Kann das Märchenballett der Nationaloper der Ukraine diese Welt zum Guten, Schönen und Wahren verändern? Hat Platon Recht?
Der Vorhang aus sattem roten Samt hob sich, aus dem Graben strömte Wiener Blut von Johann Strauß und auf der Bühne tanzende Menschen in verschneitem Städtchen, mit heimeligen Häusern und Plätzen – einfach eine romantische Welt und Idylle. Da war klar, was man seit Februar 2022 so lange entbehrt hatte: das Ballett Russe! Hier und heute das Ballett der Nationaloper der Ukraine. Ihr Stammbaum lässt sich in gerade Linie zurückverfolgen, wie bei den Sank Petersburgern, dem Bolschoi in Moskau und eben der National Oper in Kiew: sie alle gehören und bilden das Ballett Russe, egal aus welcher Generation sie stammen. Choreographie ist die Bewegung des Menschen in Raum und Zeit, korrespondierend mit der Musik. Sie alle haben die Grundelemente des klassischen Tanzes à la Agrippina Waganowa (1879 – 1951) verinnerlicht und vertanzt.

Nun also ein Märchen von Hans Christian Andersen. Es lag sozusagen in der Luft und bot sich nicht nur für das Ballett an. Kürzlich auch als Oper, uraufgeführt in Dresden. Eine Besonderheit der Regie: die Schneekönigin ist mit einem Mann, einem Bassisten besetzt. Warum? So hat es Andersen wohl kaum gemeint, wie seinem Leben zu entnehmen ist.
Am 2. April 1805 wird Hans Christian Andersen als Sohn eines kleinen Schuhmachers in Odense auf der Insel Fünen geboren und wuchs dort in ärmlichen und engen Verhältnissen auf. Seine Phantasie ließ ihn mit 14 Jahren nach Kopenhagen ziehen. Seine Theaterpläne scheiterten, er war mittellos, wurde aber zum Gesangsunterricht und auch in einer Tanzschule aufgenommen.
Er war einsam und verlassen in der Hauptstadt, als sich ihm mit dem Konferenzrat Collin ein väterlicher Freund auftat, der für ihn sorgte. Dieser schickte ihn zur Lateinschule und ermöglichte ihm das Studium. 1830 bestand er seine Examina und brachte seine ersten dichterischen Werke in Druck. Er bekam Reisestipendien und später eine jährliche Unterstützung, so dass er finanziell abgesichert war und zum Goethe der Kinderwelt wurde. Er verkehrte später in den höchsten Gesellschaftskreisen bis hinauf zum königlichen Hof, wurde Professor und schließlich Konferenzrat. Am 4. August 1875 starb er in Kopenhagen. „Mein Leben ist ein hübsches Märchen“ so beginnt er die Erzählung seines Lebens, das für ihn der Beweis war, dass ein gütiger Gott alles zum Besten lenkt.
Er war ein begnadeter Dichter mit freundlicher Ironie und einem klugen Kindersinn. Warm und lebendig die Sprache. Sein reiches Märchenglück hat er an uns weitergeschenkt. Also – lassen wir Erwachsenen uns auf ihn ein und werden zu Kindern auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Im Märchen fertigt der Teufel einen Spiegel, der uns das Mangelhafte und das Lächerliche zeigt. Das ist das zweite Bild auf der Bühne, hergestellt durch schnellen Wechsel der Bühnenbilder. Sie sind handgemalte große Stoffe, die Farben hell und freundlich, die sich zum Ablauf der Handlung gesellen. So gleitet das Geschehen mitsamt erzählender Malerei von der Bühne ins Publikum und benötigt weder Umbaupausen noch neue Bühnenbilder, die das aktuelle Bühnenbild obsolet machen würde. Ein großes Kompliment an den Malersaal und seinen Leiter
Stanislav Petrovskyi. Fazit: man kann mit diesen Vorhängen und Farben gut reisen und diese optimal beleuchten, also wirkliches Light Design. Im Programm bescheiden „Licht“ genannt (Igor Samarets).
Die Musik ist tut ihr Übriges: von Oleksiy Baclan zum Tanz passend und schön anzuhören: Grieg, Massenet, Offenbach, R. Strauss, Berlioz und andere mehr. Die Württembergische Philharmonie Reutlingen, mit Musikern aus 15 Nationen, quasi aus der Nachbarschaft war eine feste musikalische Grundlage, für die Tänze ein sicheres Tableau. Das Ballett musikalisch begleitet und dirigiert vom hauseigenen Dirigenten Sergii Golubnychyi ergab eine hörbare Harmonie zwischen Orchester und Gast-Dirigent.
