Genf: „Khovantchina“, Modest Mussorgsky

Mussorgskys Meisterwerk hat es in sich, ist von geradezu brennender Aktualität. So sieht es auch der verantwortliche Regisseur dieser überwältigenden Neuproduktion am Grand Théâtre de Genève, Calixto Bieito. Universelle politische Themenkreise sind es, die in dieser Oper verhandelt werden. Dafür stehen die Auseinandersetzungen im Russland des 17. Jahrhunderts und das Drama, welches die russische Bevölkerung immer wieder erleiden musste, wenn sich die politischen Kräfte gegeneinanderstellten, nur symbolisch. Wie Calixto Bieito im Programmheft richtig anmerkt, geht es um universelle Themen wie Fanatismus, Hass und Radikalismus. Kommt uns das bekannt vor? Auch die unrühmliche Stellung, welche die religiösen Führer einnehmen, wird in der Oper durch die Radikalität der Altgläubigen schwerpunktmäßig abgehandelt. Es sind also Themen, die uns alle – und gerade in diesen unsicheren Zeiten, in denen wir im Hier und Jetzt leben – angehen, angehen müssen, wenn wir unserer Freiheit behalten und verteidigen wollen.

© Carole Parody

Bieito sieht die Handlung als einen Zug, der durch die Geschichte fährt. Und tatsächlich kommt dieser Zug (wenigstens ein Triebwagen) auf die Bühne (erst nur mit geheimnisvoll und unheimlich irrlichternden Frontscheinwerfern) und stellt ein zentrales Element des gigantischen, eindringlichen Bühnenbildes dar, das Rebecca Ringstzusammen mit dem Lichtdesigner Michael Bauer und der Videospezialistin Sarah Derendinger entworfen hatte. Natürlich denkt man bei der Konnexion Zug-Russland zuerst an den plombierten Wagen, mit welchem Lenin im April 1917 von der Schweiz aus quer durch Nordeuropa nach Petrograd gefahren ist. Eisenbahnwagen brachten auch Menschen in Konzentrationslager und in die Gulags in Sibirien, dienten als Gaskammern. Auch in dieser Produktion werden die Strelizen, diese Angehörigen der Palastgarde, welche einen Staat im Staat bildeten, in einer unter die Haut gehenden Szene im Eisenbahnwagon vergast.

Die Bühne Rebecca Ringsts besteht aus einem 280 qm großen Halbrund aus dekonstruierbaren und mobilen gigantischen LED-Wänden. Auf diesen Wänden wechseln sich eindringliche Bilder, Graffiti, kyrillische Chatverläufe mit IP-Adressen usw. ab. Requisiten braucht es wenige, mal eine Badewanne für Ivan Khovanski, in welcher er dann auch Chaklovity ermordet wird (man hat sofort das Bild von Marats Ermordung in der Badewanne vor Augen), einen Bürostuhl für den Schreiber, einige Reisekoffer für die Altgläubigen. Die Bilder sind von eindrücklicher, suggestiver Kraft, lassen Raum für eigene Assoziationen – und erdrücken oder erschlagen mit ihrer Bildgewalt erstaunlicherweise den Fluss der Musik, die hochspannenden musikalischen Dialoge und Ariosi in keiner Art und Weise.

Dafür sorgen neben dem ausgezeichneten Ensemble und der tief ins Herz dringenden Wucht der ausladenden chorischen Passagen durch den Chœur du Grand Théâtre de Genève und die Maîtrise du Conservatoire populaire de Genève (Einstudierung: Mark Biggins) das wunderbar differenziert aufspielende Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Alejo Pérez. Pérez lässt zusammen mit dem Orchestre de la Suisse Romande wunderbar lyrische Passagen aus dem Graben aufsteigen (die Morgendämmerung des Beginns ist etwas vom Schönsten, das Mussorgsky komponiert hatte, und Pérez bleibt dem Stück nichts an Eindringlichkeit schuldig – Bieito lässt dazu erstarrte Menschen mit Koffern in einer modernistischen Bahnhofshalle stehen. WOW!) Dabei gelingt dem Dirigenten das Kunststück, dass die Musik nicht in kitschiger Schönheit ertrinkt, sondern in uneitler Schlichtheit ihre berührende Wirkung entfalten kann. Für diese Produktion hat man die Fassung von Schostakowitsch gewählt, welche dieser in den 1950er Jahren auf der Basis des Klavierauszugs und der fragmentarischen Notierungen Mussorgskys erarbeitet hatte.

