Eine Liebeserklärung an die Oper
Premiere am 02.10.2020
Aufführung 11.10.2020
Ein Riss durch die Welt der Oper in Frischhaltefolie
Fragmente einer (ir)realen Theatersituation in Zeiten von Corona
Mit Richard Wagners „Lohengrin“ fiel im März 2020 der letzte Vorhang. Alle folgenden Vorstellungen wurden abgesagt. Nun fährt die Deutsche Oper am Rhein zur neuen Saison wieder hoch, mitten in der (Corona-)Krise. Regisseur Johannes Erath hat die Spielzeit mit der Premiere seines szenisch-musikalischen Abends „Vissi d’arte – Einer Liebeserklärung an die Opernbühne“ wiedereröffnet. Eigentlich sollte er die ursprünglich geplante Oper „La Sonnambula“ von Bellini inszenieren – daraus wurde ein Dialog über den künstlerischen Umgang in der Pandemie sowie nach Möglichkeiten einer Inszenierung der derzeitigen Situation aus dem Blickwinkel der Opernbühne und deren Spieler gesucht. Doch wie lässt sich große Zuneigung zur Oper ausdrücken, das Fehlen essentieller Bestandteile, wie Nähe, Leidenschaft oder einen voll besetzten Orchestergraben eingedenk? Kann Kunst da frei sein? Was genau zieht uns bei einer Oper immer wieder so in ihren Bann? Und was staut sich an, wenn Künstler die Bühne nicht mehr betreten dürfen und alles aufgrund der Pandemie still stehen muss?
In seiner Collage zur Musik von Wagner, Strauss, Puccini, Verdi, Offenbach und Gershwin sucht Erath in den Falten des Theatervorhangs nach Fragmenten der Oper, die erst durch verschiedene Komponenten ihre Ausdruckskraft bekommt und durch ein verflochtenes Zusammenspiel zu einem einzigartigen Erlebnis wird. Unter der musikalischen Leitung von Wolfang Wiechert gelang mit fünf Sängern, einer kammermusikalischen Besetzung der Düsseldorfer Symphoniker und des Opernchors (Leitung: Gerhard Michalski) diese Reise nicht direkt museal, aber dennoch die Aura einer vermeintlich verloren gegangenen Zeit in sich tragend.
Auf den ersten Blick scheint alles fast normal. Opernbesucher betreten den Zuschauerraum und nehmen Platz. Der zweite offenbart die vorherrschende Situation, die Reihen und Ränge füllen sich nur schütter und mit Abstand. Der Blick zur Bühne lässt ein Mix aus Vorfreude, Erwartung, aber auch Nostalgie aufkommen. Eine Frau in weißem Frack und Tüllrock sitzt am Boden umringt von Blumenbouquets in Folie vergangener Vorstellungen. Auf den Eisernen Vorhang wird ein Halbmond, der über einen Punkt schwebt, projiziert, das Bild einer Fermate, die in der Musik auch als Corona bezeichnet wird und eine Generalpause bedeutet. Die Stille wird durchbrochen durch einen auf Tonband eingespielten Publikumsapplaus, der zwar laut, dennoch sehr weit weg, unwirklich und etwas befremdlich wirkt. Die Frau im Frack eilt über die Bühne auf der Suche nach etwas, was sie in einem kleinen Koffer vermutet. Sie bläst den Staub von der Oberfläche, öffnet ihn behutsam.
Die Rückkehr auf die Opernbühne fängt im Pianissimo an, aus dem Nichts erklingen, wie der Welt entrückt, die ersten Töne des Vorspiels aus „Lohengrin“ von Richard Wagner aus einer Aufnahme der Düsseldorfer Symphoniker von 2011.
Der Klang aus der Konserve breitet sich im Opernhaus aus, doch es ist nicht jener, der sonst den Raum füllt und berührt. Die Frau greift währenddessen nach einem kleinen Akkordeon im Koffer, das sie verklärt ansieht. Erst als Laurentiu Sbarcea alleine im Orchestergraben zur Ouvertüre vom Band mit seinem Cello das Gral-Motiv spielt, fängt die Musik zu leben an. Mit einzigartiger Direktheit erhebt sich das Instrument über die Wagner-Einspielung, und es entsteht eine spürbare Spannung zwischen Musiker und dem Publikum. Es ist ein magischer und historisch wirkender Moment, als sich nach rund sieben Monaten inmitten in der (Corona-)Krise der Vorhang öffnet und ein Blick in die Tiefe der Bühne möglich wird. Die trostlose und verstaubt wirkende Kulisse zeigt viel Mobiliar sowie Instrumente unter Plastikfolien, die nach und nach von der Frau im Frack enthüllt werden und teilweise an eine Versteigerung aus dem Kostümfundus erinnern. An Drahtseilen schaukelt eine Kiste mit der Aufschrift „fragile“ hin und her. Es folgt ein Arrangement für Klavier der Arie „Glück, das mir verblieb“ aus Korngolds Oper „Die tote Stadt“, und der sentimentale Charakter des Stücks breitet sich wie Theaterluft aus, während Clowns und eine divenhafte Gestalt mit Beinprothesen, die erste Gehversuche wagt, die Bühne überqueren. Die Pandemie hat die Kunst auf den Kopf gestellt – so ist es nicht erstaunlich, dass die Muse, verkörpert durch Maria Kataeva, einen umgedrehten Konzertflügel über die Bühne zieht.
