gekonnt dem Primat der Musik. Zudem werfen die beteiligten Personen immer wieder einen Blick in die Ring-Klavierauszüge. Weiter durch alle vier Ring-Teile zieht sich eine von Statisten verkörperte Schar von Menschen beiderlei Geschlechts mit Koffern. Hier bieten sich zwei Deutungsmöglichkeiten an, die beide die Flucht thematisieren. Einmal können sie das unstete Wanderleben Wagners symbolisieren, der sich ständig auf der Flucht vor seinen Gläubigern befand. Zum anderen kann man sie als von den Nazis verfolgte Juden deuten, die sich auf der Flucht vor den braunen Machthabern befinden. Damit wird nachhaltig Wagners Antisemitismus kritisch beleuchtet. Im Verlauf der vier Opern sieht man ständig die aufeinander gestapelten, herrenlosen Koffer. Diese gemahnen stark an Auschwitz. Aus diesem Grunde gebe ich der Interpretation dieser Menschen als jüdische Flüchtlinge den Vorzug.
Aus dieser Schar von Flüchtlingen schälen sich zu Beginn des Rheingolds die drei Rheintöchter und Alberich heraus. Floßhilde erscheint in Unterwäsche. Auch Alberich wird von Wellgunde seiner Hose entledigt. Die Flüchtlinge entkleiden sich ebenfalls bis auf die Unterwäsche und ergehen sich in gemeinsamen Liebesspielen. Sie sind nicht bereit, auf die Liebe zu verzichten, und beteiligen sich an der Demütigung Alberichs durch die Rheintöchter. Der Charakter des Raubes des Rheingoldes, das eine goldene Trompete darstellt, als Trotztat wird offenkundig. Im Zwischenspiel zum zweiten Bild hat Alberich den Ring bereits geschmiedet und am Finger. Diesen seiner Umwelt stolz präsentierend läuft er umher.
Spitz nach oben zulaufende riesige Tücher bilden die Bergeshöhen. Die in Unterwäsche gekleideten Götter Wotan und Fricka haben anscheinend eine gute Nacht hinter sich. In Erwartung von Fasolt und Fafner kleiden sie sich an. Die Riesen sind moderne Arbeiter vor riesigen Puppen. Letztere treten später nicht mehr in Erscheinung. Wotan hat einen Speer und einen altmodischen Flügelhelm. Fricka erscheint als elegant gekleidete Salondame. Donner hantiert anstatt mit einem Hammer mit zwei Pistolen. Loge wird von Herheim als Mephisto gezeichnet. Seine Erzählung vom Raub des Rheingolds wird von Alberich belauscht.
Nibelheim wird durch in der Höhe aufwallende Tücher samt der oben bereits erwähnten Kofferberge symbolisiert. Die Nibelungen sind Soldaten mit Stahlhelmen. Die Flüchtlinge dürfen ebenfalls mal in die Rolle der Bewohner Nibelheims schlüpfen. Auch der Tarnhelm wird im Rheingold als Stahlhelm interpretiert. Mime erscheint als Wagner auf der Bühne. Während des Zwischenspiels zum vierten Bild schlägt Mime Alberich mit einem Hammer nieder. Die Götter haben es auf diese Weise leichter mit ihrem Gefangenen. Ihr Rückweg führt sie durch den Rhein, wie die Schatten dreier konventioneller Nixen belegen. Später wird Freia bei ihrer Auslösung mit Skulpturen bedeckt. Erda steigt aus dem Souffleurkasten auf. Fafner erschlägt seinen Bruder mit einem Hammer. Mit demselben erzeugt Donner den Gewitterzauber. Am Ende mischen sich die Rheintöchter erneut unter die Flüchtlinge. Auf den Hintergrund wird die Weltesche projiziert. In ihr werden Siegmund und Sieglinde als Föten im Mutterleib sichtbar, was stark an die diesjährige Bayreuther Inszenierung des Rheingolds von Valentin Schwarz gemahnt. Wotan entkleidet sich etwas und schickt sich an, zu Erda hinabzusteigen.
