Berlin: „Die Frau ohne Schatten“, Richard Strauss (zweite Besprechung)

Völlige Entzauberung des Märchens

Lange und mit einiger Spannung war die Neuinszenierung der Frau ohne Schatten von Richard Strauss in der Regie von Tobias Kratzer an der Deutschen Oper Berlin erwartet worden. Folgerichtig schien das Haus auch bis auf den letzten Platz besetzt zu sein, was durchaus nicht der Normalfall in der letzten Zeit an der DOB ist. Dieses Mammutwerk des Garmischer Meisters hat es aber auch in sich und ist in der Tat ein großes Meisterwerk des Klassizismus, gerade auch aufgrund der kongenialen Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Librettisten Hugo von Hofmannsthal.

Wer allerdings gedacht hat, aber das war wohl eh niemand, dass hier die Märchenhaftigkeit der Frau ohne Schatten in Bezug auf den tatsächlichen Märchencharakter des Stücks erzählt und interpretiert würde, sollte sich bei Kratzer und seinem Dramaturgen Jörg Königsdorf natürlich grundlegend täuschen. Der Regisseur bricht in seiner bekannten Manier alles mythisch Märchenhafte, und sei es auch noch so meisterhaft dargestellt wie in der Frau ohne Schatten – allein der Begriff Schatten für Schwangerschaft sagt es ja schon – fast gewaltsam auf einen Mikrokosmos herunter. Damit will er in jedem Falle „aktuell“ und „relevant“ sein, die Oper und ihre gar nicht immer gegenwartsnahen Stoffe in den Alltag eben dieser Gegenwart zu stellen, in unseren Alltag, und das immer wieder auch mal mit einem Wink des berühmten Zaunpfahls.

© Matthias Baus

Das ist ja ohnehin der Trend des heutigen Regisseurs-Theaters. Ob es auch im Sinne zumindest eines großen Teils des Publikums ist, das nach einem langen Tag der Arbeit nun auch noch am Abend 4,5 Stunden minutiös und detailverliebt über die Kunstform Oper auf seine tatsächlichen oder vermeintlichen Probleme hingewiesen wird, spielt bei diesen Regisseuren keine Rolle. Entscheidend ist allein der oft allzu enge, aber jedenfalls ganz persönliche Interpretationsansatz im Sinne einer gewissen Erkenntnis-Hoheit, mit der man die Leute beglücken will – ihnen auf jeden Fall aber beweisen, dass man es besser weiß als der Mainstream der Opernbesucher. Das erinnert gerade in dieser Zeit an die deutsche Ampelpolitik.

Hier an der DOB ist es jedenfalls das überbordende Thema zweier Paare, die keine Kinder bekommen, aber gern welche hätten, mit der Amme als professionell wirkender Manipulantin im gesamten Geschehen. Kratzer gibt selbst für die „FroSch“, wie man sie ja netterweise in Strauss-Kreisen auch nennt, in einem Interview mit dem Dramaturgen im Programmheft vor, die von Strauss/von Hofmannsthal konzipierte Märchenwelt bewusst entzaubern zu wollen und sie in eine vermeintlich interessante Interpretation unseres banal-profanen Hier und Heute mit all seinen Unwägbarkeiten, Verirrungen, Missverständnissen und – wenn es gar nicht anders geht – auch mal pseudo-romantisch anmutenden Liebesanwandlungen zu überführen.

Dazu hat ihm Ausstatter Rainer Sellmaier eine quadratische Spielfläche aus Holz entworfen, mit rechteckigen Säulen L-förmig über ein Eck, die immer mal mit Vorhängen behängt werden, und mit einer großen Wand in der Mitte. Auf sie werden natürlich die Videos von Manuel Braun, Jonas Dahl und Janic Bebi geworfen, darunter auch eines mit einer In-vitro-Befruchtung in hellblau, von der Färberin interessiert beobachtet. Das Ganze rotiert immer wieder, um die gerade im 2. Akt ja auch häufigen Szenenwechsel vorhanglos zu ermöglichen, ohne dass man sagen könnte, der Rotation sei zu viel des Guten getan worden. Es passte eigentlich immer zur szenischen Aussage, auch und gerade wenn einmal Parallelhandlungen gezeigt wurden.

