Ein Sommernachtstraum ist eines von John Neumeiers schönsten Balletten. Uraufgeführt 1977, wurde es inzwischen in mehreren Wiederaufnahmen (2011/2016/2019) mit wechselnden Besetzungen gezeigt und ist zur Freude der Ballettomanen nun auch als DVD verfügbar. Der Chefchoreograf und seine Company haben die durch die Pandemie bedingte Aufführungspause genutzt, um die Erfolgsproduktion im Februar dieses Jahres für die Veröffentlichung bei Cmajor aufzuzeichnen. Erfreulicherweise war das Stück auch im Rahmen der diesjährigen Ballett-Tage – fast in DVD-Besetzung – zu sehen (25. 6. 2021). Corona-bedingt erklang die Musik in ihrer Gesamtheit vom Band (während sonst Mendelssohn Bartholdys Komposition zu Shakespeares Schauspiel, welche die höfischen Szenen bei Herzog Theseus und seiner Braut Hippolyta illustriert, live vom Orchester gespielt wird). Für die Traumsequenzen im Wald mit der Feenwelt nutzte Neumeier elektronische Klänge von György Ligeti, für die Auftritte der Handwerker und deren Divertissement im letzten Akt Musikautomaten, wofür von Beginn an Tonträger zum Einsatz kamen. Dieser Stil-Mix ist ein geradezu genialer Einfall und verhilft der Aufführung – gemeinsam mit der atmosphärischen Ausstattung von Jürgen Rose – zu magischer Wirkung.
Neu in der Doppelrolle der Hippolyta/Titania demonstriert Anna Laudere ihre große Klasse, ist zu Beginn während des geschäftigen Treibens bei der Hochzeitsvorbereitung noch verunsichert, was sie als künftige Braut des Herzogs am Hof erwartet. Zudem ist sie irritiert, dass Theseus auch mit anderen Hofdamen flirtet. Die Tänzerin zeigt das empfindsam und sensibel, kann danach im Traum als Feenkönigin Titania ihre aristokratische Noblesse und ihr sinnliches Flair einbringen. In dem Liebesspiel mit dem zum Esel verwandelten Handwerker Zettel bietet sie ein komisches Kabinettstück, um nach all dem Ulk beim Hochzeitsfest wieder zu hehren Klassik zurückzukehren. In diesem Pas de deux ist Christopher Evans in der Doppelrolle des Theseus und Oberon ihr Partner, der den verletzten und auf der DVD zum Einsatz kommenden Edvin Revazov ersetzt. Evans hat einen fabelhaften Auftritt, ist hoheitsvoll-autoritär, arrogant und erst am Ende Hippolyta wirklich zugetan. Tänzerisch macht er glänzende Figur, bewältigt all die technischen Finessen der Choreografie mühelos. Sensationell ist Alexandr Trusch – zuerst als gewandter Philostrat am Hofe mit hohen Sprüngen und flinken Pirouetten, danach als Puck ein ausgelassener Wildfang mit Witz und körperlichem Totaleinsatz. Seine Aktionen mit der Liebesblume führen zu Verwirrungen bei den beiden Paaren – hochrangig besetzt mit Hélène Bouchet und Madoka Sugai als Helena und Hermia sowie Félix Paquet und Jacopo Bellussi als Demetrius und Lysander. Und da ist natürlich die hinreißende Handwerkertruppe, die mit ihren urkomischen Auftritten für Lachstürme im Publikum sorgt – köstlich Marc Jubete als Zettel/Pyramus, Artem Prokopchuk als Flaut und umwerfend im Travestie-Auftritt auf Spitze als Thisbe, Lizhong Wang als Squenz/Wand, Marià Huguet als Schlucker/Mondschein, Pietro Pelleri als Schnauz/Wand, Aleix Martinez als Schnock/Löwe und Lloyd Riggins als Musiker Klaus an der Drehorgel. Der Abend des 25. Juni markierte die 312. (!) Aufführung seit der Premiere und stieß wie stets auf begeisterte Aufnahme.