Die ersten Stücke des Abends sind allesamt instrumental, fast wie eine endlose Ouvertüre, und wirken wie ein Nachhall des rauschenden Orchesters der vergangenen Spielzeiten. Besonders erwähnenswert ist ein Auszug aus der Ouvertüre nach einem Arrangement für zwei Klaviere von Hermann Behn, Rücken an Rücken gespielt von Cécile Tallec und Wolfgang Wiechert.
Es ist ein besonderer Augenblick, als der erste gesungene Ton mit der Arie der Niklausse „Vois sous l’archet…c’est l’amour vainqueur“ („ Sieh, wie unter dem zitternden Bogen der Resonanzkörper vibriert!“) erklingt, fein nuanciert gesungen von Maria Kataeva, die den Zuhörer ganz in seinen Bann zieht und etwas von der Macht des Gesangs ahnen lässt. Das sinnliche Pathos dieser Musik lädt ein, mitzuschwingen. Leider gibt es solche Momente zu wenig. Immer wieder werden Videoaufnahmen von Bibi Abel eingeblendet, welche die Künstler eingeengt in Schachteln zeigen. Die Kunst kann sich nicht frei entfalten.
Puccinis Tosca ist eine Opern-Oper, und es ist nicht verwunderlich, dass ausgerechnet die Arie „Vissi d’arte“ diesen Eröffnungsabend betitelt. Floria Tosca, die einsame Heldin, selbst Opernsängerin und als „Tosca divina!“ von Scarpia oder „La sua voce!“ von Cavaradossi tituliert. Immer ist es ihre Stimme, die den Auftritt Toscas ankündigt, noch ehe sie selbst auf der Bühne erscheint.
Erath lässt die alternde Diva wie ein Deus ex machina mit hochtoupiertem Haar und Abendkleid (Morenike Fadayomi) im grellen Scheinwerferlicht auftauchen, bevor sie dem Publikum den Rücken zugewandt in einen projizierten Theaterraum singt. Sie scheint den vergangenen Glanz einer schlafenden Opernwelt zu repräsentieren. Während der Arie drehen die Bühnentechniker das Gestell mit der Sängerin zum Publikum, doch der Nachdruck der Arie „Vissi d’arte, Vissi d’amore. – Ich lebte für die Kunst, lebte für die Liebe“, bleibt aus und wirkt eher wie eine Frage, statt eines Ausrufezeichens.
Mozarts Königin der Nacht, interpretiert von Heidi Elisabeth Meier, fährt nicht wie oftmals üblich nach oben, sondern in den Keller, wo sie ihren Mutter-Tochter-Konflikt auslebt. Der mütterliche Zorn mit nicht ganz sicher intonierten Spitzentönen lässt sie ein Stück menschlicher werden, und im Unisono-Wettstreit mit dem Xylophon aus dem Orchestergraben wirken die gefürchteten Koloraturen fast wie ein Kinderlied.
Andrés Sulbarán riskiert einen Rodeo-Ritt und singt sich taktweise a capella mit strahlendem Tenor an einem Strick gebunden durch die Opern „Werther“ von Massenet, „Die Walküre“, „Das Rheingold“ und „Parsifal“ von R. Wagner, „Die Zauberflöte“ von W. A. Mozart, „Rigoletto“ und „La Traviata“ von G. Verdi. und versucht mit verzweifeltem Unterton, der düsteren Kulisse ein wenig Glanz vergangener Tage einzuhauchen.
Plötzlich horcht der Zuschauer auf, als Maria Kataeva wie in Fieberfantasien träumend und aus dem Kontext der Oper gerissen mit warmer, betörender Jazzstimme „Embraceable you“ von George Gershwin darbietet. Für den visuellen Leidenschafts-Effekt sorgen Bibi Abels auf die Leinwand projizierte Fotos von sich küssenden Menschen der Aktion „Kiss for the Opera“. Der Versuch einer digitalisierten Lust, in der Künstler und Publikum eine Symbiose eingehen? Ein verzweifelter Ruf nach Nähe, bevor Kataeva unter lauten, durchdringenden Herzklopfen vom Band im menschenleeren und halbdunklen Orchestergraben verschwindet und allein auf dem zurückgelassenen Konzertflügel spielt. Nach Salomes Tanz von R. Strauss, einem Arrangement für zwei Klaviere von Johannes Doebber, außergewöhnlich erweitert von Wiechert für Klarinetten, Saxophon, Harfe, Pauke und Schlagzeug, nimmt der Opernchor die Arie „Lippen schweigen“ wörtlich und summt sie fast geisterhaft im Schatten des Scheinwerferlichtes – mit Mund-Nasenschutz – und verschwindet wieder im Off.
