Vorstellung am 20.09.2022
Ballett von John Neumeier
Nach unglaublichen 50 Jahren als Ballettdirektor wird sich John Neumeier vom Hamburg Ballett von dieser Funktion verabschieden. Diese Jubiläumsspielzeit wird gekrönt werden mit Neumeiers neuer Kreation DONA NOBIS PACEM zur h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach. Eröffnet aber wurde die Spielzeit mit Neumeiers erster abendfüllendes Choreographie für das Hamburg Ballett, DRITTE SINFONIE VON GUSTAV MAHLER, die 1975 ihre Uraufführung erlebt hatte und seither einen gloriosen Siegeszug um den Erdball feiern durfte, dabei bis heute nichts von ihrer bezwingenden Faszination verloren hat. Man darf guten Gewissens von einem aufwühlenden Gesamtkunstwerk sprechen, ein Ballett, das lange nachhallt, tief bewegt und immer im Gedächtnis bleiben wird, eine Schöpfung für die Ewigkeit, genauso wie die Musik Gustav Mahlers. Mahler hatte zwar mit den Satzüberschriften zu dem alle bisherigen Dimensionen sinfonischer Werke sprengenden Werk eine Art Programm festgelegt. Trotzdem hat auch Mahler bestimmt nicht erwartet, dass alle beim Anhören die selben Empfindungen durchleben sollten, wie er sie beim Komponieren hatte. So weist John Neumeier im Vorwort des Programmhefts daraufhin, dass seine Choreographie seine eigene emotionale Reaktion auf die Musik spiegle und jeder Betrachtende die Freiheit habe, eigene Geschichten in den choreographischen Bildern zu entdecken. Wenn also in meinen nun folgenden Beschreibungen des Abends eine Art Handlung erzählt wird, sind das meine ganz persönlichen Interpretationen und Eindrücke, die keinen Anspruch auf Allgemeingültiges enthalten.
Der beinahe 40 Minuten dauernden erste Satz beginnt ganz im Dunkel. Eine Frau in rotem Trikot schreitet langsam über die Vorderbühne, hinten scheinen Männergruppen auf, alle mit nackten Oberkörpern, mal in blauem Licht, dann wieder in weißen Scheinwerferkegeln. Die Gruppen finden zusammen, errichten Türme aus und mit ihren Körpern, es entstehen archaisch wirkende Bilder von suggestiver Kraft. Alles wirkt aus der Musik heraus geboren, martialisch, dann wieder tief beseelt. Den ganzen Abend hindurch werden wir einen Mann begleiten, der mit seinen fleischfarbenen Leggins nackt wirkt, wie ein kindlicher Gott, staunend und sich erst vorsichtig dann immer intensiver einmischend. Edvin Revazov heißt dieser groß gewachsene Tänzer, der über eine unglaubliche Bühnenpräsenz verfügt. Es folgt ein hochspannender Pas de deux (Edvin Revazov und Jacopo Bellussi). Am Ende des Satzes scheint sich ein neuer Gott herauszubilden: Karen Azatyan. Denn Edvin Revazov verlässt diese Männerwelt. Der ganze Satz ist geprägt von starken, exakt choreographierten Gruppenbildern, deren Synchronizität bass erstaunt macht. Nach diesem von Neumeier mit GESTERN übertitelten Kopfsatz folgt ein von Mahler mit Tempo di Minuetto bezeichneter Statz. Neumeier nennt ihn SOMMER. Es ist eine luftige Choreographie, Damen in kurzen, weich fließenden und in gedeckten Pastellfarben gehaltenen Röckchen begeistern mit exzellenter Schritttechnik und perfektem Tanz auf der Spitze, ganz auf der klassischen Ballett-Tadition fundiert. Mit dem leuchtend blauen Hintergrund scheint dieser Satz eine Art Hommage an Balanchine darzustellen. Die Trikots der Männer sind minzfarben, Alessandro Frola und Madoka Sugai sowie Christopher Evans und Ida Praetorius begeistern mit wunderbar fließender Anmut in den Pas de deux. Der jugendliche Gott , Edvin Revazov, liegt lange Zeit auf dem Rücken auf dem Boden, wird gegen Ende des Satzes langsam wach. Nun wird es HERBST (Neumeier), wir hören dazu den dritten Satz, das immer wieder mit den typischen grotesken Wendungen Mahlers aufwartende Scherzo. Die Kostüme, die Neumeier ebenso wie das exzellente Lichtdesign selbst entworfen hatte, sind nun in herbstlichen Rot- und Brauntönen gehalten. Der Gott beobachtet die tanzenden Paare und Gruppen mit großem Interesse. Das lohnt sich aber auch, denn was da an Tanz übersetzt wird, ist von grandioser tänzerischer Raffinesse. Vor allem ein Pas de trois sticht ins Auge, ausgeführt von Emilie Mazón, David Rodriguez und Ida Stempelmann. Aber auch der Erfindungsreichtum der Pas de deux fasziniert hier erneut: Xue Lin und Félix Paquet sowie Yun-Sun Park mit Florian Pohl. Eine atemberaubende Verflechtung von Musik und Tanz. Faszinierend wirken die Hebungen, die exakte Armarbeit im umwerfenden Auftritt des Corps. Gegen Ende des Satzes hält dann aber