2020 fiel die traditionelle Nijinsky-Gala – alljährlich der Höhepunkt der Ballett-Spielzeit – der Pandemie zum Opfer. In diesem Jahr konnte sie am 27. 6. 2021 stattfinden – sogar als Doppelvorstellung, doch unter modifizierten Bedingungen. Der vierstündige Abend fand ohne Orchester mit einer Kammermusikbesetzung von vier Musikern statt. Das bedeutete den Verzicht auf spektakuläre Bravournummern und glamouröse Solo-Auftritte (obwohl man dafür Toneinspielungen hätte nutzen können). Die Gala wurde wie stets charmant und informativ von John Neumeier moderiert und stand unter dem Motto Celebration. Gefeiert wurde das Wiederauftreten des Ensembles nach der Zwangspause, das Wiedersehen von Tänzern und Zuschauern. Verdienstvollerweise ließ Neumeier das Bundesjugendballett das Programm eröffnen. Raymond Hilberts Choreografie „Einsame Verbundenheit“ ist kein großer Wurf, demonstrierte aber das beachtliche Talent der Tänzerpaare. Aus Neumeiers „Nocturns“ zeigten Silvia Azzoni und Alexandre Riabko ein Duo – sie biegsam und sensibel, er zärtlich und fürsorglich. Chopins Klavierstücke spielte Michal Bialk sehr einfühlsam.
Nur wenige Gastsolisten zierten den Abend – eine davon war Ida Praetorius vom Königlich Dänischen Ballett, die mit Aleix Martinez eine sehr emotionale Szene aus Neumeiers Beethoven-Projekt II zeigte. Der Ballettintendant steuerte sogar eine Uraufführung bei, die dem Andenken von Strawinsky anlässlich dessen 50. Todestages gewidmet war. „Peter und Igor“ nennt sich das Stück, wobei mit dem ersten Vornamen Tschaikowsky gemeint ist, dessen musikalischen Motive Strawinsky mehrfach variierte. Die Nummer mit Jacopo Bellussi und Alessandro Frola war einer der Gala-Höhepunkte – anfangs ein hingebungsvoller, zärtlicher Männer-Pas de deux mit Synchron-Figuren in perfekter Präzision, später aufgegliedert in solistische Auftritte mit hohem Tempo und Krafteinsatz. Neumeiers Kreationen bildeten den Schwerpunkt des Programms – für den Pas de deux nach der Hochzeit aus seinem Ballett Othello traten zwei weitere Gasttänzer vom Königlich Dänischen Ballett auf und sorgten für eine überaus berührende Szene. Ryan Tomash war ein kreatürlich-erotischer Titelheld, Astrid Elbo eine innige Desdemona, die in ihrer Zuwendung und Hingabe überwältigte. Der erste Teil des Programms endete mit einem weiteren Gedenken – es galt der ehemaligen Ersten Solistin der Compagnie Colleen Scott, die am 9. Mai dieses Jahres verstorben war. Neumeier hatte dafür sein Ballett „Wendung“ auf den 1. und 2. Satz von Schuberts Streichquintett C-Dur gewählt. In neoklassischer Reinheit zelebrieren Hélène Bouchet, Leslie Heylmann, Yun-Su Park, Matias Oberlin, Florian Pohl und Mitglieder des Corps de Ballet eine feierliche Totenmesse.
Der zweite Teil brachte einen längeren Ausschnitt aus Neumeiers Die Glasmenagerie von 2019 mit einigen Interpreten aus der Uraufführung. Unvergleichlich als Laura ist Alina Cojocaru in ihrer Zartheit und Zerbrechlichkeit, draufgängerisch Christopher Evans als Jim, sympathisch Félix Paquet als Tom, kokett Olivia Betteridge als Betty, faszinierend androgyn David Rodriguez als Das Einhorn. Der Gast Ryan Tomash übernahm überzeugend den Part des Tennessee. Ein heiter-flottes Intermezzo folgte mit einem Duett aus Neumeiers „Shall We Dance?“ auf Gershwins mitreißende Musik. Madoka Sugai und Alexandr Trusch brillierten hier in Frack und Zylinder mit stupendem Drive, lässigem Feeling, Gefühl für Rhythmus und tänzerischer Bravour. Das Finale war einem von Neumeiers neuesten Schöpfungen vorbehalten (Uraufführung im September 2020). Aus Ghost Light hatten Anna Laudere und Edvin Revazov im ersten Teil des Abends schon ein feinfühliges Duett gezeigt und nun sieht man im Schlussbild viele Tänzer mit dem Ausdruck der Zuversicht und Freude. Das Erscheinen der Laudere im Kostüm der Kameliendame ist original, aber Neumeier lässt auch Othello, Desdemona und Laura noch einmal auftreten und einstimmen in den allgemeinen Hoffnungschor. Traditionell gab es am Schluss auf der Bühne Blumen und Konfettiregen, im Saal die nicht enden wollende Euphorie des Publikums.
Bernd Hoppe, 29.6.2021