Zu Beginn der Walküre versucht Sieglinde vergeblich, das im Flügel steckende Schwert Nothung herauszuziehen. Eine Esche gibt es in dieser Produktion nicht. Überraschend ist, dass Sieglinde hier mit dem als Jäger mit Gewehr dargestellten Hunding, der offenbar über viel Manneskraft verfügt, einen von Eric Naumann dargestellten Sohn mit Namen Hundingling hat. Dieser wird Zeuge der ersten Annäherung seiner Mutter und Siegmund. Der verfrühte erste Kuss zwischen den beiden wird von ihm gar nicht gerne gesehen. Mit einem Messer versucht er, Siegmund von Sieglinde fernzuhalten. Das Schwert erblickt Siegmund bereits in der zweiten Szene des ersten Aufzuges, als Hunding noch anwesend ist. Der Versuch von ihm und Sieglinde, es aus dem Flügel zu ziehen, bleibt vorerst noch vergeblich. Auch Siegmunds erneuter Versuch, es sich während seines Schwert-Monologes anzueignen, scheitert. Beim Hereinbrechen des Frühlings während der Winterstürme wird ein grüner Baum sichtbar, auf dem nach einiger Zeit das Gesicht eines Wolfes erscheint. Dass sich die Wälsungen-Geschwister gegenseitig erkennen und in Liebe zueinander entbrennen, stellt hier die Voraussetzung dafür dar, dass es Siegmund gelingt, Nothung aus dem Flügel zu ziehen. In demselben Augenblick ersticht Sieglinde ihren Sohn und wird damit zur Mörderin. Mit allem, was aus der Sphäre Hundings kommt, will sie offenbar nichts mehr zu tun haben und entledigt sich deshalb des ungeliebten Sohnes.
Zu Beginn des zweiten Aufzuges sieht man Siegmund und Sieglinde schlafend auf dem Flügel liegen. Dem Souffleurkasten entsteigt Wotan in Unterhosen – wohl gerade von einem Schäferstündchen mit Erda zurückkehrend. Die Flüchtlinge stürmen mit ihren Koffern die Bühne und beobachten, wie Hundings Mannen Siegmund attackieren. Entsetzt nimmt Hunding vom Tod seines geliebten Sohnes Kenntnis. Bereits hier werden die kleinen Walküren sichtbar. Nachdem diese sich wieder entfernt haben, werden die Flüchtlinge Zeuge von Wotans Auseinandersetzung mit Fricka, in deren Verlauf der Gott resignierend den Klavierauszug zerreißt, und seiner anschließenden großen Erzählung. Als der zornige Göttervater am Ende der Szene davon stürmt, verlassen auch sie die Bühne. Ein guter Regieeinfall ist es, dass Brünnhilde während der folgenden Szene zwischen Siegmund und Sieglinde auf der Bühne bleibt. Früher als sonst nähert sie sich den beiden, ist aber unfähig, Siegmund anzusprechen. Als sie von Sieglinde bemerkt wird, weicht sie zurück. Auch Siegmund sieht die Walküre früher als üblich. Mit einem weißen Tuch vollführt Brünnhilde den Ritus der Aufnahme des todgeweihten Siegmund in Walhall – eine sehr stimmungsvolle Szene. Wotan erscheint aufs Neue und beobachtet seine menschlichen Kinder. Sieglinde erlebt ihren Alptraum mit verbundenen Augen, während Wotan sich an den Flügel setzt. Das Schwert Nothung zerbricht nicht an Wotans, sondern an Brünnhildes Speer, den der Göttervater ihr zuvor abgenommen hat. Am Ende des zweiten Aufzuges tötet Wotan nicht nur Hunding. Dessen Gefolgsleute dürfen noch einmal ihre Gewehre abfeuern, bevor sie von dem Göttervater umgebracht werden.
Beim Walkürenritt des dritten Aufzuges sind von Anfang an sämtliche acht kleinen Walküren auf der Bühne. Eine radikale Szene stellt ihre Vergewaltigung durch die toten Helden dar. Wotan erscheint verfrüht auf der Spielfläche und beobachtet die Szene zwischen Brünnhilde, Sieglinde und den Walküren. Bereitwillig lässt er Sieglinde, der Brünnhilde vorher den Klavierauszug übergeben hat, entfliehen. Während seines Abschieds von Brünnhilde wird diese in Gegenwart der Flüchtlinge in ein weißes Tuch gehüllt. Seine Wunschmaid wird von Wotan auf dem Flügel, in dem sie versinkt, in den Schlaf versetzt. Am Ende wird noch einmal Sieglinde sichtbar, wie sie auf dem Flügel mit Mimes Hilfe Siegfried gebiert – ein eindringliches Bild!