Im zweiten Bild zerspringt der Spiegel, nachdem das Bild der Schneekönigin erscheint. Das Unglück nimmt seinen Lauf. Die Scherben fliegen in alle Welt, in die Augen der Menschen, die grausam und selbstsüchtig werden. Auch Kay wird ihr Opfer und sein Herz friert zu einem Eisklumpen. Er beginnt mit seiner Freundin Gerda zu streiten. Eines Tages holt ihn die Schneekönigin in ihren Eispalast am Nordpol, wo sich Kai abmüht das Wort Ewigkeit, das gleichbedeutend ist mit Gott, aus den Eisstücken zusammenzusetzen. Gelingt ihm dies, will ihm die Schneekönigin als ihrem Prinzgemahl die ganze Welt und ein paar Schlittschuhe schenken. Das sind die dramatis personae: Yaroslav Tkachuk ist Kay. Er springt aberwitzig und durchmisst dabei einen großen Kreis. Tetiana Lozova gibt die Rolle der jungen Gerda, Iryna Borysova die Schneekönigin. Gerda macht sich auf den Weg, Kay zu suchen und als Ehegemahl zu finden. Sie läuft durch den Zaubergarten einer Fee (Olesia Vorotniuk), trifft Prinz und Prinzessin (Illia Morozov und Mariia Kirsanova), Herr Rabe und Frau Krähe (Mykyta Kaigorodov und Margaryta Alianakh): sie alle tanzen ihrer Rolle gemäß. Dann durch den Wald mit einer Räuberbande, deren Anführer Daniil Silkin tanzt, mit kaum fassbaren Sprüngen und Drehungen in der Luft und umschwärmt von seiner laufenden und springenden Räuberbande. Das Räubermädchen (Kataryna Didenko), auch sie atemberaubend, was dieser Körper leisten kann. Die Trolle begegnen Gerda, tanzen und schützen sie. Gerda findet endlich den Weg durch den Wald und Kay, der sie nicht beachtet. Da weinte die kleine Gerda heiße Tränen, sie vielen auf seine Brust, drangen in sein Herz und tauten den Eisklumpen in ihm auf. Nun beginnt auch Kay zu weinen und die Tränen waschen den Splitter des Spiegels aus seinem Auge. Jetzt erst vermag er das Wort Ewigkeit richtig zu legen, das gleichbedeutend ist mit Gott. Der Weg zu ihm kann nur durch unreflektiertes, warmes Gefühl gewonnen werden. Die selbstlose Liebe Gerdas, die mit Gott im Bunde ist, hat gesiegt. Kay ist aus dem Bann der Schneekönigin befreit. Älter und reifer geworden kehren die beiden in ihre Gasse zurück. Der Vorhang fällt und alle Fragen offen? NEIN! Die Kinder haben verstanden und wir Erwachsenen von ihnen gelernt. Andersen sagt über seinen Erzählstil: „Ich greife eine Idee auf, die für Ältere gedacht ist – und erzähle sie dann den Kindern, während ich daran denke, dass Vater und Mutter oft zuhören, und ihnen muss man etwas für den Verstand geben.“ Es ist Andersens Versuch, in einem Märchen seine Weltanschauung auszudrücken. Kay und Gerda: „Da saßen sie beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen, und es war Sommer, warmer, wohltuender Sommer. Denn: Rosen die blüh‘n und verwelken, wir werden das Christkindlein sehen.“

Andersens Kunst im Kleinen verlangt nach großer Choreographie mit großartigen Tänzern, wie dem Ballett der Taras-Shevchenko Nationaloper der Ukraine in Kiew. Sie alle tanzten bis zur Grenze, die der Körper hergab: Arabesken, Assemblé (Sprung von einem auf beide Beine), Attacken, Ballonné (auf der Stelle, bei dem der Tänzer von einem Bein abspringt und auf demselben wieder landet), Brisé (Absprung von einem Fuß, in der Luft anhalten), Scherensprung (die Beine öffnen sich in der Luft zum Spagat), Pirouette (kann am Boden oder in der Luft gedreht werden) und immer wieder Plié, die Kniebeuge eines oder beider Beine. Können wir Zuschauer nur etwas davon stehen oder gar tanzen? Eher nicht: wir bleiben auf dem Boden und freuen uns an den Tänzern und der Musik.
Es gab frenetischen Beifall von ca. 15 Minuten, das Publikum gab standing ovations und wollte noch nicht nach Hause. Dieses Märchen, dieser Tanz war nun in ihrem Herzen und keine Politik konnte es ihnen mehr nehmen. Dank an die ukrainischen Künstler, sie hatten für zwei Stunden den unbeschreiblichen Krieg weggetanzt. Chapeau!
Inga Dönges, 16. Dezember 2025
Die Schneekönigin
Musik von Grieg, Massenet, Offenbach, R. Strauss, Berlioz
Festspielhaus Baden-Baden
Aufführung am 12. Dezember 2025
Choreographie von Aniko Rekhviahvili und neu von Victor Ichchuk
Dirigent: Sergii Golubnychyi
Württembergische Philharmonie Reutlingen