© Matthias Baus

Das Färberehepaar betreibt also eine Wäscherei mit den üblichen Waschmaschinen und den Gestellen mit abholfertiger Kleidung. Sie haben ernste Eheprobleme à la „Szenen einer Ehe“ von Ingmar Bergmann, vor allem aufgrund der Unruhe der Frau angesichts ihrer Kinderlosigkeit und des schwachen und unentschlossenen Auftretens ihres Mannes Barak. Seine drei Brüder balgen sich mit den roten Trumpschen MAGA-Kappen natürlich unkontrolliert und sparen nicht an weiter belastender Missachtung der Färberin. Kaiser und Kaiserin treten natürlich in mondänerem Outfit auf, er in blauer Hose und Hemd, und sie setzen sich ebenso intensiv mit ihrer Kinderlosigkeit auseinander. Von den mythischen Figuren der Handlung wird natürlich völlig abstrahiert. Sie sind alle als ganz reale Personen im Leben des Kaisers und der Kaiserin zu sehen, so der Geisterbote als UPS-Bote, der der Amme gleich mal die Paketpost bringt. Die Hüterin der Schwelle ist eine junge Dame, passenderweise mindestens im siebten Monat schwanger und der Falke natürlich auch eine Frau, die mit dem Kaiser direkt korrespondiert.

Dieser geht aus Frust über seine nicht funktionierende Ehe auf Partys auch schonmal fremd, und die Prüfungen der Kaiserin finden auf einer karnevalsähnlichen Baby-Party mit Teddybär, Sekt wie Hochprozentigem und Co. statt, die der Bedeutungsschwere der Szene jedes Gewicht nimmt. Obwohl der alte weißhaarige Papa Keikobad immer in der Gegend herumläuft, wenn er nicht gerade Klavier spielt. Die Amme ist in ausgesprochen mondäner und ständig wechselnder Kleidung mit eleganter Handtasche eine stetige Manipulantin der Kaiserin. Sie wird aber am Ende, nachdem sie vergebens in einer Babykrippe mit 12 Säuglingen und entsprechendem Pflegepersonal versucht hat, ihr ein Baby zuzuschanzen, von Polizisten gewaltsam abgeführt. Dafür durfte ein schwules Pärchen ein Baby aus dem Kasten mitnehmen. Na ja, eine Referenz an LGBTQI+ muss bei Kratzer wohl immer sein.

Am Ende geht natürlich alles schief, wie könnte es bei ihm auch anders sein! Nachdem zu Beginn des 3. Akts Färber und Färberin bei einer Eheberatung sitzen und sich gegenseitig Vorwürfe machen – die an sich an dieser Stelle stattfindenden Monologe der beiden passen witzigerweise ganz gut auch in einen solchermaßen gearteten Dialog – finden sie nicht mehr zusammen und sind etwas später bei einem Scheidungsanwalt. Ebenso kommen Kaiser und Kaiserin nicht mehr zusammen, obwohl sie doch einen gewissen Reifeprozess hinter sich gebracht hat. Die Folge ist, dass statt der von Strauss/Hofmannsthal vorgesehenen großen Vereinigung im dazu auch passend apotheotischen musikalischen Finale alle vier in verschiedene Richtungen davonlaufen, Stattdessen sieht man in einen Kindergarten mit allen möglichen Tierchen und Bauklötzen und den Kindern, die dort herumhopsen – zu dieser Musik!