Im Siegfried sieht man eine Reihe von Blasinstrumenten an der Decke hängen. Bereits zu Beginn des ersten Aufzuges begegnen sich der Wanderer Wotan und Alberich. Wotan besiegt seinen Gegner mit dem Speer, verjagt ihn und beobachtet anschließend die Auseinandersetzung zwischen Mime und Siegfried. Später wird Alberich Zeuge der Wissenswette, während der Mime auch mal den Speer des Gottes ergreifen darf. Bei Wotans Frage nach den Wälsungen holt Mime den Klavierauszug der Walküre hervor, den Sieglinde ihm überlassen hat – eine gelungene Reminiszenz an den ersten Abend der Tetralogie. Das Schmieden des Schwertes bewegt sich in traditionellen Bahnen. Am Ende des ersten Aufzuges wird auf ein riesiges Tuch der Erdball projiziert, der Mimes Weltbeherrschungsphantasien versinnbildlicht.
Letztere werden auch offenkundig, wenn Mime im zweiten Aufzug über seiner Wagner-Mütze eine Krone trägt. Das Waldweben wird durch ein vom Schnürboden herabschwebendes grünes Tuch symbolisiert. Ein besonders stimmiger, hervorragender Einfall seitens der Regie ist es, wenn Siegfried hier seine toten Eltern imaginiert, die in heller Unterwäsche und mit weißen Engelsflügeln erscheinen. Der Waldvogel ist bei Herheim ein junger Knabe. Der Wurm wird auf unterschiedliche Weise dargestellt. Seine Augen werden auf den Hintergrund projiziert. In seinem von echten Zähnen gesäumten Maul winden sich in weiße Gewänder gehüllte Gestalten, gegen die Siegfried kämpft. Im Sterben verwandelt sich Fafner in einen Menschen zurück. Das ist nichts Neues mehr, aber immer wieder effektiv. Siegfried noch vor Mimes Intrigen warnend, haucht der Riese sein Leben auf dem Souffleurkasten aus. Mime darf sich vor seinem Tod bis auf die Unterwäsche entkleiden. Der Wanderer beobachtet, wie Siegfried zum Walküren-Felsen davon stürmt.
Zu Beginn des dritten Aufzuges entsteigt Erda einer Bodenluke. Wotan und Alberich treffen erneut aufeinander. Der Gott übergibt dem Nibelungen den Klavierauszug. Alberich wirft einen Blick hinein und legt ihn auf den Souffleurkasten, neben dem Erda zusammengesunken ist. Das Ganze wird von den Flüchtlingen beobachtet. Bei Siegfrieds Erscheinen verschwinden sie erst einmal schnell von der Szene, werden nach ihrer Rückkehr indes Zeuge von Siegfrieds Gespräch mit Wotan. Alberich bleibt zunächst ebenfalls zurück, nur um dann irgendwann selbst das Weite zu suchen. Nur wenig später erscheint er erneut auf der Spielfläche und beobachtet, wie Siegfried Wotans Speer zerschlägt. Siegmund und Sieglinde, jetzt in schwarzer Unterwäsche, erzeugen mit Hilfe eines riesigen Tuches den durch Flammen-Projektionen visualisierten Feuerzauber. Während des Zwischenspiels zur letzten Szene versucht sich Siegfried im Klavierspielen, wobei er von Wotan und Alberich belauert wird. Die schlafende Brünnhilde steigt aus dem Flügel auf. Bei ihrer Erweckung durch Siegfried kehren die Flüchtlinge zurück. Der ersten Umarmung von Brünnhilde und Siegfried applaudieren sie. Bei der Stelle Brünnhilde bin ich nicht mehr reißt sich die ehemalige Walküre die Perücke von Kopf. Darunter kommen ihre bereits deutlich angegrauten Haare zum Vorschein. Brünnhilde hat ein Identitätsproblem. Hier haben wir es mit einem deutlichen Hinweis darauf zu tun, dass es sich bei ihr um die ältliche Tante Siegfrieds handelt. Aus der Flüchtlingsschar schälen sich Liebespaare heraus, die sich entkleiden und beim gemeinsamen Liebesspiel vergnügen. Am Ende reißt Brünnhilde die Seiten aus dem Klavierauszug und wirft sie den Flüchtlingen zu. Die Noten werden nicht mehr gebraucht, die Oper ist zu Ende.