der Tod Einzug, die überschwengliche Stimmung der Tänze bricht ab. Der Gott und die rote Frau stehen sich links und rechts am Bühnenrand gegenüber, tief versunken in den Blick des anderen. Dazu kommt noch das traumhafte Posthorn-Solo, herrlich gespielt vom Solisten des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter der wunderbar einfühlsamen und dynamisch fantastisch austarierten Leitung von Markus Lehtinen – eben ein Gesamtkunstwerk! Denn bei dieser 188. Vorstellung dieses Balletts kam die Musik nicht vom Band, sondern wurde live vom exzellenten Philharmonischen Staatsorchester im Graben gespielt. Aus Platzgründen mussten im fünften Satz der Damenchor und der Knabenchor aus dem Probesaal live über Lautsprecher zugeschaltet werden. Die Vokalsolistin hingegen, sang aus dem Orchestergraben. Nach einer tanzpantomimischen Einleitung ohne Musik setzte die mit einer wunderbar warm timbrierten Stimme gesegnete Mezzosopranistin Katja Pieweck mit Oh Mensch! Gib acht! (Text von Friedrich Nietzsche, aus Also sprach Zarathustra) ein. Die ist sowohl musikalisch der traurigste Teil der Sinfonie und auch der Choreographie. Neumeier kreierte sie zuerst für das Stuttgarter Ballett für eine Gala zum Gedenken an John Cranko, den großen Choreografen, der das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm geführt hatte. Die Solisten der Uraufführung waren dann auch mit Marcia Haydée, Richard Cragun und Egon Madsen die Étoiles der damaligen Zeit. Gestern Abend nun durfte man in Hamburg die großartige, ausdrucksstarke Tänzerin Anna Laudere, sowie die nicht minder expressiven Jacopo Bellussi und Edvin Revazov erleben, in einem Pas de trois auf leerer Bühne, der zuerst geprägt war von Erschütterung, zwischenmenschlicher Spannung, Distanziertheit und bei dem sich die drei erst zusammen fanden und Neues schaffen konnten, als die warnende Stimme der Mezzosopranistin einsetzte. Das war manchmal an implizieren Konflikten kaum auszuhalten. Doch das Werden des Erhabenen siegte am Ende, das Licht wurde wärmer. Mit dem Attaca-Einsetzen der himmlischen Chöre im fünften Satz heben sich nun die schwarzen Seitenbahnen, die ganze Bühne wird von hellem Licht geflutet – ein kindlicher Engel tanzt verspielt und luftig über die Bühne. Es ist natürlich die Frau im roten Trikot, Olga Smirnova, eine Tänzerin, die ihre Star-Karriere in Russland aufgab, sich für die Freiheit anstelle des Ruhms entschieden hatte. John Neumeier zollte ihr seinen Respekt, indem er sie als Gast in seiner Choreogrphie in der Rolle des Engels einetzte. Mit faszinierender Leichtigkeit, Agilität und Zierlichkeit betörte sie nicht nur den staunend beobachtenden Gott, Edvin Revazov, sondern auch das Publikum in der voll besetzten Staatsoper. Doch mit diesem naiv-freudigen Satz sind weder die Sinfonie noch das Ballett zu Ende. Mit WAS MIR DIE LIEBE ERZÄHLT schuf Mahler ein finales Adagio, das seinesgleichen kaum existiert. Die beseelte, getragene Schönheit dieses Satzes hat John Neumeier bezwingend in Tanz, Körperlichkeit und Aussagekraft umgesetzt. Der Engel, Olga Smirnova, erweckt den jungen Mann, Edvin Revazov. Schöner und anmutiger kann man die vollkommene Liebe nicht ausdrücken, weder musikalisch noch tänzerisch. Mit wunderbaren Hebefiguren begeistern die beiden in ihrer Freude über das Glück. In mehreren Anläufen erreicht Mahler den Kulminationspunkt mit Beckenschlägen, so auch das Paar. Danach folgt zur Flötenmelodie und einem zweiten, "hellen" Paar ein Abgleiten in eine Art Transzendenz. Edvin Revazov sitzt nachdenklich oder träumend auf dem Boden, rote Paare tanzen um ihn herum, das gesamte riesige Corps ist auf der Bühne. Die Damen scheinen auf den Schultern der Männer wie Engel zu schweben. Ein überaus eindringliches Bild, das aber schnell wieder verschwindet. Der junge Mann schreitet langsam und ganz alleine nach hinten, der Dämmerung zu. Er macht uns bewusst, dass jedes Glück, das wir erleben dürfen, geschenkte Zeit ist und nicht Ewigkeit. Zu den finalen Paukenschlägen schreitet der Engel wieder über die Bühne, der Mann sieht sie, will sie erreichen, doch so sehr er sich auch windet und verrenkt, seine Füße scheinen festgewachsen, der Engel bleibt unerreichbar. Das ist zum Weinen schmerzlich – doch er hat für einen kurzen Moment das vollkommene Glück der Liebe erleben dürfen. Und wir, die Zuschauer, kamen in den Genuss einer vollkommenen, hoch emotionalen Ballettaufführung!
Kaspar Sannemann. 22.9.22
Bild (c) Kiran West