Premiere: 13.03.2022
besuchte Vorstellung: 10.04.2022
Der Tod der Femme Fatale
Ohne nun genau recherchiert zu haben, gehört "Carmen" von Georges Bizet wohl zu den beliebtesten und entsprechend am meisten gespielten Opern im Repertoire. Ein Grund hierfür sind sicherlich auch die vielen Chorstücke – nur selten stehen die Hauptdarsteller alleine auf der Bühne. Von daher muss an dieser Stelle zum Inhalt wohl nichts weiter gesagt werden, da dieser bekannt sein dürfte. Dass den Zuschauer in Gelsenkirchen eine spezielle Inszenierung erwarten würde, ahnt man bereits vor der Ouvertüre. Ein paar Männer putzen von Soldaten bewacht den Boden. Nachdem die Musik eingesetzt hat, ströhmen im Verlauf der Ouvertüre Frauen allen Alters auf die Bühne. Man ahnt, die Geschlechterverteilung spielt eine wichtige Rolle in der Inzenierung von Rahel Thiel.
In der aktuellen Theaterzeitung des MiR heißt es zum Ansatz der Regie: "Die Regisseurin erzählt ein Gesellschaftsdrama, in dem sowohl der Außenseiter Don José als auch die Außenseiterin Carmen in der Komplexität ihrer Entscheidungen beleuchtet werden." Leider gelingt dies aber nicht wirklich, denn die Personenführung ist teilweise nur schwer zugänglich und man hat fast den Eindruck, als wollte man hier zu viel erreichen und hat dabei die grundlegenden Dinge einfach komplett übersehen. In der Inszenierung von Rahel Thiel werden die Beziehungen der Figuren untereinander maximal ansatzweise deutlich. Dies ist sehr schade, wäre bei einer bekannten Oper wie "Carmen" aber noch verschmerzlich, wenn der Rest der Inszenierung stimmig wäre. Schließlich haben die meisten Besucher vermutlich zuvor bereits eine Carmen-Vorstellung besucht. Allerdings wollte man mit dieser Produktion in Gelsenkirchen eigentlich auf ein wichtiges und ernstes Thema wie den Femizid aufmerksam machen. Hierbei geht es um die Tötung der Partnerin oder der Ex-Partnerin, bei der die emotionale Notlage auch vor Gericht immer wieder als mildernder Umstand bewertet wurde. Hätte man dies nicht in der bereits erwähnten Theaterzeitung oder der Einführung zum Stück erfahren, dann muss man wohl eingestehen, dass dieser besondere Aspekt dem nicht informierten Zuschauer weitestgehend verborgen bleiben dürfte. Verborgen bleibt dem Zuschauer auch der Sinn, warum am Ende des ersten Aktes ausgerechnet Don Josés Vorgesetzter Zuniga Carmen endgültig aus der Gefangenschaft befreit und gleichzeitig wie in der Oper vorgegeben Don José hierfür bestraft. Immer wieder kann man über die Personenführung nur den Kopf schütteln, fast wirkt es so, als hätte man diesen Aspekt für ein paar große Bilder schlichtweg geopfert. Dass die Soldaten die eintreffende Micaela auch körperlich bedrängen ist noch nachvollziehbar, im nächsten Moment reagieren dann aber alle Personen völlig realitätsfremd, so dass man sich immer wieder fragt, was das soll? Zudem verfallen die Darsteller nach einzelnen Szenen immer wieder in Gelächter, was der Sache auch nicht unbedingt dienlich ist. Dennoch gibt es auch ein paar Lichtblicke. So ist es beispielsweise durchaus stimmig, wie Carmen an verschiedenen Stellen immer wieder die Stierhörner aufgesetzt werden. Zudem scheint es immer wieder so zu sein, als würde Carmen durch die stets vorhandene Menschenmenge nicht nur genau beobachtet, sondern auch stark beeinflusst. Sehr gut gelöst ist auch der vierte Akt, in dem das Aufeinandertreffen von Carmen und Don José in die Stierkampfarena verlegt wird und das direktes Aufeinandertreffen in Form des Stierkampfes inszeniert wird. Das Publikum auf den Rängen schaut sich dieses Treiben durchaus amüsiert an. Als Carmen schließlich durch die Messerstiche von Don José ums Leben kommt, wird aus dem Schnürboden ein erstochener Stier herabgelassen.
Unter dem Dirigat von Peter Kattermann spielt die Neue Philharmonie Westfalen die wunderbare Partitur mit viel Schwung und gutem Timing. Auch gesanglich ist "Carmen" am Musiktheater im Revier gut besetzt. Mit Lina Hoffmann (Carmen), Khanyiso Gwenxane (Don José), Heejin Kim (Micaela) und Petro Ostapenko (Escamillo) hat man ein stimmlich gut harmonierendes Quartett, die die bekannten Lieder der Oper ganz wunderbar auf die Bühne bringen. Der von Alexander Eberle einstudierte Opernchor kann mit einer großen Masse begeistern. Auch die weiteren Rollen sind durch das eigene Ensemble durchweg gut besetzt. Schauspielerisch wissen die Darsteller ebenfalls zu gefallen, auch wenn es ihnen die Regie nicht immer leicht macht. Insbesondere Khanyiso Gwenxane kann einem oft leid tun, wie er völlig unglaubwürdig aggieren muss. Da ist es fast symbolisch zu sehen, dass er als einziger Darsteller während der ersten zwei Akte einen ausgiebigen Zwischenapplaus erhielt. Ansonsten blieb das Publikum erstaunlich ruhig, bedankte sich aber am Ende bei allen Darstellern und dem Orchester mit lautstarkem und recht lang anhaltendem Beifall.
Insgesamt erlebt der Zuschauer in Gelsenkirchen eine Aufführung auf musikalisch hohem Niveau. Leider scheitert die Regie aber an ihren eigenen Ansprüchen, so dass es diesbezüglich leider nur zu einem durchwachsenen Gesamteindruck ausreicht. Die zuvor erwähnte Komplexität der Entscheidungen wird nicht immer klar ersichtlich. Auch wenn man in Gelsenkirchen auf die gesprochenen Passagen weitestgehend verzichtet und hierdurch größere Sprünge im Libretto vorgegeben sind, wäre eine klarere Personenzeichnung wünschenswert für das gesamte Inszenierungskonzept gewesen.
Markus Lamers, 12.04.2022
Bilder: © Monika und Karl Forster