Aufführung am 18.1.2019
WDR Sinfonieorchester: Semyon Bychkov
Dreizehn Jahre lang, von 1997 bis 2010, war Semyon Bychkov Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters, arbeitete daneben aber auch international. Im vorigen Oktober hat er als Nachfolger von Jiri Belohlávek die Leitung der Tschechischen Philharmonie übernommen, eine Bindung, welche er ein wenig zögerlich anging. Aber die besondere Klangqualität des Orchesters und die Möglichkeit, mit ihm neue künstlerische Ziele zu verwirklichen, gaben dann doch einen positiven Ausschlag. Gleichwohl ist die Entscheidung leicht risikobehaftet. Das tschechische Renommierorchester denkt und empfindet nämlich stark national. Ein Ausländer als Chef kommt da schnell an Grenzen der Akzeptanz, wie es Gerd Albrecht von 1993 bis 1996 erleben mußte. Aber inzwischen ist Zeit ins Land gegangen und es hat sich eine tolerantere Stimmung etabliert. Semyon Bychkov wagt also sein neues Amt.
Er hat bereits eine Reihe von Kompositionsaufträgen vergeben, fünf bei ausländischen Musikern, neun bei tschechischen. Die Beschäftigung mit erst noch entstehenden Werken ist freilich eine Herausforderung eigener Art. Wie Bychkov sich bei heimischen “Nationalheiligtümern” schlägt, bleibt abzuwarten. Mit einem von ihnen, Bedrich Smetanas “Mein Vaterland” (“Má vlast”), kehrte er jetzt erst einmal ans Pult des WDR-Orchesters zurück. In der baldigen Wiederbegegnung von James Conlon mit dem Gürzenich-Orchester findet dieser Vorgang eine Parallele.
“Mein Vaterland” ist – der Titel läßt es unverkennbar erkennen – eine Hymne auf Smetanas Heimat. Das war freilich eine nach und nach wachsende Liebe, denn der Komponist wurde mehr oder weniger deutsch erzogen, mußte sich u.a. die tschechische Sprache nach und nach aneignen. Ählich erging es Jean Sibelius in Finnland, wo erst die Oktoberrevolution von 1917 zur Ubnabelung von Rußland führte. Die Enstehung von “Mein Vaterland” fällt in die letzten Lebensjahre des Komponisten, als er bereits ertaubt war. Eine Tinnitus-Erkrankung war voraus gegangen, wovon sein Streichquartett “Aus meinem Leben” mit einem überraschenden, schrillen Diskantton kündet.
Der sechsteilige Orchesterzyklus schwelgt nun aber voll und ganz in romantischen Gefühlen, wobei sogar die musikalisch nicht so leicht zugängliche sinfonische Dichtung “Tabor” (Nr. 5) wichtige Akzente setzt. In der südböhmischen Stadt lebte einst der Reformer Jan Hus, welcher für seine Freiheitskämpfe mit dem Tode bezahlte. Der Hussiten-Choral “Die ihr Gottes Streiter seid” ist das immer wieder neu auflodernde Zentralthema, welches durch Pausen von Bruckner-Länge einen etwas plakativen Anstrich erhält. Der finale Teil des Zyklus’, “Blanik”, zitiert den Choral ebenfalls (der Berg liegt nahe bei Tabor), bindet ihn jedoch in melodische Verläufe ein und mündet zuletzt auch wieder in das Vysherad-Motiv, mit welchem “Mein Vaterland” anhebt.
Schon in dieser einleitenden Tondichtung beschreibt Smetana die wechselvolle Geschichte Tschechiens und läßt sie in seiner Musik dramatisch drängenden Ausdruck finden. Der dritte Teil von “Ma vlast”, nämlich “Sarka”, hat in der Bewertung immer leicht hintan gestanden, was man aber nicht wirklich als gerechtfertigt empfinden kann. Sarka war Anführerin eines Amazonengeschlechts, welches erfolgreich gegen feindliche Ritter kämpfte. Wenn nach 1968, als die Russen in der Tschechei einmarschiert waren, um Alexander Dubceks “Kommunismus mit menschlichem Antlitz” in Grund und Boden zu schießen, beim ”Prager Frühling” dieses Stück endete, stand das Publikum auf und klatschte demonstrativ. Das geschieht heute wohl nicht mehr, aber man empfindet den geschichtlichen Hintergrund durchaus noch mit einer gewissen Gänsehaut. Friedvoll hingegen “Die Moldau” und “Aus Böhmens Hain und Flur”, Naturidyllen, wie sie schöner und bewegender kaum vorstellbar sind.
Semyon Bychkov sorgte mit dem exzellen aufspielenden Orchester für eine farbsprühende Widergabe von Smetanas Musik, welche dem Pathosausdruck keineswegs aus dem Wege ging. Ein etwas schlankerer musikalischer Fluß ware hier und da denkbar gewesen (zumal bei der “Moldau”), aber das Bekenntnishafte der Interpretation machte, verbunden mit souveräner Klangsteuerung, starke Wirkung. Ein, zwei Momente leichter Unkonzentration bei den Blechbläsern in “Tabor” seien nicht moniert, lieber der Weichklang der Hörner, die präzisen Flötenläufe zu Beginn der “Moldau” oder auch die vielen wunderbaren Klarinetten-Terzen hervorgehoben. Bychkovs Tempi gaben sich nirgends extravagant, hingegen verstand sich der Dirigent bestens auf stimmige Ritardanti. Viel Beifall für den “Heimkehrer” Bychkov, aber fraglos auch für Smetanas hinreißendes Werk.
Christoph Zimmermann (19.1.2019)
Bild (c) WDR Sheila Rock