Zu Beginn der Götterdämmerung bilden die Flüchtlinge gleichsam ein Standbild. Als die glatzköpfigen, in weiße Kleider gehüllten und mit verbundenen Augen auftretenden Nornen die Bühne betreten, brechen sie zusammen und bleiben regungslos auf dem Boden liegen. Später legen sie ihre Kleider bis auf die Unterwäsche ab und ergehen sich in wiegenden Bewegungen. Mit ihren erhobenen Händen hin und her flatternd erzeugen sie das Feuer, während Siegfried und Brünnhilde schlafend auf dem Flügel liegen. Die Nornen-Szene träumen sie lediglich. Siegfrieds Rheinfahrt wird durch wallende Tücher symbolisiert. Bereits hier treffen Hagen und sein Vater Alberich aufeinander. Hagen ist von Herheim bereits während des Auftritts der Nornen, dessen stummer Zeuge er wurde, gezeigt worden.
Gegenüber den Sekt trinkenden, elegant-modern gekleideten Gibichungen wirkt der im ersten Aufzug einen altmodischen Flügelhelm tragende, äußerst konventionell gewandete Siegfried ausgesprochen lächerlich und läppisch. Der Regisseur zeigt ihn als Karikatur eins Helden, der den Intrigen der Gibichungen hilflos ausgeliefert ist. Der Vergessenstrank besteht in einem Glas Sekt. Die berauschende Wirkung des Alkohols tritt an die Stelle des traditionellen Zaubergetränkes. Siegfried und Gunther trinken in Unterwäsche Blutsbrüderschaft. Dann bekommt ersterer von den Gibichungen einen schicken schwarzen Anzug geschenkt, den er auch bereitwillig anzieht. Ein trefflicher Einfall seitens der Regie ist es, dass Alberich Hagen bei dessen Wachtgesang belauscht. Ausgezeichnet mutet auch die Einbeziehung des Zuschauerraumes in das Spiel an, womit Herheim einen gehörigen Schuss Brecht in seine Deutung einfließen lässt. Hagen begibt sich über eine Brücke über den Orchestergraben in das Parkett, wo er auf die in der ersten Reihe sitzende Waltraute trifft. Früher als in anderen Inszenierungen betritt diese die Bühne und macht sich Brünnhilde bemerkbar. Anschließend versinnbildlichen die Flüchtlinge als Tableau vivant die Götter und Helden in der Situation, die Waltraute in ihrer Erzählung schildert. Auch das ist eine treffliche Idee des Regisseurs. Nicht mehr neu, aber immer wieder sehr effektiv ist Herheims Einfall, Siegfried bei der Überwältigung Brünnhildes Gunther zur Seite zu stellen. Beide Männer haben jetzt übermäßig stark geschminkte Gesichter und teilen den gesanglichen Part Siegfrieds in dieser Szene untereinander auf. Dass hier auch der Sänger des Gunther einige Passagen Siegfrieds singen darf, macht den ganz großen Reiz dieses Bildes aus. Das hat man indes in Tobias Kratzers Karlsruher Inszenierung ähnlich gesehen. Dennoch ist der Eindruck ein ganz gewaltiger! Am Ende des ersten Aufzuges sinkt Siegfried unter den Augen Alberichs ohnmächtig zu Boden. Seine Tat hat ihn erschöpft.
