Für die szenische Umsetzung des beliebten Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach wirft Generalintendant Michael Schulz am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier große Fragen auf. Woran glauben wir? Was bedeutet Erlösung für Sie persönlich? Wenn es einen Messias gäbe, wie sähe er aus? Dies sind nur einige der gestellten Fragen, die Menschen aus Gelsenkirchen mit ganz persönlichen Antworten in Form von Videoeinspielungen beantworten. Diese Videos bilden gleichzeitig den Rahmen für die Neuinszenierung am MiR, bei der das Musik- und Puppentheater des Hauses in einer großen Produktion zusammenarbeiten. In Anlehnung an die Geschichte von Maria und Josef liegt es nahe, ein Flüchtlingspaar in den Mittelpunkt zu stellen, welches mitsamt (Draht-)Esel auf die heutige Gesellschaft trifft. Der Evangelist übernimmt hierbei eine Art Vermittlungsrolle, denn gerade zu Beginn wirkt das Verhalten der Gesellschaft auf die Neuankömmlinge geradezu beängstigend fremd. Für die rund dreistündige Aufführung reichert Schulz das eigentliche Weihnachtsoratorium um weitere Werke von Carl Orff, Hanns Eisler, Arvo Pärt und Dario Fo an. So beginnt alles mit fünf Hexen die zu Carl Orffs rhythmischen und in bairischer Sprache vorgetragen Auszug aus „Ludus de nato Infante mirificus“ (Wundersames Spiel von der Geburt des Kindes) versuchen, die Geburt des angekündigten Erlösers zu verhindern.
Es folgt das mit großem Chor vorgetragene „Jauchzet, frohlocket!“ bei dem das Publikum zum einzigen Mal während der Vorstellung Zwischenapplaus spendet. Die erwähnten zusätzlichen Einlagen in das Oratorium sind insofern passend gestaltet, als dass die beiden Lieder von Hanns Eisler („Das Lied von der Moldau“ und „Das Lied einer proletarischen Mutter“) jeweils von der fremden Frau vorgetragen werden, und hierdurch auch musikalischen die Gegensätze von Flüchtlingspaar und Gesellschaft nochmal verdeutlicht werden. Optische Highlights der Inszenierung sind die Auftritte der Puppenspieler, etwa bei den beiden vorgetragenen Schauspielen „Bonifazius VIII“ und „Der Kindermord von Bethlehem“ von Dario Fo. Das Puppentheater-Ensemble tritt hierbei in Form einer Gauklertruppe vor die feiernde Gesellschaft, um ihnen zur allgemeinen Erheiterung die Stücke vorzutragen. Auch die drei Weisen aus dem Morgenland und zwei Kinder werden von den Puppenspielern zum Leben erweckt. Dies ist alles wahrlich sehr nett anzusehen. Der Chor wurde durch Kostümbildnerin Renée Listerdal als bunte Mischung einer multikulturellen Bevölkerung gekleidet, auch dies weiß zu gefallen.
Musikalisch bleiben vor allem die großen Bach-Chöre das Highlight des Abends, zu denen Chordirektor Alexander Eberle, dem zugleich die musikalische Leitung des Abends unterliegt, die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen durchaus treffend durch den Abend führt. Dennoch wirkt Bachs Werk in seinen Auszügen und mit den vielen Unterbrechungen eher wie ein „Best of Weihnachtsoratorium“ und weniger wie der titelgebende Hauptakt des Abends. In Erinnerung bleibt so ein Abend, der vielleicht am ehesten gefallen kann, wenn man die eingangs gestellten Fragen nicht allzu sehr mit einer übergeordneten Botschaft verbindet, sondern einige durchaus interessante Antworten der Gelsenkirchener Bevölkerung vom Geschehen auf der Bühne etwas abkoppelt. Das Publikum spendete in der besuchten Vorstellung langanhaltenden Applaus und zeigte sich auch beim Verlassen des Saales größtenteils sehr angetan von diesem Abend.
Markus Lamers, 12.12.2021
Fotos: © Karl und Monika Forster