Carmen gehört zu den abendländischen Schlüsselfiguren wie Faust, Medea, Don Quixote oder Don Giovanni. Sie steht für eine radikal freiheitsliebende Frau, für die die Freiheit so wichtig ist, dass sie bereit ist, lieber zu sterben, als ohne sie weiter leben zu müssen. Freiheit in der Liebe, Freiheit in der Lebensgestaltung, Freiheit bis in den Tod. Für die Mitwelt bedeutet das Unangepasst Sein und Überschreiten konventioneller Grenzen. Dass Carmen auf gesellschaftliche Grenzen pfeift, demonstriert sie schon am Beginn der Oper mit ihrem spöttischen „Trallalala“ als Reaktion auf die Vorhaltungen des Polizeileutnants. Sie akzeptiert keine Autoritäten und hält sich an keine Vorschrift. Auch nicht, viel mehr: schon gar nicht – in Liebesangelegenheiten. Kein Wunder, dass das Publikum bei der Uraufführung 1875 wenig Verständnis dafür aufbrachte. „Ich bin so frei“, sagt hier ausgerechnet eine Frau.
Michael Lakner, Hausherr der Bühne Baden und Regisseur der Neuinszenierung, sieht in Carmen, wie er in seinen im Programmheft abgedruckten „dramaturgischen Notizen“ schreibt, „eine kompromisslose Nymphomanin“. Das ist wohl die Begründung dafür, warum sie bereits im 1. Akt wie eine Nachtklubdame mit Strapsen auftritt (Kostüme Mareile von Stritzky), obwohl sie eigentlich Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik ist und in einer Ruhepause mit Kolleginnen in einen heftigen Streit gerät, der in Rauferei mündet. Nun ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass ihre Art sich zu kleiden von der üblichen Mode abweicht und sicherlich auch auf erotische Ausstrahlung ausgerichtet ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass man sie kurzum als Hure auf die Bühne stellen müsste. Das ist eine verklemmte bürgerliche Sichtweise, die man von Lakner so nicht erwartet hätte. Die Reduktion der Carmen einzig und allein auf ihre „körperliche Lust“ (Zitat Lakner) lässt sie eindimensional wirken und übersieht, dass diese in den Augen der Mehrheit als „animalisch“ abgestempelte Triebhaftigkeit nur eine Facette ihres unbedingten Freiheitswillens und ihrer kompromisslosen Lebensart ist.
Ansonsten ist Lakners Inszenierung romantisch und bieder und lässt die Handlung in der anpassungsfähigen, leicht umzubauenden, von einer monumentalen Treppenlandschaft dominierten Bühne (von ihm selbst und Gerhard Nemec) Sinne der Vorlage spielen. Dabei legt er Wert auf das „andalusische Lebensgefühl“, das dem Publikum vermittelt werden soll: „große Lethargie“ infolge der großen Hitze (auch wenn der 3. Akt in einer schneeverwehten Schlucht angesiedelt ist) und die stets schwirrende. elektrisierende, von einer „enormen sexuellen Aufladung“ verursachte „Anspannung“.