Aus den Reihen vernimmt man den ein oder anderen Brummer im Publikum sehnsuchtsvoll mitschwelgen. Wie in einem Albtraum erklingen die Worte Salomes „ Ah! Ich habe deinen Mund geküsst, Jochanaan. Ah! Ich habe ihn geküsst, deinen Mund, es war ein bitterer Geschmack auf deinen Lippen. Hat es nach Blut geschmeckt? Nein? Doch es schmeckte vielleicht nach Liebe.“ Erneut musikalisch ungewöhnlich besetzt. Am Ende des Stücks zeigt Stefan Heidemann in Wotans Abschied aus „Die Walküre“ von Richard Wagner mit unprätentiöser Stimme zunächst im Rollstuhl mit einer Adler-coronierten Freiheits-Infusion, was die göttliche Macht Wotans und damit die Kunst bedeutet, ein kultureller „Powerdrink“. Er wirkt keineswegs wie eine der Welt enthobene Gestalt, sondern, wenngleich von Herkunft und Erfahrung geprägt, als ein Mensch ebenso ist wie seine Mitspieler – und ihr Publikum.
Im Sternenglanz von Discokugeln kehrt Heidemann mit einem Besen die letzten Blumensträuße von der Bühne und fragt sich: „Wann wird es wieder so, wie es niemals war?“ „Für das Erlösungsmotiv bitte in den Orchestergraben.“ tönt schlagartig die Stimme der Inspizientin. Das Orchester stimmt sich im Graben ein, eingespielter Applaus eines vollbesetzten Hauses schließen den Kreis wieder in die erwartungsvolle, vorfreudige Stimmung, jetzt Oper er-leben zu dürfen. Die sentimentale Collage endet mit Offenbachs Finale „Des cendres de ton cœur … on est grand par l’amour“ aus „Les Contes d’Hoffmann“. Es scheint, als tröstete die Muse das Publikum wie Hoffmann in seinem Schmerz und führte es zur Kunst zurück. Dieses Schlussbild bleibt ohne Zweifel haften.
Der Opernchor singt im Foyer vor den geöffneten Türen in den Zuschauerraum zusammen mit dem auf der Bühne stehenden Sängerensemble und der kammermusikalischen Besetzung der Düsseldorfer Symphoniker. Das spärliche Publikum wird mit in das Geschehen eingebunden und so Teil des Resonanzraums Oper.
Ein Hauch von Melancholie liegt den ganzen Abend im Raum. Mit gemischten Eindrücken und aufgestauten Gefühlen wird das riesige „Trotzdem“ des Ensembles spürbar und klingt in vielen Facetten nach. Wolfgang Wiecherts Arrangements mit ungewöhnlichen Besetzungen dräuten sowohl Schicksal und Tragik, als auch feingewobene Melodik, ersetzen zwar kein großes Orchester, aber werden den Fragmenten des Abends gerecht und füllen das Theater mit kammermusikalischem Charme und laden zum näheren, tiefgründigen Hinhören ein. In intimer Weise, gerade durch das Fehlen einiger gewohnter und Hinzufügen anderer ungewohnter Dinge wird verdeutlicht, dass allem voran die lebendige, körperliche Musik steht, gleich in welcher Form sie auch erklingen mag. Oper ist mehr als oberflächliche Illusion, sondern auf die Bühne inszenierte Wahrheit.
Die Idee Johannes Eraths einer musikalischen Zustandsbeschreibung über die Reinkarnation der Bühne und seiner Zauberdinge, über das, was wir vermisst haben und zurückgewinnen möchten, wird mit beunruhigender Konsequenz entwickelt. Die Atmosphäre war ein Cocktail aus Urformen des Theaters, viel Folie und Plastik, Heißluftballons, morbide anmutende Kostüme und Maskeraden sowie Zirkus- und Probenstimmung. Sänger wirkten wie Marionetten, gespielt von einer unkontrollierbaren Macht, die zusammenhanglos scheinbar um ihre Daseinsberechtigung rangen. Ein Start in eine sicher nicht leichte Saison, aber eine Gewissheit, dass wir die Oper lieben und brauchen, weil sie unsere Erfahrungen des Lebens in musikalische Schwingung versetzt und uns das leibhaftige Zusammenkommen sowie das gemeinsame Erleben von Raum und Zeit unanfechtbar macht. Treffend sagte Maria Callas einst: „Die Welt kann und wird um uns weitergehen, aber ich muss daran glauben können, dass wir sie zu einem besseren Ort gemacht haben, dass sie an Reichtum und Weisheit gewonnen hat, weil wir uns für die Kunst entschieden haben.“
Die überzeugten Zuschauer unterbrachen die Collage mehrmals mit begeisterndem Beifall und beendeten sie mit einem wertschätzenden realen finalen Applaus.
Bilder (c) Monika Ritterhaus / Sandra Then
Martina Hümmer, 12.10.2020
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