© Carole Parody

In den Danses persanes im vierten Akt hört man deutlich die Hand Schostakowitschs mit den jazzigen Anklängen. Während das drei dreiviertel Stunden dauernden Abends (inklusive einer Pause) herrscht stets ein wunderbar austariertes Gleichgewicht zwischen Graben und Bühne, so dass weder Chor noch Solisten zu forcieren brauchen. Und was für Solisten da zu hören sind, ausnahmslos von allererster Güte, sowohl gesanglich als auch darstellerisch! KHOVANTCHINA ist logischerweise mit vielen Männerstimmen besetzt (schliesslich sind und waren es im Lauf der Geschichte ja vor allem Männer, die politisch intrigieren, hassen, morden, radikalisieren, fanatisieren), aber d enthält auch das Werk drei Rollen für Frauen, eine davon ist gar die (heimliche) Hauptrolle in dieser Oper: Die zu den altgläubigen gehörende Marfa, die ehemalige Geliebte des Prinzen Andreï Khovanski. Raehann Bryce-Davis glänzt mit einen Rollendebüt der Extraklasse. Was sind denn das für herrliche Töne? Die gehen direkt ins Herz, rütteln auf, man leidet mit. Von zartesten Piani bis zu fast vulgären Ausbrüchen der Verzweiflung ist da die gesamte stimmliche Ausdrucksbandbreite abgedeckt. In manchen Passagen erinnert sie an eine Amneris, dann wieder klingt sie geheimnisvoll und unheimlich wie Azucena oder introvertiert leidend. Dazu ist sie ein regelrechtes Bühnentier, ein Ausbund an leidenschaftlicher Energie. Ekaterina Bakanova tritt als Emma leider nur im ersten Akt auf, singt die Rolle der von den beiden Khovanskis begehrten junge Frau mit anrührender Schönheit. Einen fulminanten Auftritt legt Liene Kinča als Altgläubige (und mit leidenschaftlichen lesbischen Gefühlen für Marfa ringenden) Susanna hin. Was für eine eindringliche, charaktervolle Stimme ist da zu hören. Dmitry Ulyanov singt einen bassgewaltigen, agilen Ivan Khovanski, gekonnt unsympathisch in seiner paramilitärischen schwarzen Uniform mit Kampfstieren und Schnellfeuerwaffe. Sein Sohn, Prinz Andreï Khovanski wird durch die eindrückliche Gestaltung der Partie durch den Tenor Arnold Rutkowski schon beinahe zu einem Sympathieträger. Vor allem am Ende, wo er von Marfa erwürgt wird, bevor die Altgläubigen gemeinsam in den Flammentod gehen (hier wird das von Strawinski komponierte Finale gespielt und eindringlich bebildert: Die Altgläubigen stoßen den Eisenbahnwagon in kollektiver Anstrengung in den giftigen Nebel des Grauens). Gegenspieler der Khovanskis sind vor allem der radikale Altgläubige und sektiererischer Verführer seiner Anhänger, Dossifej, der Bojar Chakovity und der sich dem Westen annähern wollende Prinz Galitsine. 

Taras Shtonda stattet den Kirchenfürsten Dossifej mit lockend balsamischen Basstönen aus, kann aber auch wuchtig drein hauen. Vladislav Sulimsky singt einen fantastisch durchtriebenen Chaklovity, ausgestattet mit einem biegsamen Bariton lauert das Böse unter der Anzugsfassade (ist die auffallend rote Krawatte, welche ihm der Kostümdesigner Ingo Krügler angezogen hat, Zufall?) Dmitry Golovnin gestaltet mit weichem, hellem, ebenmäßig geführtem Tenor die etwas amorph intrigierende Figur des Prinzen Galitsine. Eine wichtige Rolle nimmt auch Michael J. Scott als Schreiberling (Scribe) ein: Umtriebiger, in der Nase popelnder Nerd mit durchdringendem Tenor. Und noch ein Tenor vermag auf sich aufmerksam zu machen: Emanuel Tomljenović agiert wie ein schmetterlingshaftes Faktotum, tuntig, aber immer präsent als Kouzka. Er bringt etwas – oft makaberen – Humor in das düstere Geschehen. In den kleineren Rollen bringen Rémi Garin (Gesandter Galitsines, Herold), Vladimir Kazakov (erster Strelize), Mark Kurmanbayev (zweiter Strelize) und Igor Gnidli (Vorsonofiev) weitere spannende Farben ins gewaltsame Ränkespiel. Wie sagt doch der brüllende russische Bär auf einer der Projektionen? „On ne peut pas faire d’omelette sans casser des œufs“!

Fazit:Sollte man auf keinen Fall verpassen, erstens weil die Oper großartig ist und nicht allzu oft auf den Bühnen erscheint und zweitens, weil diese bildgewaltige und musikalisch auf höchstem Niveau dargebotene Produktion einen hochspannenden, intensiven und nachdenklich stimmenden Opernabend ermöglicht.

Kaspar Sannemann, 30. März 2025


Khovantchina
Modest Mussorgsky

Grand Théâtre de Genève 

15. März 2025

Regie: Calixto Bieito
Dirigat: Alejo Pérez
Orchestre de la Suisse Romande