Carmens Lebensprinzip der schrankenlosen Freiheit manifestiert sich in jeder Note, in jeder Phrase, die sie singt. Die „Habanera“ und die „Seguidilla“ sind, wie das bereits erwähnte „Trallalala“, unverhohlene Bekenntnisse dieser generellen Lebenseinstellung. Das gilt für die tiefen, dunklen, aufreizenden Töne ebenso wie für die schnippischen Auslassungen in der Mittellage und die leidenschaftlichen Beteuerungen sowie kalten Abweisungen in den dramatischen Zuspitzungen. Das gerade ist das geniale Neue, das Bizet in diesem Werk auf die Bühne gebracht hat, weshalb Carmen auch als die erste „veristische“ Oper gilt. Lakner will in der Besetzung der vier Hauptrollen „einen Typecast, wie er im Buche steht“ gefunden haben. Auch unter Berücksichtigung der reellen Möglichkeiten eines Theaters wie die Bühne Baden erscheint das mehr als zweifelhaft. Vor allem hinsichtlich der Titelpartie. Ushakova hinterlässt keinen besonderen stimmlichen Eindruck, vor allem In den tiefen Lagen dieser fordernden Partie. Sie ist meist zu leise und muss sich im 2. und 3. Akte zu sehr schonen, um für den Rest noch irgendwie gerüstet zu sein. Der Applaus, der Ushakova beim Schlussbeifall zuteilwird, ist zu Recht nur als zurückhaltend und als höflich zu charakterisieren
Den stärksten Eindruck des Abends hinterlässt die Sopranistin Ivana Zdravkova, die dafür auch gebührend gefeiert wird, und das nicht nur beim Schlussapplaus, sondern schon bei ihrer berührend dargebotenen Arie, in der sie Don José, den sie aufrichtig liebt, aus der Gesellschaft der Schmuggler und aus den Armen Carmens retten will. Sie ist stimmlich und darstellerisch eine ideale Verkörperung der treuen Unschuld vom Lande und so das absolute Gegenteil der Titelfigur. Wie sie sich stark und furchtlos geriert und dabei ihre Angst im Inneren überspielt und Beistand von oben erbittet, geht unter die Haut.
Vincent Schirrmacher ist ein solider, nicht gerade aufregender Don José. Gesanglich ohne merkliche Probleme, auch wenn er seinen warmen Tenor streckenweise zu sehr forciert scheint und insgesamt etwas eintönig wirkt. Der Bariton Thomas Weinhappel, als Marcello in der Klosterneuburger La Bohémè noch in bester Erinnerung, ist mit der Partie des Toreros stimmlich und leider auch spielerisch etwas überfordert. Den tiefen Tönen mangelt es an Durchschlagskraft, seinem Escamillo die geschmeidige, lässig-elegante Art des Volkshelden. Er entspricht damit zwar dem Rollenprofil Michael Lakners, der in Escamillo vor allem einen „Macho, furchtlos und kühn“ sieht. Weinhappel hat aber eher die Ausstrahlung eines Arnold Schwarzenegger, der in einem Film den Escamillo zu spielen versuchen würde. Vom Charme des Erfolgreichen ist wenig zu spüren.
Gezim Berisha ist ein darstellerisch wie auch gesanglich markanter Leutnant Zuniga, Thomas Zisterer ein zufriedenstellender Sergeant Moralès und Schmuggler, Beppo Binder sein mehr als rollendeckender Schmugglerkollege Remendado. In ihren Auftritten in den Szenen und Terzetten mit Carmen können sich die hellen Stimmen von Loes Cools (Frasquita) und Domenica Radlmaier (Mercédès) hervorragend profilieren. Beide überzeugen aber auch mit ihrer gutgelaunten Spielfreude.
Das Orchester und der musikalische Leiter Michael Zehetner sorgen für südländisches Flair. Besonderes Lob gebührt den Holzbläsern für ihre Aufmerksamkeit fordernden Soli. Das Ballett, choreografiert wie immer von Anna Vita, trägt zur Schaffung des „andalusischen Lebensgefühls“, das Michael Lakner in seiner Inszenierung auf die Bühne zaubern will, das Seine bei. Die Balletteinlage am Beginn des 2. Aufzugs fällt angesichts der etwas angestrengt wirkenden Bemühung um neue Ausdrucksformen abseits der schon bekannten Klischees allerdings etwas aus dem Rahmen.
Der insgesamt zustimmende, aber klar differenzierende Applaus zeigt, dass das Badener Premierenpublikum recht gut abzuschätzen weiß, was ihm dargeboten wird.
Manfred A. Schmid, 1. März 2023
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
Carmen
Georges Bizet
Bühne Baden
25. Januar 2023
Inszenierung: Michael Lakner
Dirigat: Michael Zehetner
Orchester der Bühne Baden