Im zweiten Aufzug liegt Hagen ebenfalls mit geschlossenen Augen auf der Erde. Alberich erkundet, ob er tot ist oder noch lebt. Als Hagen erwacht, weicht der Nibelung jäh zurück. Am Ende der Aussprache zwischen Alberich und Hagen geht letzterer wieder in den Zuschauerraum, während man jetzt Siegfried wie am Ende des ersten Aufzuges bewusstlos auf dem Boden ausgestreckt sieht. Bei seinem Gespräch mit Gutrune beginnt Siegfried erneut eifrig dem Sekt zuzusprechen. Er ist offenbar auf den Geschmack gekommen. Bei Hagens Mannenruf schreitet ein brennender Mann über die Bühne. Die Mannen werden als zeitgenössische Büroangestellte der Gibichungen mit Notizblöcken vorgeführt. Gunther zieht Brünnhilde in einem ausladenden weißen Tuch auf die Bühne – eine Arbeit, die ihm derart viel Mühe bereitet, dass er schließlich erschöpft zusammenbricht. Als die ehemalige Walküre entsetzt über Siegfrieds angeblichen Verrat die Götter anruft, erscheint im Hintergrund erneut das von den Flüchtlingen gebildete, bereits bekannte Tableau vivant der dem Untergang geweihten Bewohner Walhalls. Zur Eid-Szene betritt Hagen dieses im Hintergrund liegende Terrain und nimmt dem Statisten-Wotan dessen oberes Speerstück ab. Auf dieses leisten Siegfried und Brünnhilde ihre Schwüre. Das ehemalige Sinnbild der Verträge wird zum Werkzeug des Bösen – ein sehr überzeugender, gänzlich neuer Einfall Herheims! Anschließend werden die Flüchtlinge, nun sämtlich in Alberich-Maske, als ein auf Stühlen sitzendes Publikum Zeuge der Verschwörung Hagens, Brünnhildes und Gunthers gegen Siegfried. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Mordplan aus der Sphäre Alberichs herrührt. Am Ende des zweiten Aufzuges sieht man Siegfried und Gutrune friedlich schlummernd in Unterwäsche auf dem Flügel liegen. Offenbar haben sie gerade ihre frisch geschlossene Ehe vollzogen. Siegfried erwacht, legt sein konventionelles Gewand aus dem Vorspiel wieder an und bricht zur Jagd auf.
Der Anfang des dritten Aufzuges zeigt ihn in einer traditionellen Heldenpose, während Gutrune ihm nachblickt. Bei der Rheintöchter-Szene äußerst gelungen ist Herheims Idee, die Mädchen bei ihrer an Siegfried gerichteten Warnung vor dem Fluch als die Nornen darzustellen. Das macht einen gewaltigen Eindruck! Die Jagdgesellschaft erscheint als Betriebsausflug. Von seinen Jugendtaten erzählt Siegfried im Rahmen eines Picknicks mit Sekt und Brezeln. Im Sterben visualisiert Siegfried die in ein weißes Tuch eingehüllte Brünnhilde. Nachdem er ihr dieses weggezogen hat, streckt er noch einmal sehnsüchtig den Arm nach ihr aus und – bleibt noch eine ganze Weile regungslos stehen. Erst in dem Augenblick, als im Orchester zum ersten Mal das Trauer-Motiv erklingt, sinkt er in den Armen Gunthers tot zu Boden. Mit einem einzigen Schwerthieb schlägt Hagen dem Toten den Kopf ab. Beobachtet wird der Mord von Wotan.
Zum Schlussbild erscheint Hagen mit dem Helm und dem Umhang Siegfrieds, bereit, in die ihm nicht zukommende Rolle des Helden zu schlüpfen. Gutrune gelingt es, den Ring an sich zu nehmen, worauf Hagen sie und Gunther niedersticht. Vereint sterben die beiden Gibichungen-Geschwister erst nach einer geraumen Zeit. Das kann man durchaus machen. Bei Brünnhildes Schlussgesang tritt der Wotan aus dem Tableau vivant an die Leiche Siegfrieds und nimmt dann am Flügel Platz, um den schmerzlichen Ergüssen seiner Lieblingstochter zu lauschen. Das übrige, von den Flüchtlingen dargestellte Personal von Walhall – Götter, Walküren und Helden – versammelt sich ebenfalls um Brünnhilde und beginnt sich zu entkleiden. Wie bereits im Vorspiel bilden sie mit entsprechenden Armbewegungen auch jetzt wieder das Feuer. Dass Hagen überlebt, hat man schon andernorts erlebt. Am Ende der Götterdämmerung steht ein einnehmendes Farbspiel aus Blau und Rot, in dessen Verlauf eine Anzahl Lichter vom Schnürboden herabschweben. Einen etwas ernüchternden Eindruck hinterlässt die Putzfrau, die jetzt beginnt, die nun bis auf den Flügel leere Bühne zu reinigen. Am Ende steht die Musik – eine treffliche Quintessenz des Ganzen! Das war alles sehr überzeugend.
