Berlin: „Il Teorema di Pasolini“, Giorgio Battistelli

In seinem 1968 erschienenem Roman wie dem im selben Jahr in die Kinosäle gekommenem gleichnamigen Film und nun auch in der gerade in der Deutschen Oper Berlin aufgeführten Oper Il Teorema di Pasolini lässt der Künstler einen geheimnisvollen Fremden in einer bürgerlichen Familie erscheinen, deren Mitglieder einschließlich Hausangestellter sich von ihm nacheinander verführen und zu ihrer wahren Bestimmung führen lassen.

© Eike Walkenhorst

Diese kann ein hemmungsloses Sexualleben, der Wahnsinn, der Freitod oder das Verschwenden des Besitzes an die Untergebenen sein. Nach des Komponisten Giorgio Battistelli Meinung soll sich in diesem Engelsteufel oder Teufelsengel der Dichter selbst portraitiert haben. Wenn dem so ist, dürfte er von welchem jenseitigen Ort aus auch immer mit Erstaunen und Entsetzen verfolgen, wie die reale Entwicklung sich in die entgegengesetzte Richtung vollzogen hat: Nicht der außerhalb der Gesellschaft Stehende verstört und zerstört die „Normalen“, damit sie schließlich zu sich selbst und ihrer angeblichen eigentlichen Bestimmung finden, sondern die vormaligen Außenseiter streben nach bürgerlicher „Normalität“. Homosexuelle Paare etwa treten ganz in Weiß zur Eheschließung vor den Altar, bestehen auf ihrem Recht, Kinder adoptieren oder zeugen zu können, streben also kurz und gut nichts sehnlicher als die von Pasolini verschmähte „normale Familie“ an. Im Italien der Sechziger des vergangenen Jahrhunderts war das natürlich ganz anders, musste sich Pasolini, von den Faschisten gehasst, aus der Kommunistischen Partei ausgestoßen und sexuelle Erfüllung heimlich bei den Strichjungen der Stazione Termini suchend, trotz aller Anerkennung als Künstler als Ausgestoßener fühlen und zu kompensierenden Allmachtsphantasien Zuflucht nehmen.

© Eike Walkenhorst

Eigentlich hatte sich der deutsche Komponist Hans Werner Henze das Recht gesichert, Pasolinis Werk zu vertonen, trat dieses jedoch an Battistelli ab, der zunächst eine Oper ganz ohne Sänger komponierte, nur mit Schauspielern und Orchester. Schauspieler und Orchester blieben, dazu kamen schließlich doch noch Sänger, so dass alle Rollen doppelt besetzt sind, ausgenommen der Ospite, dessen Erscheinen vom Angiolino, dem Engelchen, angekündigt wird, als wäre der Messias zu erwarten. Christliche Symbolik spielt auch eine bedeutende Rolle, wenn die Hausangestellte Emilia wie gekreuzigt vom Himmel herabschwebt, um, auf der Erde gelandet, mit Erde beschmiert und in eine Grube geworfen zu werden. Sitzt die Familie, verkörpert durch die Schauspieler, zu Beginn noch gesittet beim Mittagsmahl am Tisch, so scheint Unheil schon auf sie zu lauern, indem an den Bühnenseitenwänden medizinisches Personal, verkörpert durch die Sänger, Fieber, Blutdruck, die Sättigung mit Sauerstoff misst, auf der anderen Seite Raumtemperatur, Räumlichkeit und anderes angegeben werden. Geht es zur erotischen Sache, steigen natürlich diese Werte adäquat, um nach etwa der Hälfte der Aufführung mangels Interesses an denselben völlig und für immer zu verschwinden. Inzwischen ist allerdings der Sohn des Hauses bereits als Künstler gescheitert, die Mutter hat, im FIAT 500 der häuslichen Misere entflohen, mit einer Horde junger Männer Sex gehabt, die Tochter beging Selbstmord und der Vater beendet splitternackt in einer Wüste stehend mit einem wilden Schrei das Werk.

© Eike Walkenhorst

Nina Wetzel hat ein zweistöckiges Bühnenbild aus sechs Räumen entworfen, die eher klein- als des zitierten großbürgerlichen Charakters sind, es sei denn, es handle sich um Wald oder Wiese mit bewegtem Hintergrund. Mit dieser Optik nähert sich die Inszenierung dem Film Teorema, während die Tatsache, dass es keine Dialoge gibt, sondern nur einen epischen, einen erzählenden Text, an den gleichnamigen Roman denken lässt. Keinesfalls aber wird in der Optik deutlich, dass das Stück laut Pasolini davon handeln soll, dass der Konsum die moderne Form des Faschismus sei.

Der Regisseur ist Ben Kidd vom Dead Centre, einer irischen Theaterkompagnie. Er lässt es trotz des Ungeheuerlichen, das eigentlich mit der Verführung und Zerstörung der gesamten Familie vor sich geht, sehr dezent, um nicht zu sagen prüde auf der Bühne zugehen. Akustischen Exzessen abhold ist auch die Musik von Battistelli, die den Soloinstrumenten, auch der Pauke, reizvolle Aufgaben zuweist, reich an Glissandi ist und einen über weite Strecken verführerischen Klangteppich unter den Stimmen ausbreitet, ja an Sphärenmusik denken lässt. Daniel Cohen am Dirigentenpult ist ihr souveräner Sachwalter.

© Eike Walkenhorst

Die Schauspieler müssen stumm bleiben und können deshalb kaum beeindrucken, vor allem auch, weil ihnen ja ein singendes Double zur Seite steht. Nikolay Borchevs schöner Bariton hat tatsächlich einiges vokales Verführungspotential für den Ospite, umgeistert von einer Live-Kamera, für die Ashton Carlisle Green verantwortlich ist. Einen schon etwas strapazierteren Bariton setzt Davide Damiani für Vater Pietro ein, während Angeles Blancas Gulin, Tochter einer wunderbaren Mutter fast gleichen Namens, einen durchschlagsfähigen Sopran für die Lucia hat. Mit lyrischem Tenor, der auch mal ins Falsett hinausklettern muss, ist Andrei Danilov der Sohn des Hauses mit Namen Pietro. Meechot Marrero, ebenfalls wie der Tenor aus dem Ensemble der Deutschen Oper, hat einen glitzernden Sopran für die Tochter Odetta. Monica Bacelli konnte auch als altjüngferliche Emilia Starausstrahlung nicht ganz verleugnen und bewies, dass man auch mit sechzig Jahren noch eine intakte, tragfähige Mezzostimme haben kann.

Der Beifall war einhellig, langandauernd und überaus herzlich, die Deutsche Oper kann sich über einen Erfolg ohne Widerspruch freuen.

Ingrid Wanja, 10. Juni 2023


Il Teorema di Pasolini
Giorgio Battistelli

Deutsche Oper Berlin

Uraufführung am 9. Juni 2023

Inszenierung: Dead Centre
Bühne: Nina Wetzel
Musikalische Leitung: Daniel Cohen

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