Wenn eine Oper, die erst vor wenigen Jahren uraufgeführt wurde, bereits ihre zweite Produktion erlebt, dann ist das durchaus als Qualitätsmerkmal zu verstehen, denn wie viele von Dramaturgen hochgelobte Uraufführungen blieben schon als verkopfte und nicht spielplantaugliche Werke in den Schubladen ihrer Komponisten liegen? Bei der 1980 geborenen amerikanischen Komponistin Missy Mazzoli verhält es sich anders. Gott sei Dank, muss man sagen, denn ihre jetzt in Essen zu erlebende Oper The Listeners ist ein Paradebeispiel dafür, wie Oper heute funktionieren kann und sogar jüngeres Publikum ins Theater lockt.

Doch worum geht es bei The Listeners? Die Handlung mag zunächst etwas belanglos und sogar wirr klingen, hat aber eine große Tiefe, die sich im gesamten Zusammenhang und der Dechiffrierung des „Brummens“ ergibt. Lehrerin Claire wird von einem mysteriösen, zutiefst belastenden Brummen in ihrem Kopf gequält, das scheinbar außer ihr keiner hört. Dies belastet das Verhältnis zu ihrer Familie, und sie verliert gar ihren Job, da sie so sehr leidet. Einzig die Natur und der Kontakt zu einem Kojoten geben ihr Zuversicht. Schließlich erfährt sie von einem ihrer Schüler, dass es scheinbar eine Art „Interessevertretung“ für Menschen gibt, die unter Lärm und Geräuschwahrnehmungen leiden. Man sucht diese Gruppierung auf und landet in einer Sekte – „The Listeners“ (zu deutsch etwa „die Hörenden“) – die vom charismatischen Anführer Howard geleitet wird. In dieser Sekte herrschen klare Strukturen, die Menschen lernen das Brummen zu akzeptieren und geben sich meditativen Übungen ohne Widerspruch hin. Der Kontakt zum gewohnten Umfeld bricht ab – so auch bei Claire, die sich Howard hingibt und so dessen „Nummer zwei“ in der Sekte wird. Dies führt zu Eifersucht, und es kommt zum Showdown, denn es stellt sich heraus, dass Howard das Brummen gar nicht hört, sondern ganz in Sektenmanier allen nur immer das gesagt hat, was sie hören wollten. Dramatisch wird es zudem noch, als einer der Zweifelnden ausrastet und unter Schusswaffengebrauch einen Polizeieinsatz provoziert.

Sehr schnell stellt sich die Frage an diesem Abend, was dieses Brummen ist. Regisseurin Anna-Sophie Mahler und ihre Bühnenbildnerin Katrin Connan haben eine so einfache, wie gute Übersetzung gefunden, und so steht im ersten Teil des Abends überdimensional das Wort „Anger“ im Bühnenraum, zu deutsch „Wut“. Und wir erleben auch immer wieder in als szenische Intermezzi gehaltenen, kleinen Interviews, dass die Mitglieder der „Listeners“ aus ihrem Leben erzählen, teils dramatische Geschichten, die alle von Belastung, Überforderung und Unsicherheit erzählen. Und so stellt sich schnell die Frage, ob das Brummen, gleich einem Tinnitus, nicht die Reaktion auf die Umwelt ist und die sich aufstauende hilflose Wut nicht die Reaktion auf die sich widersetzende Umwelt. Interessant wird diese Überlegung durch die stumme, aber omnipräsente Figur des Coyoten, der als Claires bester Freund für eine Welt steht, die abseits liegt, die scheinbar ohne Probleme und Druck auskommt, denn Claire versucht sich immer wieder mantraartig zu sagen, wie ähnlich sich beide doch sind. Beide wollen nicht Teil einer so belastenden Welt sein. So wird The Listeners zu einer klugen Parabel über den Menschen in der heutigen Welt. Wer jetzt denken mag, dass das nicht operntauglich ist, der irrt, denn Mazzoli und ihre Librettist Royce Vavrek entwickeln eine emotionale und absolut mitreißende Story, bauen Dramatik auf, und dazu vermag das Werk mit einer phantastischen Musik zu überzeugen. In der Essener Umsetzung steht der Mensch immer wieder im Mittelpunkt einer Bühne, die fast nur aus beeindruckenden Videoprojektionen (Georg Lendorff) besteht und auf diese Weise zu einem Seelenraum wird, der blitzschnell auf die emotionalen Wechsel reagieren kann und die passenden Bildwelten erschafft.

Mazzolis Musik liegt überwiegend in einem weit gefassten tonalen Bereich, scheut aber den Griff zur Dissonanz nicht. Atonalität ist nie Prinzip, sondern dramaturgisches Mittel und gibt der ansonst klug gebauten und farbenreichen Musik eine enorme Tiefe. Die Musik entfaltet Dramatik, greift zu großen Gesten und kennt auch kontemplative Momente – beides gelingt außerordentlich. Es ließe sich wirklich viel zu dieser begeisternden Musik schreiben, aber gerade die Ausführenden sind in der Essener Produktion besonders zu würdigen: Allen voran gibt Betsy Horne eine umwerfende Claire. Die Sängerin, die nahezu den ganzen Abend auf der Bühne steht, meistert diese schwere und große Partie stimmlich wie szenische fabelhaft. Mit Heiko Trinsinger als Sektenguru Howard steht ein Essener Ensemble-Urgestein auf der Bühne, das die Partie souverän meistert. In den zahllosen kleineren Partien überzeugen besonders Aljoscha Lennert, der mit strahlendem jugendlichen Tenor als Schüler Kyle Harris überzeugt. Deirdre Angenet als eifersüchtige und komplett überspannte Angela lässt staunen, wie gut und sanft ihre Stimme trotz der so überzeugend gespielten Wut klingt. Die zahlreichen weiteren Rollen sind alle durch die Bank weg gut und überzeugend besetzt. Der Essener Opernchor meistert die ihm übertragene Aufgabe mit einem wunderbar weichen und homogenen Klang. Am Pult der Essener Philharmoniker steht GMD Andrea Sanguineti, der das Orchester sicher durch die komplexe Partitur manövriert. Sanguineti musiziert die Musik Mazzolis transparent und luzide, lässt die Farben blühen und die flirrenden, irisierenden Klänge funkeln.
Mit The Listeners ist dem Essener Haus nach Dogville erneut ein großer Wurf im Bereich des neuen Musiktheaters gelungen, und man muss sagen: So kann Oper im 21. Jahrhundert funktionieren, denn neben einem interessanten Stoff überzeugt auch die Musik. Die Essener Produktion wird dem Werk dazu in allen Belangen gerecht, und am Ende jubelt ein gut besuchtes Auditorium.
Sebastian Jacobs, 9. März 2025
The Listeners
Oper in zwei Akten von Missy Mazzoli
Aalto-Theater Essen
Premiere am 25. Januar 2025
Besuchte Vorstellung: 8. März 2025
Inszenierung: Anna-Sophie Mahler
Musikalische Leitung: Andrea Sanguineti
Essener Philharmoniker