© Matthias Baus

Wenn man es unbedingt will, kann man das Stück vielleicht auf diese Mikroebene, einen menschlichen Mikrokosmos also, herunterbrechen. Was leider aber dazu gar nicht passt, ist die grandiose und zeitweise durchaus pathetische Musik von Richard Strauss, die etwas ganz anderes sagt, eben Märchenhaftes, als es hier bei Kratzer an der DOB zu sehen ist. Nur ein Beispiel: Als dieser herrliche Streicher- und Holzbläsermonolog im 1. Akt kommt, bei dem sich Barak und die Frau doch einmal in Liebe annähern, wird das jäh unterbrochen, da ein Kunde seine Wäsche abholen kommt. Es darf ja nicht sein, Emotion! Nein, bitte nicht! Wir sind doch eh alle entemotionalisiert, und das soll uns nun die Oper auch nachdrücklich vorhalten! (Vielleicht um positive Überraschungen zu vermeiden…). Und damit wird einmal mehr klar, wohin das Regisseurs-Theater geht: es wird eigentlich ein Theaterstück produziert – allzu oft immer mehr auch noch mit flachem Eventcharakter wie letztes Jahr Hoffmanns Erzählungen bei den Salzburger Festspielen, und das weitestgehend ohne Berücksichtigung der Musik und ihrer Aussage. Ganz abgesehen von den Intentionen des Librettisten und Komponisten, das Stück überhaupt geschaffen zu haben. Tobias Kratzer hat zwar das „Gefühl, dass das Potenzial der Musik sogar stärker entfaltet wird, wenn man szenisch nicht tautologisch mit dem Stück umgeht“. Dahinter verbirgt sich aber offensichtlich ein gehörige Portion Zweckoptimismus, um seine musikferne Interpretation zu rechtfertigen. Wo bleiben eigentlich die Dirigenten bei der Inszenierungsarbeit?? Sie führen wohl, ganz sicher auch mit Verschulden der jeweiligen Intendanz, ein Parallel-Leben.

Genau die Musik war an diesem Premierenabend aber der wahre Sieger. Was Sir Donald Runnicles aus dem Orchester der Deutschen Oper Berlin herausholte und wie er es zu herrlichen Strauss’schen Klängen animierte, stets mit sehr ruhiger Hand, das war etwas ganz Besonderes! Alle Gruppen waren in Hochform, man möchte das hier besonders geforderte Blech nennen, aber auch die Streicher spielten exzellent. Zu Recht bekamen Runnicles und das Orchester auch tosenden Applaus. Der Chor wurde von Jeremy Bines und der Kinderchor sowie der Junge Chor von Christian Lindhorst geleitet. Sie passten sich gut in das Geschehen ein.

Catherine Foster begeisterte mit ihrem starken und dennoch facettenreichen Sopran sowie ausgezeichneter Mimik einmal mehr, diesmal als Färberin. Jede ihrer Aktionen wirkte authentisch und glaubhaft nachvollziehbar, ein ganz große Sängerdarstellerin, weiterhin! Daniela Köhler war als Kaiserin eingesprungen und meisterte die Rolle stimmlich gut, wenngleich ihr Sopran immer etwas unterkühlt klingt. Darstellerisch konnte sie bei der Komplexität dieses Rollenprofils voll überzeugen. Clay Hilley war als Kaiser eingesprungen und überzeugte wieder durch seine kraftvollen heldischen Tenortöne. Darstellerisch wirkte er nicht ganz so gut. Jordan Shanahan, der Klingsor in Bayreuth, gab einen guten Barak, vor allem auf gesanglicher Linie. Er konnte aber mit dem Format der Foster als seiner Frau stimmlich nicht ganz mithalten. Dennoch ein guter Sänger mit Entwicklungspotenzial. Marina Prudenskaya spielte die Amme in diesem ungewöhnlichen Rollenkonzept perfekt und ließ einmal mehr ihren klangvollen Mezzo hören. Philipp Jekal, Padraic Rowan und Thomas Cilluffo waren die agilen drei Brüder Baraks ohne jede körperlichen Behinderungen. Patrick Guetti überraschte mit einem imposanten Bass als „Geisterbote“. Die in natura gar nicht schwangere Hye-young Moon sang eine gute Hütern der Schwelle und Nina Solodovnikova einen klangschönen Falken. Die gute Stimme von Oben kam von Stephanie Wake-Edwards.

© Matthias Baus

Angesichts des doch sehr speziellen und in gewisser Hinsicht einengenden Charakters dieser Interpretation der „Frau ohne Schatten“ mit ihrem Schisma zur Musik würde man sie eher bei Festspielen, wo sie dann ein paarmal gespielt wird, vermuten. Für ein Repertoirehaus wie die DOB scheint sie nicht geeignet. Das schien auch die Meinung eines signifikanten Teils des Premierenpublikums zu sein, welches das Regieteam um Tobias Kratzer, nach einhelligem Applaus für alle Sänger, mit heftigen Buhs begrüßte. Allein, es machte ihnen nichts aus, wie immer.

Klaus Billand, 30. Januar 2025


Die Frau ohne Schatten
Richard Strauss

Deutsche Oper Berlin

Premiere am 26. Januar 2025

Inszenierung: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Sir Donald Runnicles
Orchester der Deutschen Oper Berlin