Größtenteils phantastisch schneiden die Sänger ab. Mit wunderbar sonorem, bestens italienisch geschultem und dunkel timbriertem Heldenbariton gibt Derek Welton im Rheingold einen ausgezeichneten Wotan. Iain Paterson erreicht als Walküren-Wotan und Wanderer das hohe Niveau seines Kollegen zwar nicht, mutet aber mit seinem ebenfalls gut sitzenden, hellen Bariton durchaus passabel an. Nina Stemme ist eine gut im Körper, leidenschaftlich und sehr emotional singende Brünnhilde. Mit metallischer, viriler und in jeder Lage trefflich ansprechenden Stimme gibt Clay Hilley den Siegfried. Als Siegmund gefällt sein voll und rund sowie recht gefühlvoll klingender Tenorkollege Brandon Jovanovich. Mächtig ins Zeug legt sich die Sieglinde von Elisabeth Teige. Diese Sängerin verfügt in gleichem Maße über die tiefe Altlage als auch über die extremen Spitzentöne der Partie. Die Erzählung Sieglindes im ersten Aufzug der Walküre wie auch die enormen Jubelausbrüche vermögen gleichermaßen gut für sich einzunehmen. Im Siegfried und in der Götterdämmerung stellt der über einen profunden, hervorragend fokussierten und kraftvollen dunklen Bariton verfügende Jordan Shanahan eine Luxusbesetzung für den Alberich dar, während der ohne die nötige Körperstütze der Stimme, flach und trocken singende Markus Brück in der Rolle des Rheingold-Alberich überhaupt nicht zu überzeugen vermag. Gut gefällt der trefflich im Körper singende Ya-Chung Huang in der Partie des Mime. Albert Pesendorfer singt mit imposantem, geradlinigem Bass einen bedrohlichen Hagen. Bestens italienisch fundiertes, warmes und farbenreiches helles Bariton-Material bringt Thomas Lehman für den Gunther mit. Als Gutrune und dritte Norn überzeugt mit solidem jugendlich-dramatischem Sopran Aile Asszonyi. Sehr beeindruckend gerät der kraftvoll und ebenmäßig intonierenden Annika Schlicht die Fricka. Einen ordentlichen Eindruck hinterlässt die Freia von Flurina Stucki. Einen volltönenden, pastosen Mezzosopran bringt Judit Kutasi in die Rolle der Erda ein. Glanzvoll schneidet die über phantastisch italienisch fokussiertes Mezzo-Material verfügende, ihre große Erzählung warm und gefühlvoll vortragende Okka von der Damerau als Götterdämmerung-Waltraute ab. Thomas Blondelle gelingt schauspielerisch ein windiger, gewitzter Loge, den er mit seinem gut sitzenden Tenor auch tadellos singt. Eine ausgesprochen elegante, stimmstarke Besetzung für den Froh ist Attilio Glaser. Dem Donner gibt Joel Allison mit kräftigem Bariton bemerkenswerte vokale Konturen. Andrew Harris‘ weich intonierender Fasolt ist solide zu nennen. Tobias Kehrer leiht seinen markanten und recht voluminös klingenden Bass dem Fafner und dem Hunding. Karis Tucker ist eine angenehm singende zweite Norn, Floßhilde im Rheingold und Wellgunde in der Götterdämmerung. Anna Lapkovskaja gibt bemerkenswert die erste Norn und die Götterdämmerung-Floßhilde. Die Woglinden von Valeriia Savinskaja (Rheingold) und Meechot Marrero (Götterdämmerung) klingen beide etwas maskig. Einige der eben genannten Sängerinnen tauchen auch im Ensemble der kleinen Walküren auf. Zu diesem gehören Flurina Stucki (Helmwige), Aile Asszonyi (Gerhilde), Antonia Ahyoung Kim (Ortlinde), Simone Schröder (Waltraute), Ulrike Helzel (Siegrune), Karis Tucker (Roßweise), Anna Lapkovskaja (Grimgerde) und Beth Taylor (Schwertleite).Den Waldvogel gibt hier kein Sopran, was besser gewesen wäre, sondern der junge Sebastian Scherer, ein Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund.
Fazit: Eine szenisch ausgezeichnete und insgesamt auch gesanglich stark für sich einnehmende DVD-Box, deren Anschaffung wärmstens empfohlen werden kann!
Ludwig Steinbach, 7. November 2022
DVD – RICHARD WAGNER: DER RING DES NIBELUNGEN
Deutsche Oper Berlin 2021
Musikalische Leitung: Sir Donald Runnicles
Regie: Stefan Herheim
Naxos 2022
Best.Nr.: 2.107001
7 DVDs